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Das Priämel
I
bis Hans Rosenplüt
Studien zur Volkspoesie
von
Karl Euling i
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Breslau
Verlag von M. & H. Marcus
1905
Vorwort
Wenn es möglich geworden ist, den ersten bis Hans Bosen-
plüt reichenden Band dieser Priamelstadien vorzulegen, so ver-
dankt man es zeitweiliger Förderung der Preußischen Unterrichts-
Verwaltung; eine mit deren Unterstützung unternommene Beise
verschaffte erst einen Überblick über das wirklich erhaltene Ma-
terial süddeutscher und österreichischer Bibliotheken, wobei am
wichtigsten die Auffindung einer Priamelrede wurde, und gelegent-
lich bewilligte Beurlaubung gestattete das Dargebotene zu einem
wenigstens formellen Abschluß zu bringen.
Im übrigen ist die Arbeit wieder durchweg kärglicher Muße
langsam abgerungen und verleugnet auch nirgends die Schwierig-
keiten, die sich aus der Benutzung einer nur kleinen deutschen
Bibliothek ergeben.
Die Chronologie des Spruchmaterials ist nichts weniger als
abgeschlossen. Daß der oft auf ferne Zusammenhänge gerichtete
Blick Nahes übersehen und verfehlt hat, ist mit Sicherheit voraus-
zusetzen; doch solche Fehler von vornherein auszuschalten, ging
nicht an. Den beiden Einwänden gegenüber, ich sei zu weitläufig
gewesen oder habe mir die Sache zu leicht gemacht, berufe ich
mich auf Garlyles Ansicht über Oründlichkeit. Wer aber unter
günstigeren Umständen schafft, wird an manchen Punkten weiter-
kommen, „und nichts wird förderlicher sein, als wenn jeder an
seinem Platze festhält, weiß, was er vermag, ausübt, was er kann,
andern dagegen die gleiche Befugnis zugesteht, daß auch sie
wirken und leisten. '^
Königsbergs im Oktober 1905
Karl Euling
141711
Übersicht des Inhaltes
Zur ElnflUinuig S. 1-^3.
I. Begriff des Priamek S. 4—39. Kritik früherer Definitionen S. 5—13.
Eigene Definition des fertigen Priamels S. 13—16. Unterschied von
verwandten Gattungen: Prosasentenzen S. 16 — 17. Triaden S. 17 — 20.
Sprichwort, Gnome S. 20—21. öaptcnuc S. 21 — 22. Kampfgespräch
S. 22. Spottlied S. 23. Akrostichon, ABC -Sprüche, Zahlenlieder,
Leberreime S. 24. Arbeitslied, Kinderreim S. 25—26. Schnaderhüpfel
S. 26^29. Gento S. 29—30. Quodlibet S. 30—34. Abenteuerliche
Bede S. 35. Lügenspruch S. 35-36. Rätsel S. 36— 37. Epigranmi
S. 37. Madrigal S. 37. Ikon S. 37—38. Ghasel S. 38. Sonett S. 38;
TergL S. 137—140.
IL Rame des Priamels S. 40—62. Begrenzter Umfang der Be-
zeichnung S. 40 — 41. Die musikalische Bedeutung bei Kosenplüt
S. 41 — 44. Das Priamel als primitive instrumentale Improvisation
S. 44—58. Priamel in Predigt und Fechtkunst S. 58—59. Form des
Wortes S. 59 — 60. Anwendung auf das Improvisationsgedicht S. 61.
IlL Zur Überlieferang des Priamels S. 63—80. — 1. Schriftliche Über-
lieferung S. 63 — 71. Angebliche Priamelhandschriften S. 64 — 65.
Yor-Rosenplütsche Überlieferung S. 65. Die Priamelrede S. 65—66;
Torgl. S. 396 ff. Beste des Trierer Spruchbuches S. 66. Die Haupt-
masse der Überlieferung S. 67— 71. — 2. Mündliche Überlieferung
8. 71—80. Volkspoesie und Kunstdichtung ein Zirkel S. 72—74.
Beispiele S. 74—80.
lY. Weitliteratiir und Priamel S. 81—141. — 1. Allgemeine Bedenken
gegen bisher geübte Yergleichung S. 82 — 92. — 2. Ein Beispiel
S. 92—102. — 3. Indisches S. 102—111. — 4. Biblisches S. 111—114.
— 5. Mittellateinisches S. 114—118. — 6. Finnisches S. 118—126.
,yDie altgermanische Priamel'' S. 124 ff. — 7. Romanisches S. 127 — 140.
-> 8. Folgerungen S. 140—141.
VII
y. Theorien ssar Entstebang und Torgresciiiehte des Prlaniels
S. 142— 165. — I. Theorien über die Entstehung der Form befrie-
digen nicht S. 142—146. — 2. Insbesondere ist das Priamel nicht
ohne weiteres aus der Häufung entstanden S, 147 — 165. „Die angel-
sächsischen und altnordischen Ptiameln^ S. 156 ff.
VI. Der PrlamelYlerzetler S. 166—417. — 1. Allgemeines S. 166-180.
Die Volkspoesie ist nicht tot S. 168. — Unformuliertes intuitives
Denken S. 169. — Gnomische Rede S. 169—171. — Gnome, Sprich-
wort, Spruch S. 171—173. — Theorien über Entstehung rhythmischer
Formen S. 174—175. — Rhythmus S. 176. — Viertakter S. 177 bis
179. — 2. Vorformen: Einzeller bis Elfzeiler S. 180— 186. „Die
abgekürzten Priameln'' S. 182 f. Vierzeiler und PriameWierzeiler
S. 186—203. — \ Typen des Priamelvierzeilers S. 203—244. —
4. Seine Verwendung in der Volkspoesie: im Arbeitsgesang S. 245,
in Zauberformeln S. 245—253, Wunsch und Gruß S. 253—256,
Rätsel S. 257—258, Kinderlied und Volksreim S. 258—270. —
5. Der deutsche PriameWierzeiler bis zum 16. Jh. S. 270 — 417. —
Unliterarisches Vorleben bis zum 12. Jh. S. 271 — 285. Er wird im
13. Jh. volksliterarisch selbständig S. 285 ff. Freidank S. 286—294.
Spervogel^ Herger S. 295. Cato, Tischzuchten S. 296—298. Thomasin
von Circlaria S. 298. Konrad von Haslau S. 299. Spiegel der
Tugenden S. 299—300. Wolfram S. 301. Hugo von Trimberg
S. 301-313. Vierzehntes Jahrhundert S. 314 ff. Michel Scherer
S. 338 ff. Genrebild S. 339-343. Inschriften S. 344—346. Hugo
von Montfort S. 346—347. Heinrich Wittenweiler S. 347. Hans
Kebicz S. 350—351. Das Narrenschiff 1494 S. 352—354. Sebastian
Brant S. 354—356. Mitteldeutsches S. 356—357. Niederrheinisches
S. 357—358. Mittelniederländisches S. 358—364. Mittelnieder-
deutsches S. 364-387. Lateinisches S. 387—389. Den letzten
Schliff erhält der Priamelvierzeiler im Nürnberger Fastnachtsspiel
S. 389 ff. Die Priamelrede S. 396 402. Verbreitung S. 403 ff.
,Ich leb und waiß nit wie langk' S. 408—414. Rückblick S. 414- 417.
Vn. Piiamelhalle Reimpaare S. 418—462. Längere Reihen in der
Stegreifdichtung S. 419—425. Weiterentwicklung des Vierzeilers
S. 425—427. Heinrich von Melk S. 427. Wemher von Elmendorf
S. 427. Die mhd. „Präambulisten« S. 428. Konrad von Würzburg
S. 429. Der Wolf in der Schule S. 430. Freidank S. 431—435.
Thomasin S. 435—437. Sermones nuUi parcontes S. 438—440. Sei-
fried Helbling S. 440—442. Hugo von Trimberg S. 442—450.
Boner S. 451. Vintler S. 453. Praeambnla Batava vetustissima
S. 454 — 461. Niederrheinische und lateinische Reime S. 461 — 462.
VIII. Piiamelhalte Formen Im Minne- nnd Meister-Gesang S. 463—483.
Spervogel S. 464. „Reinmar der Alte"* S. 465* Walther S. 466.
vni
Relnrnsr Ton Zweier S. 466—470. Marner S. 470. TanDhäuser
S. 470—472. Der Unverzagte S. 472. Stolle S. 473. Boppe S. 474.
Raumsland S. 476. Frauenlob S. 476 — 478. Unechte Reinmarsprüche
S. 479—480. Beurteüung S. 481—483.
IX. HauB Bosenpint S. 484—583. — 1. Rosenplnt und Nürnberg S. 484
bis 490. Seine spezifische Begabung für das Priamel S. 490—494.
Fastnachtsspiel und Priamel S. 494 — 497. — 2. Priamel - Stoffe
und -Motive S. 498—566. — 3. Bau des klassischen Priamels S. 566
bis 573. Witz, Humor, Pointe, Satire S. 573—576. Vortrag S. 576
bis 578. Nachwirkung S. 578—580. Bewertung S. 580—583.
„Es ist eine Eigenheit, dem Menschen angeboren und mit
seiner Natur innigst verwebt, daß ihm zur Erkenntnis das Nächste
nicht genügt, da doch jede Erscheinung, die wir selbst gewahr
werden, im Augenblick das Nächste ist und wir von ihr fordern
können, daß sie sich selbs.t erkläre, wenn wir kräftig in sie
dringen. Das werden aber die Menschen nicht lernen, weil es
gegen ihre Natur ist; daher die Gebildeten es selbst nicht lassen
können, wenn sie an Ort und Stelle irgend ein Wahres erkannt
haben, es nicht nur mit dem Nächsten, sondern auch mit dem
Weitesten und Fernsten zusammenzuhängen, woraus denn Irrtum
über Irrtum entspringt." Selten ist gegen die Goethesche Forderung,
ein wissenschaftliches Objekt zunächst aus sich selbst zu erklären,
so sehr gefehlt wie in der Bosenplütforschung. Den Klassiker
des Priamels hat man zu einem Schüler des Humanismus ge-
stempelt und das, was im fünfzehnten Jahrhundert Priamel genannt
wurde, in einen unmöglichen Zusammenhang mit akademischen
Disputationen bringen wollen. Hier wird nun der Versuch ge-
macht, die Priameldichtung aus sich selbst und aus der Volks-
poesie zu verstehen').
Es handelt sich dabei nicht nur um statistische Stilbe-
schreibung, so wichtig auch sie schon für die Beurteilung
poetischer Gebilde ist, sondern darum, eine tiefere genetische
Ergründung ihrer Struktur anzustreben. In unserm Fall liegt
keine von außen hereingetragene oder aus der Fremde über-
nommene Form vor, wie beim Madrigal, beim Sonett oder bei
ähnlichen Erscheinungen; eigenrichtig, wie uns Meister der Kunst-
wissenschaft altdeutsche Art haben verstehen gelehrt, entwickelt
*) Einige allgemein orientierende Bemerkungen sind in den Neuen
Heidelberger Jahrbüchern XII 73 ff. vorausgeschickt.
Euling, Priamel I
sich auch die Improvisationsdichtung des Priamels. War später
beim Epigramm die Form Nebensache, die Pointe, der witzige
Einfall, das Wesentliche ^J: so ist das hier genau umgekehrt.
Beim Priamel ist der pointierte Schluß sekundär und erst spät
entwickelt. Das kleine Gebilde hat einen vielleicht typischen
Weg zurückgelegt, der von automatischen Anfängen über das
Tanzlied zu wahrhaft; künstlerischer Ausgestaltung, zu Stil im
höchsten Sinne des Wortes führt. An solche allgemeine Fragen
knüpfte sich allmählich das Hauptinteresse einer Arbeit, die ur-
sprünglich nur einer Sammlung der Texte gegolten hatte. Leider
ist die Form der Behandlung in den ersten fünf Abschnitten weit
mehr, als es zum Zweck einfacher Darlegung wünschenswert ge-
wesen wäre, durch die unvermeidliche Bücksicht auf die bisherige
Forschung bestimmt und eben daduröh wie sie ins Breite geraten,
teilweise ein notgedrungenes ^YoUvwiia ek t6 Trapa/p^fi«. Aber
andrerseits liegt die üferlosigkeit der Debatte auch in der Natur
des Gegenstandes. Volksdichtung auf wenige glatte Formeln
zurückzuführen, wird niemand gelingen; und wer der Andacht
zum Unbedeutenden und Verachteten entbehrt, verzichte nur gleich
von vornherein auf Verständnis der Volkspoesie wie des Volkes
überhaupt. Volksdichtung ist eben ein lebendiger Organismus, und
„organischen Erscheinungen gegenüber sind Formeln stets Phrasen."
An ihr lernt niemand aus, man wird recht eigentlich nie mit
ihr fertig, schon weil bei stets fortgesetzter Produktion das Detail
überhaupt nicht zu erschöpfen ist. Es bleibt wissenschaftlicher
Behandlung nichts anderes übrig, als durchweg das Typische und
Gesetzmäßige herauszuarbeiten. Wer dabei auf Vollständigkeit
im Einzelnen Anspruch erhebt, bezeugt nur seine Oberflächlichkeit.
Besondere Schwierigkeit veranlaßt die Beschaffenheit des
Stoffes. Jedes aphoristische Verschen in lebendigem Zusammen-
hange zu sehen, setzt eine so allseitige Kenntnis mittelalterlichen
Lebens und seiner Kultur voraus, wie sie am wenigsten der Ver-
fasser sich zutraut. Daß sich die zahlreichen und äußerst ver-
schiedenartigen Sprüche, die hier zum ersten Mal nach einheit-
lichen Gesichtspunkten verarbeitet sind, jeder für sich und alle
in unerschöpflich mannigfaltiger Beziehung auf einander auch von
') Von Waldberg, Die deutsche Eenaissance-Lyrik S. 210.
andern Seiten betrachten lassen, ist selbstverständlich; möge nur
diese Behandlung zu fruchtbringender Arbeit anregen: ein Anfang,
nicht ein Abschluß der Priamelforschung wollen diese Blätter
sein, sie wollen, nachdem trotz aller Deutungsversuche die Priamel-
form doch eigentlich eine rätselhafte literarhistorische Versteinerung
geblieben war, ihr Wesen ernstlich zur Erörterung stellen. Wie
gegen Büchers Gesichtspunkt der Arbeit wird man auch gegen
den hier verfolgten Gesichtspunkt der Improvisation den Einwand
der Einseitigkeit erheben können. Mit Recht, und mit Unrecht:
mit Recht, insofern Ergänzungen von allen Seiten sich bieten;
mit Unrecht, insofern ohne eine gewisse Einseitigkeit ein Gedanke
bestimmter Eigenart überhaupt wohl nicht lebendig zu machen
ist. Bei so ungemörtelt brüchigem- Material, wie es hier vorliegt,
wird man vorderhand mit ähnlichen Zielen sich zufrieden geben
müssen, wie sie Furtwängler bei der Bearbeitung der antiken
Gemmen sich gesteckt hat^- Auch hier steht die ganze weitere
Kultivierung des Gebietes noch bevor; ungelöste Probleme aller
Art^) fordern Monographien, (leschichte der Spruchdichtung und
Rosen plütforschung werden viele feinere und gröbere, wichtigere
und unwichtigere Züge nach- und überhaupt erst aufzutragen
haben. Nur erst die Grundlagen einer literaturwissenschaftlichen
Behandlung des Priamels galt es hier zu gewinnen.
*) Band I (Leipzig-Berlin 190Q) S. XV: „Bei aller UnvoUkommenheit,
die niemand mehr empfinden kann als ich, hoffe ich doch wenigstens, mit
diesem Werke einen festen Grund gelegt, einen dauernden Damm gebaut
zu haben, auf dem sich der Morast nun hesser durchschreiten läßt, dem
bisher das Gebiet der alten Glyptik glich, wo der schwankende Fuß bei
jedem Schritt einzusinken drohte. Allein diese Wegbannachung war ja nur
die erste der Aufgaben, die uns hier gestellt sind .... Mögen sich rasch
. . . viele und tüchtige Arbeiter einfinden."
^) Das wichtigste bleiben die Anfänge der bürgerlichen Literatur, die
man natürlich nicht von 1450 oder mit Zarncke vom Narrenschiff datieren
kann. Wer freilich Versuche, die Frage nach der Entstehung unserer
modernen Literatur von innen heraus ohne Schießpulver, Humanismus, Er-
oberung Konstantinopels und dergleichen zu lösen, für fASTatoTiovia hält, käme
dabei wieder nicht auf seine Rechnung.
sich auch die ImprovisationsdichtuDg des Priamels. War später
beim Epigramm die Form Nebensache, die Pointe, der witzige
Einfall, das Wesentliche ^J: so ist das hier genau umgekehrt.
Beim Priamel ist der pointierte Schluß sekundär und erst spät
entwickelt. Das kleine Gebilde hat einen vielleicht typischen
Weg zurückgelegt, der von automatischen Anfängen über das
Tanzlied zu wahrhaft künstlerischer Ausgestaltung, zu Stil im
höchsten Sinne des Wortes führt. An solche allgemeine Fragen
knüpfte sich allmählich das Hauptinteresse einer Arbeit, die ur-
sprünglich nur einer Sammlung der Texte gegolten hatte. Leider
ist die Form der Behandlung in den ersten fünf Abschnitten weit
mehr, als es zum Zweck einfacher Darlegung wünschenswert ge-
wesen wäre, durch die unvermeidliche Bücksicht auf die bisherige
Forschung bestimmt und eben dadurch wie sie ins Breite geraten,
teilweise ein notgedrungenes (^YcSvwiia ek t6 icapa/p9ijjLa. Aber
andrerseits liegt die Uferlosigkeit der Debatte auch in der Natur
des Gegenstandes. Volksdichtung auf wenige glatte Formeln
zurückzuführen, wird niemand gelingen; und wer der Andacht
zum Unbedeutenden und Verachteten entbehrt, verzichte nur gleich
von vornherein auf Verständnis der Volkspoesie wie des Volkes
überhaupt. Volksdichtung ist eben ein lebendiger Organismus, und
„organischen Erscheinungen gegenüber sind Formeln stets Phrasen."
An ihr lernt niemand aus, man wird recht eigentlich nie mit
ihr fertig, schon weil bei stets fortgesetzter Produktion das Detail
überhaupt nicht zu erschöpfen ist. Es bleibt wissenschaftlicher
Behandlung nichts anderes übrig, als durchweg das Typische und
Gesetzmäßige herauszuarbeiten. Wer dabei auf Vollständigkeit
im Einzelnen Anspruch erhebt, bezeugt nur seine Oberflächlichkeit.
Besondere Schwierigkeit veranlaßt die Beschaffenheit des
Stoffes. Jedes aphoristische Verschen in lebendigem Zusammen-
hange zu sehen, setzt eine so allseitige Kenntnis mittelalterlichen
Lebens und seiner Kultur voraus, wie sie am wenigsten der Ver-
fasser sich zutraut. Daß sich die zahlreichen und äußerst ver-
schiedenartigen Sprüche, die hier zum ersten Mal nach eiuheit-
lichen Gesichtspunkten verarbeitet sind, jeder für sich und alle
in unerschöpflich mannigfaltiger Beziehung auf einander auch von
') Von Waldberg, Die deutsche Eenaissance-Lyrik S. 210.
andern Seiten betrachten lassen, ist selbstverständlich; möge nur
diese Behandlung zu fruchtbringender Arbeit anregen: ein Anfang,
nicht ein Abschluß der Priamelforschung wollen diese Blätter
sein, sie wollen, nachdem trotz aller Deutungsversuche die Priamel-
form doch eigentlich eine rätselhafte literarhistorische Versteinerung
geblieben war, ihr Wesen ernstlich zur Erörterung stellen. Wie
gegen Büchers Gesichtspunkt der Arbeit wird man auch gegen
den hier verfolgten Gesichtspunkt der Improvisation den Einwand
der Einseitigkeit erheben können. Mit Recht, und mit Unrecht:
mit Becht, insofern Ergänzungen von allen Seiten sich bieten;
mit Unrecht, insofern ohne eine gewisse Einseitigkeit ein Gedanke
bestimmter Eigenart überhaupt wohl nicht lebendig zu machen
ist. Bei so ungemörtelt brüchigem- Material, wie es hier vorliegt,
wird man vorderhand mit ähnlichen Zielen sich zufrieden geben
müssen, wie sie Furtwängler bei der Bearbeitung der antiken
Gemmen sich gesteckt hat^). Auch hier steht die ganze weitere
Kultivierung des Gebietes noch bevor; ungelöste Probleme aller
Art^) fordern Monographien, beschichte der Spruchdichtung und
Rosenplütforschung werden viele feinere und gröbere, wichtigere
und unwichtigere Züge nach- und überhaupt erst aufzutragen
haben. Nur erst die Grundlagen einer literaturwissenschaftliclien
Behandlung des Priamels galt es hier zu gewinnen.
*) Band I (Leipzig-Berlin 190Q) S. XV: „Bei aller UnvoUkommenheit,
die niemand mehr empfinden kann als ich, hoffe ich doch wenigstens, mit
diesem Werke einen festen Grund gelegt, einen dauernden Damm gebaut
zu haben, auf dem sich der Morast nun besser durchschreiten läßt, dem
bisher das Gebiet der alten Glyptik glich, wo der schwankende Fuß bei
jedem Schritt einzusinken drohte. Allein diese Wegbarmachung war ja nur
die erste der Aufgaben, die uns hier gestellt sind .... Mögen sich rasch
. . . viele und tüchtige Arbeiter einfinden."
^) Das wichtigste bleiben die Anfänge der bürgerlichen Literatur, die
man natürlich nicht von 1450 oder mit Zarncke vom Narrenschiff datieren
kann. Wer freilich Versuche, die Frage nach der Entstehung unserer
modernen Literatur von innen heraus ohne Schießpulver, Humanismus, Er-
oberung Konstantinopels und dergleichen zu lösen, für [xaxaioTrovfa hält, käme
dabei wieder nicht auf seine Rechnung.
L
Begriff des Priamels.
In Kanst und Wissenschaft sowie in Tan
und Handeln kommt alles darauf an, daß die
Olüekte rein aufgefaßt und ihrer Natur gem&ß
behandelt werden. Goethe.
Kritik früherer Definitionen. Eigene Definition des fertigen Priamels. —
Unterschied von verwandten Gattungen: Prosasentenzen, Triaden, Sprich-
wort, Gnome, öaptatu«, Spottlied, Akrostichon, Leberreim, Kinderreim,
Schnaderhüpfel, Cento, Quodlibet, abenteuerliche Rede, Lügenspruch, Rätsel,
Epigramm, Madrigal, Ikon, Ghasel, Sonett.
Daß in der Volkspoesie alles strenge Klassifizieren vom Obel
sei, ist jetzt allgemeine Überzeugung, und eine normative Definition
an die Spitze der Untersuchung zu stellen, wäre selbst bei einem
so charakteristischen Gebilde wie das klassische Priamel mißlich,
im besten Falle wird die vorläufige Determination beschreibend aus-
fallen. Ebenso unbequem als unvermeidlich ist es dabei manches
vorweg zu nehmen, was später erst seine rechte Begründung er-
fahrt, und sich gelegentlich zu wiederholen. So kommt man
über eine diskursive Untersuchung nicht jiinaus; und wenn
Begriff Summe, Idee Resultat der Erfahrung ist, so werden wir
uns hier zunächst mit dem Oeringeren begnügen müssen: ein
Querschnitt durch das Gebiet verwandter Dichtungsgattungen hat
zu zeigen, daß das Priamel ihnen ähnlich, aber von ihnen ver-
schieden ist. „Erst durch die negative Ergänzung: nicht so und
nicht so, gewinnt die positive Schilderung Relief und wird der
Begriff aus dem Worte erlöst."
1.
Man hat sich bisher hauptsächlich bemüht aus dem Namen
des Priamels sein Wesen zu bestimmen, ohne seine innere Form
zu erkennen. Die Fruchtbarkeit etymologischer Deutungen ist
im allgemeinen keineswegs zu bestreiten, wenn auch der Glaube
an die blaue Blume des Etymons im Schwinden begriffen ist*);
doch einseitig, ohne vollständige Kenntnis des Gegenstandes geübt,
führen sie oft zu bloßen Nominaldefinitionen, die den Inhalt des
Begriffes nicht erschöpfen. Selten dürften also die Namen allein
sichern Aufschluß über den Begriff geben; häufig entspringen die
Bezeichnungen sogar Mißverständnissen, wie der Name des latei-
nischen Accusativs, immer sind sie als Termini technici konventio-
nell. Man vergleiche die Entwicklungsgeschichte der klassifizieren-
den literargeschichtlichen Bezeichnungen wie Sonett, Idyll, Epi-
gramm^), Novelle, Roman ^), Tragödie*) u. s. w„ stets ergibt sich, daß
Name und Begriff zu einander in dem Verhältnis eines Kompromisses
stehen, aber sich nicht völlig decken. Regelmäßig findet Ausdehnung
des Namens auf analoge Erscheinungen früherer und späterer Zeit
statt. Daher schon kann der Name alleiu nicht den Ausschlag
geben. Es entscheidet bei der Begriffsbestimmung für Modeworte
wie Priamel, Madrigal oder Lais^), nicht der Name, sondern die
literarhistorischen Tatsachen; „in Kunst und Wissenschaft sowie
in Tun und Handeln kommt alles darauf an, daß die Objekte
rein aufgefaßt werden"*).
*) Zeitschrift für deutsche Philologie 32, 415. Von Wilamowitz-
Moellendorff, Eeden und Vorträge S. 7. Thurneysen, Prorektoratsrede
über Etymologie. Freiburg i. B. 1904. S. 36 ff. 60.
') Plinius, Ep. 4, 14. Lessing 11, 257 (Muncker). Reitzenstein,
Epigramm und Skolion S. 87 ff. Seh er er, Poetik S. 126.
3) Rohde, Der griechische Roman S. 350.
*) Rohde S. 351 f. QF. 12, 17. W. Gl oetta, .Beiträge zur Literatur-
geschichte des Mittelalters und der Renaissance I, 1 ff. Komödie und
Tragödie im Mittelalter S. 46.
*) Auch der Name sonet beweist bei den Provencjalen nichts für das
Sonett. Welti, Geschichte des Sonettes S. 18 f. Gröber, im Grundriß
der romanischen Phil. 11^ 659 f. Hertz, Spielmannsbuch S. 46^. — „Man
sieht . . ., welch ein unfruchtbares und armseliges Verfahren es ist, mit
einer Worterklärung . . . anzufangen und aus dieser alles herausspinnen zu
Wollen." W. Schlegel, Vorlesungen, hg. von Minor, 1, 263-
®) Goethe, Maximen und Reflexionen JI. „Mit Worterklärungen und
Nur auf Grund einer vollständigen Induktion gelangt man
auch hier zu gesichertem Ergebnis. Das Material Lessings und
Eschenburgs war sehr mangelhaft ^), die Ausdeutung dieses Materials
ein Notbehelf. Herder hat sie geliefert und damit die erste
Definition des Priamels gegeben. „Es wird .... erst lange
präambulirt und dann folgt der kurze Schluß oder Aufschluß ....
Priamel ist also ein kurzes Gedicht mit Erwartung und Aufschluß;
gerade die wesentlichen Stucke, in die Lessing das Sinngedicht
setzet^).''
Diese Erklärung berücksichtigt nur die eine Hauptform des
klassischen Priamels, das synthetische, und sucht nur den
wörtlichen Sinn des lateinischen Praeambulum in der ganzen
Gattung des Priamels wiederzufinden^); sie ist also zu eng. Daß sie
unermüdlich bald mit größerer, bald mit geringerer Sicherheit
wiederholt wird, benimmt ihr nichts von ihrer Unrichtigkeit. In
allen Fällen mangelte es an hinreichender Übersicht und Erwägung
der wirklich vorhandenen Beispiele*).
zufallig aufgehaschten Merkmalen ist demnach nichts ausgerichtet.^
W. Schlegel, Vorlesungen 1, 266.
*) Göttinger Beiträge zur deutschen Philologie 2, 4.
s) Suphan 15, 121 ff.
3) Es ist derselbe typische Irrtum, der, wie Eeitzenstein gezeigt hat,
die Erkenntnis des Epigramms hinderte. Wie wenig berechtigt es ist, sich
auf die ursprüngliche Bedeutung des Wortes Praeambulum zu beschränken,
lehrt z. B. Leonhard Kleber, der Praeambulum sogar mit Finale identi-
fiziert. Blatt 162b. Vgl.,Loewenfeld, L. Kleber. Berlin 1897. S. 54A.
Allgemein vertauschen die Musiker Praeambulum mit Fantasia, Automata
und dergleichen: noch J. Seb. Bach. The Oxford History of Music 4, 154.
*) Schon in den N. Heidelberger Jahrbüchern XII 78 wurde erwähnt,
daß Herder dem Priam«l auch noch die Spitzmarke der Meistersängerei mit
auf den Weg gegeben hatte. Das Priamel hat darunter, wie andere Er-
zeugnisse der spätmittelalterlichen Literatur [vgl. z. B. Münchener Sitzungs-
berichte III (1873) 671 ff. 1891, 639 ff. Max Koch, Geschichte der deutschen
Literatur. Zweite Auflage, S. 56 ff.] bis auf Victor Hehn (Über Goethes
Hermann und Dorothea. Zweite Auflage, S. 110) zu leiden gehabt. Das
Priamel hat an sich nichts mit dem Meistergesang zu tun. Ohne Eingehen
auf Herders Auffassung und ohne Kenntnis der Literatur sind diese Fragen
wieder von Reinke, Herder als Übersetzer altdeutscher Gedichte. Münster
1902, S. 52 f. behandelt.
Jakob Grimm schloß sich in einer Becension der Weckher-
linschen Beiträge dieser Definition an und nahm die Gattung
als urgermanisch in Anspruch. „Wenn man je gegen Namen
eifern soll, so müßte es gegen dieses Wort geschehen, welches
aus präambul entstanden, eine sehr charakteristische Gattung
urgermanischer Spruchweisheit bezeichnet. Es ist eine Reihe von
Spruchen, die mit einem auf alle einzelnen passenden Schluß zuletzt
vereinigt werden^)." Eigene Studien hat er trotz der im ersten
Satz ausgedrückten Zweifel ebensowenig wie Wilhelm Grimm^)
der Frage widmen können. Noch Ehrismann hält Herders
Standpunkt fest, wenn er auch mit Scherer eine strengere und
losere Form unterscheidet^).
Den entgegengesetzten Einwand muß man gegen die neueste ^)
Erklärung erheben, welche das Priamel mit dem Witz gleich-
setzen wilP). Die Definition ist viel zu weit, schon weil es
1) Kleinere Schriften 6, 103.
2) Bescheidenheit S. CXXH.
^) Anzeiger für deutsches Altertum 25, 164; 166.
*) Nur neu ist sie nicht; einen ähnlichen vagen Begriff versuchte
schon 1863 der Grosätti us'm Leberberg (Franz Josef Schild) einzuführen.
Grosätti 3«, 46. Nr. 105 ff.
5) Uhl, Die deutsche Priamel, ihre Entstehung und Ausbildung. Mit
Beiträgen zur Geschichte der deutschen Universitäten im Mittelalter.
Leipzig 1897. Vgl. Literarisches Centralblatt 1898, S. 1490 f. Deutsche
Literaturzeitung 1899, S. 303 ff. Ehrismann a. a. 0. Der Verfasser hat
es dem Leser schwer gemacht, seinen Ansichten gerecht zu werden. Es
finden sich Widersprüche und Inkongruenzen: Auf eins habe ich schon
in der D L Z. a. a. 0. hingewiesen ; es betrifft das Verhältnis zur
indischen Gnomik ; S. 26 heißt die Priamel ein Studentenwitz, S. 536 wird
sie Scholaren witz umgenannt; S. 28 wird das Quodlibet mit Disputationen
in Verbindung gebracht, S. 280 angedeutet, es sei keineswegs so jung, wie
man annehme, S. 441 gesagt: „Aus den Zeiten vor Menantes habe ich kein
Quodlibet finden können,^ S. 260 der Koker als Quodlibet nicht erkannt,
S. 29 aber Goethes „Brautnacht" irrtümlich in diesen Zusammenhang ein-
gefügt, S. 28 das Quodlibet eine Liedergattung genannt; S. 39 wird „Plures
crapula quam gladio moriuntur" als deutsches Sprichwort angesprochen,
S. 322 aus Franck Jesus Sirach als Quelle angegeben (näheres: Denker,
Ein Beitrag zur literarischen Würdigung Friedrichs von Logau S. 24) ; S. 81
soll akademische Sitte Vorläufer der modernen Priamel sein, S. 209 ist sie
schon in der Edda vorhanden; S. 93 wird für die Priamel der Handschrift
FG ein Schreiber zugegeben, S. 99, 108 wird von mehreren gesprochen
8
unzählige Witze gibt, die keine Piiamel sein können; sie hebt
die Kunstgattung des Priamels auf, ohne von der Existenz der
Priamelrede zu wissen „Je mehr sich der Begriff der Priamel
verwirrte, um so mehr wurde er zugleich erweitert." Insofern
diese Definition sich alsdann auf unwirkliche und unhistorische
Voraussetzungen und mangelhafte Beherrschung des Gegenstandes
stützt, wird sie durch die geschichtlichen Tatsachen widerlegt.
Der so fingierte Scholaren witz „der deutschen Priamel" hat mit
dem, was das Priamel gewesen ist, nichts gemein. Verleitete
bei der Herdersehen Erklärung der Mangel des Materials zum
Irrtum, so verwirrte hier die nicht mehr zu bewältigende Fülle
eines fremden, gewaltsam gepreßten Materials in Verbindung
mit Verkennung des eigentlichen Gegenstandes. Die witzige
geistreiche Sentenz ist an und für sich noch keine literarische
Gattung, an keine bestimmte Form gebunden und de Laroche-
foucauld auch kein Priameldichter.
Philosophische und ästhetisch-psychologische Literaturbetrach-
tung hat unser historisches Problem als solches auch nicht
fördern können. R. M. Werners Betrachtungen gipfeln in
der das Wesen des Priamels doch verkennenden Annahme langer
lyrischer Priamel. Zunächst baut Werner seine Ansicht wieder
auf den irrigen Begriff des Präambulierens. „Allerdings gibt
es eine Gattung des Monologs, welche mit dem Rätsel einiger-
maßen verwandt ist und fast mit denselben Worten Goethes
charakterisiert werden könnte, wie das Rätsel. Dem Rätsel ist
eigen, daß die vorgetragenen Momente, Züge, Besonderheiten erst
dann wirkliches Leben empfangen, wenn das lösende Wort be-
kannt ist, dieses lösende Wort muß aber der Zuhörer aussprechen.
Nun kennen wir eine Gattung, welche ganz ebenso Momente,
Züge, Besonderheiten erwähnt, welche so lange unverständlich
bleiben, als der Dichter nicht das Wort ausgesprochen, das sie
zu einer höheren Einheit zusammenfaßt; man nannte solche Ge-
dichte Priameln, weil längere Zeit präambuliert wird, ehe der
(A. f. d. A. 25, 162); S. 97 soll ein Stück aus F eins der ältesten Beispiele
«einer Priamel mit Pointe** sein, S. 212 wird schon Havamal 85 ff. dazu ge-
macht: S. 117 ist ,,die Priamel" ein Witz, ebenda ein Rätsel, S. 112 ein
Mischmasch; S. 260 ist der Verfasser des Kokers unbekannt, S. 263 ver-
mutlich Hackmann, S. 539 Bote.
Abschluß erfolgt" „Die Priamel kann man nach dem Gesagten
mit dem Rätsel vergleichen, muß sie aber zum Vortragsmonolug
stellen, sie ist nur sehr selten dialogisch.** Wollte man in dieser
Weise, ohne die innere Form des Priaraels als maßgebend zu
betrachten, nur nach dem äußern syntaktisch-rhetorischen Bau
der Verse Priameldichtung konstatieren, so würde auch, wie wir
sehen werden, Petrarca^) unter die Priameldichter gehören: und
welcher Dichter*) etwa nicht?
Meist verfuhr man vorsichtiger. Zu berücksichtigen ist auch
hier nur bisher in der Debatte Übersehenes. Rosenkranz be-
zeichnet das Priamel als Subsumtion einer Menge einzelner kon-
kreter Anschauungen unter die Identität eines abstrakten Satzes^).
Gerber*) erklärt es als zusammengesetzte Guome, welche die
Subjektbegriffe mehrerer Gnomen zusammenstellt und sie mit
einem für alle passenden Prädikate versieht^). Allerdings sind die
einzelnen Glieder des Priamels meist keine selbständige Gnomen*^),
und ebensowenig sind es immer gerade die Subjektsbegriffe, die
man im Priamel aufgereiht findet. Trotzdem ist anzuerkennen,
daß Gerber sich von der mechanischen Auffassung dieser Kunst-
form nicht hat beeinflussen lassen, recht skeptisch den von
Bergmann ^) voreilig konstruierten internationalen Zusammenhängen
gegenüber steht und das sogenannte Präambulieren einzelner Be-
^) Le Rime di Francesco Petrarca rcstituite da Giovanni Mestica.
Firenze 1896. S. 144. No. 79.
• 2) Insbesondere die Katalogpoesie. S kutsch, Aus Virgils Frühzeit,
Leipzig 1901. S. 55 ff. Was Werner unter lyrischen Priameln versteht,
ergeben seine Beispiele. Lyrik und Lyriker S. 545 f. W. zitiert Eichen-
dorffs „Das ist der alte Baum nicht mehr", Heines „Die blauen Veilchen
der Äugelein", „Aus alten Märchen winkt es," Goethes „Freudvoll und
leidvoll" und derartiges.
3) Geschichte der deutschen Poesie im Mittelalter S. 566. Ähnlich
Bergmann, Des Hehren Sprüche S. 196.
4) Die Sprache als Kunst 2, 207.
*) Die Begriffe Subjekt und Prädikat als Elemente des Priamels gehen
auf Eschenburg zurück. Zur Geschichte und Literatur 5, 180.
6) Wie beispielsweise in den Canzonen des Antonio Veneziano: Pitre,
Proverbi Siciliani 4, 283.
^) La priamele dans les differentes litteratures anciennes et modernes.
Straßburg und Kolmar 1868. Des Hehren Sprüche S. ^97.
10
griffe bezweifelt. Umsichtig umschreibt Boetbe^) die Form der
Priamel, wenn er sagt, daß sie „eine Reibe paralleler Bilder und
GedankeD wohlgeordoet an einander reilit, sie gern anaphuriscli
verknüpft nnd — wenigstens in ihrer geläu%sten Art — zu
einer Schlußpointe sich steigert." Friedrich Vogt nennt (in
der Oesehiehte der deutschen Literatur. Leipzig und Wien 1904*)
S. 197) die Priamel „eine eigentümliche Gattung, deren charakte-
ristischste Form die ist, dalj eine Keihe scheinbar zusammenhang-
loser Begriffe oder Beobachtungen neben einander gestellt werden,
zu denen dann doch ein gemeinsames Bindeglied gefunden wird*)."
Wie fern andrerseits der Gegenstand lag, zeigt die Tatsache,
daß Bächtold und Comparetti von Priamel en reden ^). Ganz
flüchtig nennt Marc Monnier die Priamel eine Art Epigramm,
das durch Aufzählung fortschreitet*), und Hans Qrasberger führt
in seiner literarhistorischen Studio Aber die Naturgeschichte
des Schnaderhüpfels durch Wiederholung der Fabel vom Ab-
schnappen der „Schnepper" noch einmal Herders DeflnitioD ad
absordum').
2.
Die größten Verdienste um die Definition der Form des
Priamets hatte sich schon im Jahre 1870 ohne Zweifel Wendeler")
erworben, und was Richtiges seitdem in besonnenen urteilen der
Literarhistoriker enthalten ist, verdankt man meist Wendeler.
Vor ihm verfügte niemand über eine so gründliehe, wenn anch
nicht voltständige, Kenntnis seines Gegenstandes. Er hat Begriff,
Namen nnd Ursprung des Priamels behandelt. Während er in Üer
sachlichen Herleitung des Namens irrte, hat er für Definition
und Geschichte des Priamels den Weg geniesen. Außerdem ist
seine Dissertation reich an guten Beobachtungen. Prüfen wir
I) Die Gedichte IteinmarB von Zwutct S. 24C.
') Sein Zitat Uhls in Pauls Gnindrifl JI' 3IG ist ohne Korrektiv
vielleicht mißverständlich.
") Alemannia 5, 53. Comparetti, Der Kalcwala S. äOl.
*) Literaturgeschichte der Itenaisaance (Deutsche autorisierte Ausgabe.
Nördlingcn 1888.) S. 20O.
') Naturgeschichte doa Schnaderhüpfels. Leipzig I8!)6, S. ö.i.
^j De pracambulia eorumque histuria in Germania. Particula 1. De
praeambulomm indole, nomine, origise. Halle 1870.
11
seine Definition, so ist allerdings Eichard M. Meyer*) zuzugeben,
daß sie von großer ürnstäudlichkeit und geringer Klarh*»it zeugt,
aber ebenso zu betonen, daß ihr Grundgedanke besser ist als
dessen Stilisierung.
Seite 19 f. faßt Wendeler seine Resultate so zusammen:
„Priameln sind in Verszahl und Versmaß nicht beschränkte, aber
doch meist kurze und einfache, paarweise gereimte, nur über eine
Reihe scheinbar oder wirklich einander fernstehender abstrakter
oder konkreter Einzelheiten reflektierende Gedichte, die in Deutsch-
land vor und nach der Zeit ihrer Blüte meist direkt moralisch
lehrhaft, öfter auch satirisch getarbt sind, in ihrer Blütezeit aber
gewöhnlich alle jene Einzelheiten eben nur zu einer organischen
Einheit verbinden wollen, einmal in möglichst neuer und un-
erwarteter, dabei aber doch nicht immer nur witziger Weise und
dann durch ein, teils am Anfange oder am Schluß der Reihe
stehendes, teils in den einzelnen Gliedern stets wiederholtes Binde-
glied, oder durch den bis zu einem gewissen Abschluß ge-
steigerten Sinn.^
Aus dieser Definition ist als zunächst unzutrefTend die Be-
stimmung auszuscheiden: „in Verszahl nicht beschränkte^, weil
endlose Reihen von priamelartigen Sprüchen der integrierenden
geschlossenen Kunstform des Priamels entbehren*). Ihre Aus-
dehnung widerspricht dem Charakter der Kleinkunst. Überlange
Improvisationen sind eben keine mehr. Man schießt Pfeile vom
Bogen, keine Speere. Die Einheit des Gedichtes wird dabei
mindestens in formeller Hinsicht aufgehoben, oder sie ist eine
andere als im Priamel. Ein gelungenes Gedicht des vierzehnten
Jahrhunderts^) zählt verlorene Arbeiten auf: der Kranke liebt
*) Die altgermanische Poesie S. 435.
^) Zu erinnern ist an Yavassors Satz: Epigramma est poema
cominodum seque ipso absolutum. J. G. Meister meint sogar in
seinen Unvorgreifflichen Gcdancken Von Teutschcn Epigrammatibus, Leipzig
1698, S. 75: „Wo man schon 8, 10 und mehr Zeilen durchlauften muß, ehe
man die Mühe durch ein scharffsinniges Epiphonema vergolten siehet, so
hebet die Gedult nach und nach an zu verstiebcn. Ja der Schluß mag
alsdcnn so artlich fallen, als er will, so hat man schon den verdrüßlichen
('oncept im Kopfl'e, und das Raisonemont wird so gütig nicht gefasset, als
wenn der Leser seinen Appetit zeitlicher hätte stillen können. **
3) Liedersaal No. 243.
sich anch die Improvisationsdichtang des Priamels. War später
beim Epigramm die Form Nebensache, die Pointe, der witzige
Einfall, das Wesentliche ^J: so ist das hier genau umgekehrt.
Beim Priamel ist der pointierte Schluß sekundär und erst spät
entwickelt. Das kleine Gebilde hat einen vielleicht typischen
Weg zurückgelegt, der von automatischen Anfängen über das
Tanzlied zu wahrhaft; künstlerischer Ausgestaltung, zu Stil im
höchsten Sinne des Wortes führt. An solche allgemeine Fragen
knüpfte sich allmählich das Hauptinteresse einer Arbeit, die ur-
sprünglich nur einer Sammlung der Texte gegolten hatte. Leider
ist die Form der Behandlung in den ersten fünf Abschnitten weit
mehr, als es zum Zweck einfacher Darlegung wünschenswert ge-
wesen wäre, durch die unvermeidliche Bücksicht auf die bisherige
Forschung bestimmt und eben daduröh wie sie ins Breite geraten,
teilweise ein notgedrungenes dYcuvtdfia sie to irapa'/pTjfia. Aber
andrerseits liegt die Uferlosigkeit der Debatte auch in der Natur
des Gegenstandes. Volksdichtung auf wenige glatte Formeln
zurückzuführen, wird niemand gelingen; und wer der Andacht
zum Unbedeutenden und Verachteten entbehrt, verzichte nur gleich
von vornherein auf Verständnis der Volkspoesie wie des Volkes
überhaupt. Volksdichtung ist eben ein lebendiger Organismus, und
„organischen Erscheinungen gegenüber sind Formeln stets Phrasen."
An ihr lernt niemand aus, man wird recht eigentlich nie mit
ihr fertig, schon weil bei stets fortgesetzter Produktion das Detail
überhaupt nicht zu erschöpfen ist. Es bleibt wissenschaftlicher
Behandlung nichts anderes übrig, als durchweg das Typische und
Gesetzmäßige herauszuarbeiten. Wer dabei auf Vollständigkeit
im Einzelnen Anspruch erhebt, bezeugt nur seine Oberflächlichkeit.
Besondere Schwierigkeit veranlaßt die Beschaffenheit des
Stoffes. Jedes aphoristische Verschen in lebendigem Zusammen-
hange zu sehen, setzt eine so allseitige Kenntnis mittelalterlichen
Lebens und seiner Kultur voraus, wie sie am wenigsten der Ver-
fasser sich zutraut. Daß sich die zahlreichen und äußerst ver-
schiedenartigen Sprüche, die hier zum ersten Mal nach einheit-
lichen Gesichtspunkten verarbeitet sind, jeder für sich und alle
in unerschöpflich mannigfaltiger Beziehung auf einander auch von
^) Von Waldberg, Die deutsche Benaissancc-Ljrik S. 210.
andern Seiten betrachten lassen, ist selbstverständlich; möge nur
diese Behandlung zu fruchtbringender Arbeit anregen: ein Anfang,
nicht ein Abschluß der Priamelforschung wollen diese Blätter
sein, sie wollen, nachdem trotz aller Deutungsversuche die Priamel-
form doch eigentlich eine rätselhafte literarhistorische Versteinerung
geblieben war, ihr Wesen ernstlich zur Erörterung stellen. Wie
gegen Büchers Gesichtspunkt der Arbeit wird man auch gegen
den hier verfolgten Gesichtspunkt der Improvisation den Einwand
der Einseitigkeit erheben können. Mit Recht, und mit Unrecht:
mit Becht, insofern Ergänzungen von allen Seiten sich bieten;
mit Unrecht, insofern ohne eine gewisse Einseitigkeit ein Gedanke
bestimmter Eigenart überhaupt wohl nicht lebendig zu machen
ist. Bei so ungemörtelt brüchigem- Material, wie es hier vorliegt,
wird man vorderhand mit ähnlichen Zielen sich zufrieden geben
müssen, wie sie Furtwängler bei der Bearbeitung der antiken
Gemmen sich gesteckt hat^). Auch hier steht die ganze weitere
Kultivierung des Gebietes noch bevor; ungelöste Probleme aller
Art^) fordern Monographien, Geschichte der Spruchdichtung und
Bosenplütforschung werden viele feinere und gröbere, wichtigere
und unwichtigere Züge nach- und überhaupt erst aufzutragen
haben. Nur erst die Grundlagen einer literaturwissenschaftlichen
Behandlung des Priamels galt es hier zu gewinnen.
*) Band I (Leipzig-Berlin 190Q) S. XV: „Bei aller Unvollkommenheit,
die niemand mehr empfinden kann als ich, hoffe ich doch wenigstens, mit
diesem Werke einen festen Grund gelegt, einen dauernden Damm gebaut
zu haben, auf dem sich der Morast nun besser durchschreiten läßt, dem
bisher das Gebiet der alten Glyptik glich, wo der schwankende Fuß bei
jedem Schritt einzusinken drohte. Allein diese Wegbarmachung war ja nur
die erste der Aufgaben, die uns hier gestellt sind .... Mögen sich rasch
. . . viele und tüchtige Ai'beiter einfinden."
2) Das wichtigste bleiben die Anfänge der bürgerlichen Literatur, die
man natürlich nicht von 1450 oder mit Zarncke vom Narrenschiff datieren
kann. Wer freilich Versuche, die Frage nach der Entstehung unserer
modernen Literatur von innen heraus ohne Schießpulver, Humanismus, Er-
oberung Konstantinopels und dergleichen zu lösen, für {xaiaioirov^a hält, käme
dabei wieder nicht auf seine Rechnung.
L
Begriff des Priamels.
In Knnst uod Wissenschaft sowie in Tan
und Handeln kommt alles darauf an, daß die
Objekte rein aufgefaßt und ihrer Natur gemäß
behandelt werden. Goethe.
Kritik früherer Definitionen. Eigene Definition des fertigen Priamels. —
Unterschied von verwandten Gattungen: Prosasentenzen, Triaden, Sprich-
wort, Gnome, öapioru«, Spottlied, Akrostichon, Leberreim, KindeiTcim,
Schnaderhüpfel, Cento, Quodlibet, abenteuerliche Eede, Lügenspruch, Rätsel,
Epigramm, Madrigal, Ikon, Ghasel, Sonett.
Daß in der Volkspoesie alles strenge Klassifizieren vom Obel
sei, ist jetzt allgemeine Überzeugung, und eine normative Definition
an die Spitze der Untersuchung zu stellen, wäre selbst bei einem
so charakteristischen Gebilde wie das klassische Priamel mißlich,
im besten Falle wird die vorläufige Determination beschreibend aus-
fallen. Ebenso unbequem als unvermeidlich ist es dabei manches
vorweg zu nehmen, was später erst seine rechte Begründung er-
fahrt, und sich gelegentlich zu wiederholen. So kommt man
über eine diskursive Untersuchung nicht liinaus; und wenn
Begriff Summe, Idee Resultat der Erfahrung ist, so werden wir
uns hier zunächst mit dem Oeringeren begnügen müssen: ein
Querschnitt durch das Gebiet verwandter Dichtungsgattungen hat
zu zeigen, daß das Priamel ihnen ähnlich, aber von ihnen ver-
schieden ist. „Erst durch die negative Ergänzung: nicht so und
nicht so, gewinnt die positive Schilderung Relief und wird der
Begriflf aus dem Worte erlöst."
1.
Man hat sich bisher hauptsächlich bemüht aus dem Namen
des Priamels sein Wesen zu bestimmen, ohne seine innere Form
zu erkennen. Die Fruchtbarkeit etymologischer Deutungen ist
im allgemeinen keineswegs zu bestreiten, wenn auch der Glaube
an die blaue Blume des Etymons im Schwinden begrififen ist*);
doch einseitig, ohne vollständige Kenntnis des Gegenstandes geübt,
führen sie oft zu bloßen Nominaldefinitionen, die den Inhalt des
Begriffes nicht erschöpfen. Selten dürften also die Namen allein
sichern Aufschluß über den Begriff geben; häufig entspringen die
Bezeichnungen sogar Mißverständnissen, wie der Name des latei-
nischen Accusativs, immer sind sie als Termini technici konventio-
nell. Man vergleiche die Entwicklungsgeschichte der klassifizieren-
den literargeschichtlichen Bezeichnungen wie Sonett, Idyll, Epi-
gramm^), Novelle, Roman ^), Tragödie*) u. s. w„ stets ergibt sich, daß
Name und Begriff zu einander in dem Verhältnis eines Kompromisses
stehen, aber sich nicht völlig decken. Begelmäßig findet Ausdehnung
des Namens auf analoge Erscheinungen früherer und späterer Zeit
statt. Daher schon kann der Name allein nicht den Ausschlag
geben. Es entscheidet bei der Begriffsbestimmung für Modeworte
wie Priamel, Madrigal oder Lais^), nicht der Name, sondern die
literarhistorischen Tatsachen; „in Kunst und Wissenschaft sowie
in Tun und Handeln kommt alles darauf an, daß die Objekte
rein aufgefaßt werden"®).
*) Zeitschrift für deutsche Philologie 32, 415. Von Wilamowitz-
Moellendorff, Reden und Vorträge S. 7. Thurneysen, Prorektoratsrede
über Etymologie. Freiburg i. B. 1904. S. 36 ff. 60.
') Plinius, Ep. 4, 14. Lessing 11, 257 (Muncker). Reitzenstein,
Epigramm und Skolion S. 87 ff. Seh er er, Poetik S. 126.
^ Rohde, Der griechische Roman S. 350.
*) Rohde S. 351 f. QF. 12, 17. W. Cloetta^Beiträge zur Literatur-
geschichte des Mittelalters und der Renaissance I, 1 ff. Komödie und
Tragödie im Mittelalter S. 46.
5) Auch der Name sonet beweist bei den Proven<jalen nichts für das
Sonett. Welti, Geschichte des Sonettes S. 18 f. Gröber, im Grundriß
der romanischen Phil. 11^ 659 f. Hertz, Spielmannsbuch S. 46^. — „Man
sieht . . ., welch ein unfruchtbares und armseliges Verfahren es ist, mit
einer Worterklärung . . . anzufangen und aus dieser alles herausspinnen zu
Wollen." W. Schlegel, Vorlesungen, hg. von Minor, 1, 263-
^) Goethe, Maximen und Reflexionen 11. „Mit Worterkläyungen und
Nur auf Grund einer vollständigen Induktion gelangt man
auch hier zu gesichertem Ergebnis. Das Material Lessings und
Eschenburgs war sehr mangelhaft ^), die Ausdeutung dieses Materials
ein Notbehelf. Herder hat sie geliefert und damit die erste
Definition des Priamels gegeben. „Es wird .... erst lange
präambulirt und dann folgt der kurze Schluß oder Aufschluß ....
Priamel ist also ein kurzes Gedicht mit Erwartung und Aufschluß;
gerade die wesentlichen Stücke, in die Lessing das Sinngedicht
setzet^)."
Diese Erklärung berücksichtigt nur die eine Haupt form des
klassischen Priamels, das synthetische, und sucht nur den
wörtlichen Sinn des lateinischen Praeambulum in der ganzen
(jattung des Priamels wiederzufinden^); sie ist also zu eng. Daß sie
unermüdlich bald mit größerer, bald mit geringerer Sicherheit
wiederholt wird, benimmt ihr nichts von ihrer Unrichtigkeit. In
allen Fällen mangelte es an hinreichender Übersicht und Erwägung
der wirklich vorhandenen Beispiele*).
zufallig aufgehaschten Merkmalen ist demnach nichts ausgerichtet.^
W. Schlegel, Vorlesungen 1, 266.
*) Göttinger Beiträge zur deutschen Philologie 2, 4.
«) Suphan 15, 121 ff.
3) Es ist derselbe typische Irrtum, der, wie Reitzenstein gezeigt hat,
die Erkenntnis des Epigi*amms hinderte. Wie wenig berechtigt es ist, sich
auf die ursprüngliche Bedeutung des Wortes Praeambulum zu beschränken,
lehrt z. B. Leonhard Kleber, der Praeambulum sogar mit Finale identi-
fiziert. Blatt 162b. Vgl..Loewenfeld, L. Kleber. Berlin 1897. S. 54A.
Allgemein vertauschen die Musiker Praeambulum mit Fantasia, Automata
und dergleichen: noch J. Seb. Bach. The Oxford History of Music 4, 154.
*) Schon in den N. Heidelberger Jahrbüchern XII 78 wurde erwähnt,
daß Herder dem Priamel auch noch die Spitzmarke der Meistersängerei mit
auf den Weg gegeben hatte. Das Priamel hat darunter, wie andere Er-
zeugnisse der spätmittelalterlichen Literatur [vgl. z. B. Münchener Sitzungs-
berichte III (1873) 671 ff. 1891, 639 ff. Max Koch, Geschichte der deutschen
Literatur. Zweite Auflage, S. 56 ff.] bis auf Victor Hehn (Über Goethes
Hermann und Dorothea. Zweite Auflage, S. 110) zu leiden gehabt. Das
Priamel hat an sich nichts mit dem Meistergesang zu tun. Ohne Eingehen
auf Herders Auffassung und ohne Kenntnis der Literatur sind diese Fragen
wieder von Reinke, Herder als Übersetzer altdeutscher Gedichte. Münster
1902, S. 52 f. behandelt.
Jakob Grimm schloß sich in einer Eecension der Weckher-
linschen Beiträge dieser Definition an und nahm die Gattung
als urgermanisch in Anspruch. „Wenn man je gegen Namen
eifern soll, so müßte es gegen dieses Wort geschehen, welches
aus präambul entstanden, eine sehr charakteristische Gattung
urgermanischer Spruchweisheit bezeichnet. Es ist eine Reihe von
Spruchen, die mit einem auf alle einzelnen passenden Schluß zuletzt
vereinigt werden^)." Eigene Studien hat er trotz der im ersten
Satz ausgedrückten Zweifel ebensowenig wie Wilhelm Grimm^)
der Frage widmen können. Noch Ehrismann hält Herders
Standpunkt fest, wenn er auch mit Scherer eine strengere und
losere Form unterscheidet^).
Den entgegengesetzten Einwand muß man gegen die neueste^)
Erklärung erheben, welche das Priamel mit dem Witz gleich-
setzen wilP). Die Definition ist viel zu weit, schon weil es
0 Kleinere Schriften 6, 103.
3) Bescheidenheit S. CXXII.
3) Anzeiger für deutsches Altertum 25, 164; 166.
*) Nur neu ist sie nicht; einen ähnlichen vagen Begriff versuchte
schon 1863 der Grosätti us'm Leberberg (Franz Josef Schild) einzuführen.
Grosätti 3», 46. Nr. 105 ff.
*) Uhl, Die deutsche Priamel, ihre Entstehung und Ausbildung. Mit
Beiträgen zur Geschichte der deutschen Universitäten im Mittelalter.
Leipzig 1897. Vgl. Literarisches Centralblatt 1898, S. 1490 f. Deutsche
Literaturzeitung 1899, S. 303 ff. Ehrismann a. a. 0. Der Verfasser hat
es dem Leser schwer gemacht, seinen Ansichten gerecht zu werden. Es
finden sich Widersprüche und Inkongruenzen: Auf eins habe ich schon
in der D L Z. a. a. 0. hingewiesen ; es betrifft das Verhältnis zur
indischen Gnomik ; S. 26 heißt die Priamel ein Studentenwitz, S. 536 wird
sie Scholarenwitz umgenannt; S. 28 wird das Quodlibet mit Disputationen
in Verbindung gebracht, S. 280 angedeutet, es sei keineswegs so jung, wie
man annehme, S. 441 gesagt: „Aus den Zeiten vor Menantes habe ich kein
Quodlibet finden können," S. 260 der Koker als Quodlibet nicht erkannt,
S. 29 aber Goethes „Brautnacht" irrtümlich in diesen Zusammenhang ein-
gefügt, S. 28 das Quodlibet eine Liedergattung genannt; S. 39 wird „Plures
crapula quam gladio moriuntur" als deutsches Sprichwort angesprochen,
S. 322 aus Franck Jesus Sirach als Quelle angegeben (näheres: Denker,
Ein Beitrag zur literarischen Würdigung Friedrichs von Logau S. 24); S. 81
soll akademische Sitte Vorläufer der modernen Priamel sein, S. 209 ist sie
schon in der Edda vorhanden; S. 93 wird für die Priamel der Handschrift
FG ein Schreiber zugegeben, S. 99, 108 wird von mehreren gesprochen
18
Zählen. Es gibt Triaden der Weisheit, des Geizigen, der ge-
bildeten Sitten, des Kymren, der Dichtkunst, der verschönernden
Umschreibungen^). In dies Geflecht dürrer Abstraktion verirrt
sich gelegentlich echt gnomische Weisheit, verkümmert aber darin.
Mittellateioische, romanische und germanische Literatur kennt
solche Listen, die sich eigentlich nicht über das Niveau des
Kalendermachers erheben, gelegentlich auch die Aufzählung des
Priamels kreuzen. Beliebt ist im sechzehnten Jahrhundert die
Trias Bomana^), und Johann Basch^), Organist ^es Wiener
Schottenklosters, vielschreibender Ealendermann und Polyjiistor,
stellt 1589 in einem besonderen Buche 270 nützliche, feine,
vierteilige Lehrpuncte zusammen^). Der Titel beruft sich auf
die alten Weisen und das alte Testament. Es ist die Ver-
deutschung des Libellus de Virtutibus et Scientiis. Tetragrammata
seu Arithmologia moralia et Versus Legales. Monachii 1574,
eine Pflichtenlehre, die mit Tod, Gericht, Himmel, Hölle schließt.
Auch diese Sentenzen fielen dem rührenden, aber schädlichen
Sammeleifer Wanders zum Opfer und figurieren als deutsche
Sprichwörter in seinem Lexikon. Im Indischen, wie im Hebräischen ^)
sind mehrteilige Sentenzen dieser Art sehr verbreitet, ohne sich
auf Triaden zu beschränken. Ans dem Buch der Beispiele ge-
') Schure (Geschichte des deutschen Liedes. Minden 1884,^ S. 45)
macht auf den offiziellen Charakter der keltischen Poesie aufmerksam. Eine
Herdersche Parahel (Suphan 16, 147) erzählt, die Repuhlik hahe zur Warnung
Tabellen aufgestellt, in denen den Mängeln der Menschen eine Yergleichung
beigeschrieben gewesen: Regenten ohne Gerechtigkeit, Ströme ohne Wasser;
ein Reicher ohne Milde, ein Baum ohne Frucht u. s. w. Über den nicht
Yolkstümlichen Charakter der Triaden: Morel-Fatio Romania 12, 232 f.
•) Romanisches aus älterer Zeit Romania 12, 230. Spanisches aus
Santob de Carrion bei Stein, Untersuchungen über die Proverbios Morales
S. 81. Handbuchlein oder Yorzeichnus etzlicher feiner ynd fumehmer
Sprüchlein .... Alle auff Drej Dinge gerichtet. Dresden 1588 durch
Gimel Bergen.
^) 19 a gl und- Z ei dl er. Deutsch - Österreichische Literaturgeschichte
1, 560.
*) Vgl. Le quaternaire Saint-Thomas. Le quatre choses S. Thoma;
deutsch: Zeitschrift für Volkskunde 1901, S. 382, Anm. 1.
^) Die jüngste Behandlung faßt sie als Zahlenrätsel auf. Ed. König,
Stilistik, Rhetorik, Poetik in bezug auf die Biblische Literatur. Leipzig
1900. S. 13. Dagegen Frankenberg GGA 1901. No. 4. S. 277.
19
langen Triadensentenzen in eine Comedie des Hans Sachs, um
alsdann wieder Wander und seine unkritischen Benutzer zu be-
reichern.
Eine eigcntfimliche Verwendung erlebt die Triade im Anschluß
an das Paternoster und das Ave Maria gegen Ende des Mittel-
alters. Einzelne Qebetsteile werden mit ,dryerley vslegung' ver-
sehen, nach dem Schema:
Vatter vnnser:
Hoch in der schöpflfung,
Süß in diner lieb,
Rieh in dinem erbteyU).
Das umgekehrte Verfahren liebt französische Volksdichtung
des ausgehenden Mittelalters und reizt zur Parodie. Im Pater-
nostre des Verollez, avec une complaincte contre les medecins')
stehen die Gebetsteile am Schluß; z. B.
Les mcdecins ne voyent goutte
Et ne nous laissent ung denier,
Et nous avons si fort la goutte
Que presque nous fault regnier
Nomen tuum.
Die ganze Liianei wird in der Letanie des bons Gompaignons
mit priamelhaftem Inhalt parodiert.
De petit disner et mal cuyt
De mal soupper et masle nuyt,
Et de boyre du vin tourne,
Libera nos, Domine ^).
Zum ,To rogamus, audi nos^ wird gewünscht:
Donnez nous perdrix et pigcons,
Graces gelines et cochons,
Et nous remplös de vin noz pots:
Te rogamus, audi nos.
^) Alemannia 12, 167. Vgl. Montaiglon, Recueil de poesies fran(^oises
des 15e et 16e siecles 7, 299. Thurau, Der Refrain in der franz. Chanson.
Berlin 1901, S. 281 f. Roethe in der Zeitschr. f. d. A. 44, 190 flf., 430 ff.
Aach heute noch sind Ähnliche Blätter im Volke verbreitet.
^) Montaiglon, Recueil 1, 68.
^) Vgl. Spanische Proverbios bei Morphy, Die spanischen Lauten-
meister des 16. Jhs. Leipzig 1902. II, 157.
2*
20
Donnez nous bon pain, bonne chair,
Et la belle fiUe au coucher
Pour faire la beste k deux doz:
Te rogamus, audi nos *).
Es sind ähnliche Dinge, wie in dem altdeutschen Sprach
gewünscht werden, der Luther aufgelogen wurde.
Als bloße Spruch- oder Sentenzreihe kann das Priamel
übrigens, auch abgesehen von seinem spezifischen Bau, nicht gelten;
die besten Priamel sind Genrebilder, nichts weniger als sentenziös ^).
B. Steffen hat unbedenklich eine Abteilung der Stevs Genrebilder
überschrieben.
„Die Sprichwörter stellen den Übergang von der un-
gebundenen zur gebundenen Bede in seinen mannigfaltigen Ab-
stufungen dar. Wir können im allgemeinen ihre Form als
rhythmische Prosa bezeichnen^)." Das gilt, wenn wir uns ein-
mal mit rein äußerlicher Betrachtung begnügen wollen, nicht nur
für die romanischen Sprichwörter, die sich durch Formensinn
auszeichnen^), sondern auch für die älteste germanische Gnomik.
Von der einfachen Gnome unterscheidet sich das Priamel
durch Inhalt, Form und Kunstcharakter. Bei der Gnome ist der
Inhalt objektiv gegeben, nicht von absichtlichem Nachdenken,
wie Uhland^) sagt, ist sie erzeugt, sondern aus der Erfahrung
des Lebens springt sie stetig fertig hervor, wie die reife Nuß
aus der Schale. Dem konfusen Wander ^) und den Irrtümern
Bergmanns^) gegenüber ist immer wieder auf Wilhelm Grimm
zurückzugreifen. „Das echte volksmäßige Sprichwort enthält keine
absichtliche Lehre. Es ist nicht der Ertrag einsamer Betrachtung,
sondern in ihm bricht eine längst empfundene Wahrheit blitzartig
1) MoDtaiglon 7, 66 ff.
2) z. B. Göttinger Beiträge II, Nr. 4, 19, 24, 44, 62.
3) Schuchardt, Ritornell und Terzine S. 84.
*) Herrigs Archiv 43, 65. Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprach-
wissenschaft 9, 213. Eberts Jahrbuch 2, 46.
^) Schriften zur Geschichte der Dichtung und Sage 2, 524.
6) Deutsches Sprichwörterlexikon, Band I, S. V.
') La priamele S. 5. Fast jeder Sammler von Sprichwörtern gibt in
der Einleitung einige Allgemeinheiten über seinen Gegenstand zum besten,
in der Regel, ohne seine Vorgänger zu kennen. Leute wie Krumbacher, Krauss
und Otto, die sich durch Sachverständnis auszeichnen, sind leider Ausnahme.
21
hervor und findet den höheren Ausdruck von selbst: welche
Kraft hat ein glückliches Bild, es kann mild und ernst sein,
zierlich und witzig, aber es kann auch wie ein Schwert scharf
einschneiden. Diese Erhebung des Gedankens in eine reinere
Luft sichert dem Sprichwort inneren Gehalt, weite Verbreitung
und Geltung durch Jahrhunderte: es ist, wenn man will, eine
freiere und kühnere, dem ganzen Volk verständliche Sprache,
deren Gebrauch eine geistige Belebung voraussetzt, es ist auch
die volksmäßige Grundlage des Lehrgedichts, das sich erst breit-
machen konnte, als die Neigung zu philosophieren Einzug in
die Dichtung fand. Bei uns zeigt sich das Sprichwort schon in
frühster Zeit, aber ich glaube, daß es, wie das poetische Gleichnis,
erst bei freierer Beweglichkeit der Geister zur Ausbildung ge-
langte^).'' Was Wilhelm Grimm so empirisch feststellte, fand
Carl Prantl auf dem Wege philosophischen Nachdenkens be-
stätigt^). Das klassische Priamel entspringt demgegenüber sub-
jektiver Beflexion, die sich auf Grund volkstümlicher Improvisations-
weise mit künstlerischer Absicht an der spezifischen Form des
Parallelismus regelt. Die Gnome steht, rein äußerlich betrachtet,
am Anfang, das Priamel am Ende der hier konstruierten litera-
rischen Entwicklung^). In diesem Unterschied zwischen Gnome
und Priamel ist die Stilwidrigkeit des Folzischen Priamels be-
gründet; seine lockeren Gnomenreihen bedeuten einen Bückschritt
in der Komposition.
Nun hat man mehrere volksmäßige Spruchformen mit dem
Priamel in Verbindung gebracht, die zum Teil verwandt sind,
aber nicht damit zusammen fallen. Wir haben sie kurz darauf-
hin durchzumustern. Leider fehlen noch durchweg für die ver-
schiedenen Gattungen der Kleinpoesie monographische Unter-
suchungen, wie sie Petsch begonnen hat.
In allen, die man verglichen oder gar irrig als mit dem
Priamel identisch betrachtet, liegt Eeihenbildung vor. Vollstä^ndig
zusammenhanglos ist die Eeihenbildung im ^apwiü;*), wenn der
') Kleinere Schriften 4, 22.
2) Die Philosophie in den Sprichwörtern. München 1858.
^) Spätere Erwägungen leiten auf den Versuch, diese Entwicklungsreihe
umzukehren.
*) Q P 77, 107.
22
unbequeme Liebhaber abgetrumpft werden soll. So antwortet
das Mädchen dem werbenden Bitter in der Grasmetze^) Vers 77 ff.:
Ich gab ain venden umb ain roch.
Nun starb doch vert meins herren koch,
Der macht die allerpesten suppen.
Oder (200 ff.):
Ich sprach: mein hardt, nun ist entswai,
Was ich von frHuden ie gewan.
Si sprach: was gauts den Tilman an?'}
Der fert starb, schenkt heur nit wein!
Auf drinjgendere Werbung wird geantwortet (222 ff.):
bei ainem schweinsmagen
hett ich vor vasnacht fräuden viP).
Die Spruchreihen des Eampfgesprächs verraten neben
beziehungsvoU anknüpfenden und steigernden^) Beihen auch noch
bisweilen diese ältere mehr zusammenhanglose Bildung. Oregor
Hayden läßt in teilweise losem Anschluß an das alte lateinische
Oespräch (Vers 1856 ff.) den Salomon (174) sagen:
Ein frume frawe wolgetan
ist ein ere ierem man.
Markolf erwidert:
Einen haffen milich vol
sol man vor katzen hutten wol.
Salomon:
Ein weise fraw stiftet ir haus,
so die unweiß tregt daraus.
Markolf:
Was zue nesseln werden sol,
das prent frü, das sieht man wo! u. s. w.
Ähnlich wirken die parodierenden Gegensätze beim sogenannten
Seifried Helbling 15, 98ff. *). Auch in Sibotes Frauenzucht
Vers 104 ff. trumpft die ungebärdige warnende Zureden mit
ähnlichen Antworten ab, die keine logische Erklärung verlangen:
^) Zur literarischen Gattung ist z. B. der gegen 1231 entstandene
Contrasto ,Bo8a fresca' zu vergleichen.
*) Ebenso im Quodlibet L S. Nr. 248, 78. Sterzinger Spiele XXIY 609.
^ Müller-Fraureuth, Lügendichtungen S. 20.
^) Jantzen, Geschichte des deutschen Streitgedichts S. 21, 86.
>) Seemüller z. Z. St.
23
Ja dort gSt der man uf,
die rihte und die krumme,
man b6t da siben umme,
ez were a1)el verkoufet').
In derselben Weise sucht sich noch heute der Jahrmarkts-
händler, der auf dem Tische stehend seine Waren versteigert,
anzüglicher Witzworte der Umstehenden zu erwehren, die ihn
meist nur aus Vergnügen an seiner Geistesgegenwart und Lnpro-
visationskunst umdrängen. Ein Zuruf aus dem Publikum wird
von ihm durch parodierende Beimereien beantwortet, die zum
Angriff meist in keinem logischen Zusammenhange stehen, sondern
der Unterhaltung seiner Kunden dienen.
Auch das aus dem Arbeitsgesang hervorwachsende Spottlied')
nimmt es mit dem Zusammenhang seiner Reihen nicht genau.
Die Paderbomer Mädchen singen beim Flachsbrechen dem Vorüber-
gehenden die Verse nach: '
Hei, hei, hei, hei, we is dat denn^
De Quinke de quank.
De Vogel de sang,
Dat Johr is lang.
Juchhei, lat en gahn')l
Die ältesten Beispiele improvisierender Onomik (vorausgesetzt,
daß die Bevölkerung der Moselgegenden damals wirklich ger-
manisch war), die von Ausonius 370 bezeugten volkstümlichen
Spottverse ^bedürften einer Herleitung aus den Festspielen nicht,
wie sie Müllen hoff für die eristische Poesie^) annimmt, sondern
sind zum Teil natürlicher mit solchen Arbeitsliedern und den
altnordischen Spottversen aus reihenbildender Improvisation ent-
standen zu denken. Auch Lachmanns und Eoegels Ansicht,
daß solche Spottverse anfangs wesentlich epischen Charakters
gewesen seien, erhält durch die Arbeitspoesie keine Stütze.
») Vcrgl. G A 26, 76 ff. 94 ff.
•-) Bücher, Arbeit und Rhythmus« S. 80 ff.
') Keiff er scheid, Westfälische Volkslieder S. 98. Gesang der Mägde
bei Flachsbereitung bezeugt schon für das fünfzehnte Jahrhundert das nd.
Beimbüchlein 3322 ff.
«) Koegel, Geschichte der d. Litt. I 1, 57 f. 208. 2, 164. Pauls
Grundriß H' 49.
26
Eindersprucbe reimen das Verschiedenste zusammen.
Es regnet,
Gott segnet,
Die Sonne scheint,
Der Mond greint,
Der Pfaff sitzt auf dem Laden,
Frißt alle Pallisaden,
Die Nonne geht ins Wirtshaus *
Und trinkt die GlSser all, all aus*).
Auch beim Blumenorakel ist ofb nur äußerlicher Zusammenhang :
Edelmann, Bettelmann,
Bürger, Bauer,
Graf, Soldat,
Schulmeister, Pfarrer').
Beim Begen wird in der Uckermark gesungen:
Ragen immer sachter,
Moijen kömmt der Schlächter,
Ragen immer dUUer,
Moijen kömmt der Müller').
Über diesen zusammenhanglosen Humor des Einderreims
hat B. Hildebrand gehandelt^); wenn aber ein beim Auszählen
üblicher Kettenspruch ohne Weiteres Priamelform haben soll, so
ist diese Form verkannt. Das Verfahren des mit identischen
Worten spielenden Kettenspruchs*) ist nur Surrogat einer Ver-
bindung, nicht diese selbst.
Zum Tanzlied des Schnaderhüpfels führt ein Kinderreim,
den Simrock so wiedergibt:
Drei Rosen im Garten,
Drei Lilien im Wald,
Im Sommer ist's lustig.
Im Winter ist's kalt^).
>) Simrock, Deutsches Kinderhuch Nr. 538. Vgl. Nr. 170 ff.
^ Böhme, Deutsches Einderlied und Kinderspiel S. 184 f.
^ Zeitschrift für Volkskunde 8, 411.
*) Beiträge zum deutschen Unterricht. Leipzig 1897 S. 435. 53. Mate-
rialien zur Geschichte des deutschen Volksliedes. Aus Vorlesungen von
R. Hildehrand hg. von Berlit, S. 210 f.
^) Rochholz, Alem. Kinderlied S. 150. Bö ekel, Volkslieder aus
Oherhessen S. CXVL
«) Kinderbuch Nr. 537.
27
Dasselbe wird iD Oberschwaben als Tanz gesungen^).
In Eger lautet der Vierzeiler:
Drei Rausn inn Gattn,
Drei Vüagl inn Wold —
U da Summer is warm,
U da Wintar is kolt^).
In Beichenbach und Plauen:
Drei Ruesen in Garten,
drei LiÜing in Wald,
in Summer is's hitzig,
in Winter is's kalt^).
Es ist dieser elementaren Improvisationskunst eigen, nach
Zahlen und Buchstaben zu greifen, wenn sich kein Gedanke einstellt.
6 X 6 is 36,
und die Fra is gar ze fleißig.
6 X 6 is 36,
Der Voter wuUt ins Besenreisig.
2 X 10 dös is 20,
ho ich Geld, dös vertanz ich.
Und a X und a z,
und de Fuhrleut senn nett.
Und a X und a z,
und de Studenten senn nett,
und a z und a x,
addr taugn thunne se nix^).
Auch hier dasselbe Vorwalten des psychischen Mechanismus.
Setrospektive Betrachtung ^) hat allerdings in Beispielen
des Natureingangs beim Schnaderhüpfel Entstellung ursprünglich
^) Birllngers Schwäbische Volkslieder. Preiburg 1864, S. 63.
^) Hruschka und Toischer, Deutsche Volkslieder aus Böhmen
S. 274, Nr. 9. Die Herausgeber machen darauf aufmerksam, |daß Schnader-
hüpfel in gewissen Gegenden Nordhöhmens als Kindertanzlieder oder Einder-
reime auftreten; S. XII f. Strack, Hessische Blätter für Volkskunde 1, 31
3) Dunger, Rundas Nr. 1366. PoUe in Drosihns deutschen Kinder-
reimen S. 22 f. Zeitschrift für hochdeutsche Mundarten I 34 ff.
*) Dunger, Rundas Nr. 852 f., 891 f., 1026, 1219, 1242. Auch im
Süden verbreitet: Birlinger und Crecelius^ Wunderhorn 2, 791. Vgl. die
Abzählreime z. B. Wegen er S. 147 £f.
^) Dunger, Rundas S. XLII ff. Gustav Meyer, Essays und Studien
1, 377. Vgl. Zeitschrift für deutsche Philologie 19, 451, 444 f. Alemannia £6,
97. Kurt Bruchmann, Poetik S. 114. E. H. Meyer, Deutsche Volks-
26
Eindersprache reimen das Verschiedenste zusammen.
Es regnet,
Gott segnet,
Die Sonne scheint,
Der Mond greint,
Der Pfaff sitzt auf dem Laden,
Frißt aUe PaUisaden,
Die Nonne geht ins Wirtshaus *
Und trinkt die Gläser all, all aus ■).
Auch beim Blumenorakel ist ofb nur äußerlicher Zusammenhang :
Edelmann, Bettelmann,
Bürger, Bauer,
Graf, Soldat,
Schulmeister, Pfarrer').
Beim Begen wird in der Uckermark gesungen:
Ragen immer sachter,
Morjen kömmt der Schlächter,
Ragen immer dUller,
Morjen kömmt der Müller').
Über diesen zusammenhanglosen Humor des Einderreims
hat B. Hildebrand gehandelt^); wenn aber ein beim Auszählen
üblicher Kettenspruch ohne Weiteres Priamelform haben soll, so
ist diese Form verkannt. Das Verfahren des mit identischen
Worten spielenden Kettenspruchs*) ist nur Surrogat einer Ver-
bindung, nicht diese selbst.
Zum Tanzlied des Schnaderhüpfels führt ein Kinderreim,
den Simrock so wiedergibt:
Drei Rosen im Garten,
Drei Lilien im Wald,
Im Sommer ist's lustig.
Im Winter ist's kalt^).
0 Simrock, Deutsches Kinderhuch Nr. 538. Vgl. Nr. 170 fif.
^ Böhme, Deutsches Kinderlied und Kinderspiel S. 184 f.
3) Zeitschrift för Volkskunde 8, 411.
*) Beiträge zum deutschen Unterricht. Leipzig 1897 S. 435. 53. Mate-
rialien zur Geschichte des deutschen Volksliedes. Aus Vorlesungen von
R. Hildehrand hg. von Berlit, S. 210 f.
5) Rochholz, Alem. Kinderlied S. 150. Böckel, Volkslieder aus
Oberhessen S. CXVL
«) Kinderbuch Nr. 537.
27
Dasselbe wird Id Oberschwaben als Tanz gesungen^).
In Eger lautet der Vierzeiler:
Drei Rausn inn Gartn,
Drei VUagl inn Wold —
U da Summer is warm,
U da Wintar is kolt»).
In Reichenbach und Plauen:
Drei Ruesen in Garten,
drei Lilling in Wald,
in Summer is's hitzig,
in Winter is's kalt 3).
Es ist dieser elementaren Improvisationskunst eigen , nach
Zahlen und Buchstaben zu greifen, wenn sich kein Gedanke einstellt.
6 X 6 is 36,
und die Fra is gar ze fleißig.
6 X 6 is 36,
Der Voter wuUt ins Besenreisig.
2 X 10 dös is 20,
ho ich Geld, dös vertanz ich.
Und a X und a z,
und de Fuhrleut senn nett.
Und a X und a z,
und de Studenten senn nett,
und a z und a x,
addr taugn thunne se nix^}.
Auch hier dasselbe Vorwalten des psychischen Mechanismus.
Retrospektive Betrachtung ^) bat allerdings in Beispielen
des Natureingangs beim Schnaderhüpfel Entstellung ursprünglich
1) Birlingers Schwäbische Volkslieder. Freiburg 1864, S. 63.
') Hruschka und Toi scher, Deutsche Volkslieder aus Böhmen
S. 274, Nr. 9. Die Herausgeber machen darauf aufmerksam, [daß Schnader-
hüpfel in gewissen Gegenden Nordböhmens als Kindertanzlieder oder Kinder-
reime auftreten; S. XII f. Strack, Hessische Blätter für Volkskunde 1, 31
3) Dunger, Run das Nr. 1366. Polle in Drosihns deutschen Kinder-
reimen S. 22 f. Zeitschrift für hochdeutsche Mundarten I 34 ff.
*) Dunger, Rundas Nr. 852 f., 891 f., 1026, 1219, 1242. Auch im
Süden rerbreitet: Birlinger und Crecelius^ Wunderhom 2, 791. Vgl. die
Abzählreime z. B. Wegen er S. 147 ff.
^) Dung er, Rundas S. XLII ff. Gustav Meyer, Essays und Studien
1, 377. Vgl. Zeitschrift für deutsche Philologie 19, 451, 444 f. Alemannia £6,
97. Kurt Bruchmann, Poetik S. 114. £. H. Meyer, Deutsche Volks-
28
sinnreicher Naturvergleiche gesehen; aber das Elementare dQrfte
auch hier das Ursprüngliche sein. Einige Belege der Schnader-
hüpfelpoesie mögen diese Beobachtung bestätigen.
Dort oben aufn Eck
Steht a schneeweißer Schimmel,
Und die lustigen Leut
Kommen alle in HimmeP).
Weiß is die HoUerblU,
Weiß is die Wurzn,
Recht sakrisch liab fein
Sein die Leutlan, die kurzn').
Acht Tag is a Wochn,
Zwölf Monat a Jahr,
Und hiez lieb i a Diendl,
Hat pechschwarze Haar^j.
Wanns regnet, gibt's Wasser;
Wanns schneit, so gibt's Eis;
Zwei Mädle zum Lieben
Das kostt gar cn Fleiß ^).
Nicht anders verhält es sich mit den Pantums. Joest^)
leugnet die grundsätzliche sinnvolle Beziehung der Eingänge mit
aller Entschiedenheit Aber sein Beispiel versagt:
Man gießt Öl auf die Lampe,
Die zerrissene Jacke wird wieder geflickt;
Als Beweis unserer Liebe
' Schlafen wir Beide zusammen auf einem Kissen.
Hier ist zweifellos Zusammenhang; auch in dem „altbekannten
deutschen Vers^, den Joest citiert:
künde S. 324. Reuschel, Volkskundliche Streifzüge S. 140 ff., 116 ff.
Strack, Hessische Blätter für Volkskunde 1,41. Philip Sc^huyler Allen,
Studies in populär poetry. Chicago 1902, S. 3 ff. des Sonderabdmcks. „Nature
- introduction . . . the last shred of the nature-hymn" S. 7.
*) von Hörmann, Schnaderhüpfeln aus den Alpen ^ S. 335. Nr. 915.
^) Fogatschnigg und Herrmann, Deutsche Volkslieder aus Kärnten
1^ 7. Nr. 33. Vgl. S. 326. Nr. 1545. Es werden ihrem Bestände ent-
sprechend die beiden Auflagen nebeneinander citiert.
3) a. a. 0., 12 18. Nr. 85.
*) Meier, Schwäbische Volkslieder S. 16. VgLWerle, Aljnrausch S. 38,
^) Internationales Archiv für Ethnographie 5, 20.
29
Der Bär lebt in Sibirien,
In Afrika das Gnu,
Der Säafer in Dilirien,
In meinem Herzen lebst nur du!')
Auch folgendes Schnaderhüpfel gehört nicht hierher:
Und die Innsbrucker Glocken,
Die habn an schön Klang,
Bald mei Schatz amal stirbt.
Leb i a nimmer lang*).
Man wird hier vielleicht einwenden, der Glockenklang sei
doch Sterbegeläut; das sei doch nicht von schönem Klang. Den
Zusammenhang beider Gedanken aber vermittelt der verbreitete
Aberglaube, daß bald jemand sterbe, wenn die Glocken ungewöhn-
lich hell klingen.
Das besondere Verhältnis des Schnaderhüpfels zum Priamel
wird später auf breiterer Unterlage zu behandeln sein; zusammen
fallen sie nicht. Was man bisher zur Vergleichung beigebracht
hat, beschränkt sich auf den pointierten Schluß^).
Der Mangel einer durchgehenden innern logischen Ver-
knüpfung, psychologischer Mechanismus, kennzeichnet ebenso die
£eihen des Gento^) wie des Quodlibets. Dieses fällt mit jenem
aber nicht zusammen, weil der Cento in der Regel mit fremdem,
meist bewußt entlehntem Dichtungsgut zu tun hat, das Quodlibet
mit eigenem oder wenigstens herrenlosem. Vereinzelte Bemi-
niscenzen und Anleihen kommen, wie in der Kunstdichtung, nicht
in Betracht. Viele Handschriften des 14. und 15. Jahrhunderts
enthalten Freidank- und Bennercentonen in mehr oder weniger
willkürlicher Anordnung. In der Bescheidenheit selbst zeugt der
mangelhafte Zusammenhang ebenso von ehrwürdigem Alter als
von Volksmäßigkeit ^). Der Centonenpoesie , die immer erst in
*) S. 21. Es ist ein treffliches Beispiel zum Typus B des Priamel-
yierzeilers.
3) Hörmann » S. 98. Nr. 272.
^) Hauffen in Weinholds Zeitschrift für Volkskunde 4,15. Meyer,
Deutsche Volkskunde S. 315. Grasberge r, Die Naturgeschichte des Schnader-
hüpfels S. 54. Man hat also nur den Typus A in Betracht gezogen.
*) Verwandt ist die Katalogpoesic. Skutsch, Aus Virgils Prühzeit
S. 50 ff. 98, 105.
^) W. Grimm, Über Preidank S. 346. Seh er er, Deutsche Studien I
^46 f. Roethe, Reinmar von Zweter S 245. Paul, Über die ursprüngliche
30
Perioden des Verfalls künstlich, jedenfalls nicht ohne schriftliche
Vorlagen oder mündliche Vorbilder entsteht, tritt die Poesie der
altdeutschen quodlibetischen Spruchreihen als ursprüngliche volks-
mäßige Gattung zur Seite. Das alte Quodlibet ist aus der
Masse ähnlicher Gedichte noch nicht mit Erfolg ausgesondert.
Eine Monographie fehlt. Wilhelm Wackernagel war geneigt
für Spruchreihen vorbildlichen Einfluß lateinischer Spruchsamm-
lungen anzunehmen, Scherer vermutete hohes Alter ^), der Zu-
sammenhang mit altfranzösischer Poesie^) wurde überhaupt noch
nicht in Betracht gezogen. Jüngst ist das Quodlibet mit dem
Priamel zusammengeworfen und mit akademischen Disputationen
in Verbindung gebracht').
Wir müssen, wenigstens in flüchtigem Überblick, sehen, was
das alte Quodlibet war. Der Keim liegt in der unerschöpflichen
Improvisationslust des Volkes, die wir in den primitivsten Formen
der Beihenbildung, dem ^apiotuc, dem Arbeitslied, dem Schnader-
hüpfel, dem Rinderreim an der Arbeit trafen. Wem war die
Geschicklichkeit in schlagfertiger Improvisation mehr nötig, als
dem Spielmann des Mittelalters? Ist er doch der Vorfahr des
Jahrmarktskünstlers unserer Tage. In der Tat ist das alte Quodlibet
hauptsächlich in der Spielmannsdichtung gepflegt; derartige Stücke
gehörten in romanischen Ländern ^) wie in Deutschland zum Beper-
toire der Fahrenden. Inhalt und Vortragsweise bezeugen spiel-
männischen Charakter. An das Traugemundslied knüpfte der mit
dem Lotterholz ^) fahrende Sprecher ein improvisiertes Quodlibet.
Anordnung von Freidanks Besch. I 18 ff. Pfeiffer, Freie Forschung
S. 167 ff. Münchener Sitzungsberichte 1891, S. 678. Loewer, Patristische
Quellen-Studien zu Freidanks Bescheidenheit S. 22 f.
>) Deutsche Studien I 347.
3) Gröbers Grundriß H 1, 879 f.
3) Uhl, Die deutsche Priamel S. 81, 31, 28. Vgl. Ehrismann im An-
zeiger für deutsches Altertum 25, 165. Im allgemeinen Uhland 3, 231.
Mäller-Fraureuth, Lugendichtungen S. 20.
*) Legrand d'Aussy, Fabliaux et contes 4^, 17. Amphigourie, Reverie.
Gröber, a. a. 0., Fatrasie. Auch hier wird improvisiert: Gröber S. 880.
*) Wendeler, Briefwechsel des Preiherm Gregor von Meusebach mit
Jakob und Wilhelm Grimm S. 385. Hertz, Spielmannsbuch ' S. 7. Über
das Alter des Lotterspruches vgl. MSD' II 310; er wird vor volle Ent-
faltung der höfischen Poesie gesetzt. Faßt man nur die vorliegende lite-
33
mit Wasser zu begießen u. s. f. Nichts ist vor der Kritik des
Quodlibets sicher von der Kaiserkrone bis zum unscheinbarsten
Hausgerät der Bauernstube, bis zu den Lieblingsgerichten des
kleinen Mannes. Wie der Fahrende die mystische Beschaulich-
keit verspottet, setzt es auch sonst im Quodlibet auf die Kirche
manchen Hieb. Den letzten Schritt zur Vollendung machte es auf
niederdeutschem Boden. Der Klassiker der mittelniederdeutschen
Literatur ist auch der Klassiker des Quodlibets.
Es gibt vielleicht keinen mittelniederdeutschen Schriftsteller
von so ausgeprägtem Charakter als Hermen Bote^). Kämmerer
der noch immer blühenden Stadt Braunschwoig, die ein Chronist
mit Stolz die Krone und den Spiegel des Sachsenlandes nennt,
hat er in unruhigen Tagen ehrlich und furchtlos, ein Feind aller
ihm zweifelhaften Neuerungen in Staat und Kirche, ein Freund
der guten alten Zeit, kampflustig und schlagfertig, mit starker
Subjektivität mehr als einmal in das öffentliche Leben eingegriffen.
In den Onruhen der Jahre 1488 bis 91, deren Mittelpunkt
Ludeke Holland war, zeigte er sich, persönlich arg mitgenommen,
als schonungslosen Satiriker, dessen Spottgedichte die Oegner
zu wütendem Hasse reizten. Die wenige Jahre darauf entbrennende
große Braunschweiger Stadtfehde und ihre Erfolge begeisterten
ihn zu kecken Liedern. Trotz seiner vorgerückten Jahre scheint
er noch mehr lebhaft als gerecht in der ganz Niedersachsen be-
wegenden Hildesh^imer Stiftsfehdo Partei genommen zu haben.
Mit Sicherheit hat man ihm das Quodlibet zugewiesen, das er
Koker nennt. Dieser Köcher ist eins der merkwürdigsten Gedichte
unserer Literatur, in seiner Vielseitigkeit das wahre Anagramm
und Epigramm des Lebens, wenn man einen von Friedrich
Richter für das Quodlibet gebrauchten Ausdruck darauf anwenden
darf. Es ist schon zum Lesen bestimmt, nicht mehr Spielmanns-
dichtung, etwa 2000 durch Reimbrechung humorvoll aneinander
gereihte Sprüche der glücklichsten Prägung, ein Meisterwerk,
das, obgleich keine mittelniederdeutschen Qaodlibets aus früherer
Zeit erhalten zu sein sciieinen, doch ohne Zweifel den Abschluß
einer langen Entwicklung niederdeutscher gnomischer Überliefe-
') Brauns chweigisches Magazin 3, 108 ff. Eine Monographie wäre
dringendes Bedürfnis.
Ealins, Priamel 3
35
Die Abenteuerliche Bede») zeigt Vers 56 ff. 64 f. 106 f.,
wie das Quodlibet in den verwandten Lügenspruch übergeht,
der ebenso wie die bisher besprochenen Gattungen des logischen
Aufbaues entbehrt. Seine Form ist quodlibetisch, ein spezifischer
gelegener Inhalt verbindet die Reihen. Die Gattung ist alt^),
obgleich sie zuerst durch Beinmar von Zweter in der Literatur
bezeugt wird^). Vom Lügenmärchen und von kunstvolleren
Lügendichtungen, die wie das Wachtelmäre Gruppenbildung auf-
weisen, ist der einfachere quodlibetische Lügenspruch noch zu
sondern. Man hat bisher^) die Verwandtschaft des Lügenspruches
mit dem Priamel mehr betont, als die Verschiedenheit beider.
Scherer hebt hervor, daß die eigentümlichste Gestalt des Priamel§
es auf Überraschung des Hörers und auf eine komische Wirkung
abgesehen habe^); zu gleichem Zwecke bediene sich das Lügen-
märchen gerne der Figur der Häufung. Aber Häufung ohne
logischen Zusammenhang macht noch kein Priamel, und auf
komische Überraschung haben es auch andere Gattungen, z. B.
das Quodlibet und die apologischen humoristischen Gnomen ab-
gesehen^). Boethe zeigt, daß aus Beinmars Lügenstrophen
bessere Priameln hätten werden können, als jene Sprüche, die
Priamelform verraten. „Es fehlt abef nur die MoraP, d. h. die
Beihen sind nicht in die einem Priamel unerläßliche innere Be-
ziehung gesetzt. Und wenn Beinmars 160. Strophe eine Priamel
sein soll, „die ihren Beruf verfehlt hat**, so genügte es die
Strophe herzusetzen, um zu erkennen, wie sehr sie ihren Beruf ver-
') Vers 59 wird die große Glocke erwähnt, ,die vff geleyt wirt ze
Speyer' (ühland 3, 328); das geschah im August 1453. Geis sei, Der
Kaiserdom zu Speyer 2, 5. Es ist eine Parodie auf wenig geistreiche Rätsel-
sprüche wie Bescheidenheit 109, 10. 12. Renner 6353 flf. In den Beispielen
109, 6. il8, 23 sind die Vorschriften mit den nicht ernst gemeinten Lügen-
sprüchen verwandt; 121, 12 satirisch; 146, 21 wendet sich gegen den
Lügenspruch. Dit des aventures bei Gröber S. 881.
') Bö ekel, Volkslieder aus Oberhessen S. CLI f.
3) ühland 3, 223. Roethe, Reinmar von Zweter S. 248 ff.
Müller-Frau rcuth, Die deutschen Lügendichtungen S. 12 ff.
*) Scher er, Deutsche Studien I 346. Roethe S. 248.
5) Vgl. Strauch, Marner S. 31.
^) Im allgemeinen Überhorst, Das Komische 2, 656 ff. Haupt, Opus-
cula 2, 395 ff. Weinhold, Altnordisches Leben S. 326. Koegel P 181 f.
Münchener Sitzungsberichte 1893, 2, 22 ff.
36
fehlt hat^). Vollkommen gelingt es dagegen französischer Volks-
poesie, Reihen der Lügendichtung und unmögliche Dinge in
der Ballade zusammenzufassen^). Der Bau solcher Balladen
nähert sich dem des synthetischen Priamels bis zu täuschender
Ähnlichkeit in dem Stück von der Loyaultä des Femmes^). Zu
so präciser Strophenform hat es deutsche Lügenpoesie nicht
gebracht; sie entbehrt dafür aber auch der unerhörten Monotonie
dieser fremden ^lyrischen Manufactur." Wie vielerlei Motive
das Priamel der deutschen Lügendichtung verdankt, wird sich
später mehrfach zeigen; hier kam es darauf an zu betonen, daß
das Priamel als solches selbständig dem Lügenspruch gegen-
über steht.
Durch Antwort, Frage*), Überschrift oder Auflösung
wird beim BätseP), beim Epigramm, Madrigal, Ikon Einheit
in Spruchreihen gebracht. An den Schluß rückt der gemeinsame
Gesichtspunkt, eine scherzhafte Antwort auf Fragenreihen, z. B.
in Holteis Gedichte „Su gärne^)." Wenn in späteren Rätseln
wieder eine gewisse Verwandtschaft mit dem Epigramm, wie
Gervinus^) sagt, hervortritt, so daß man aus Epigrammen Rätsel
machen kann, so ist für die ältere Zeit ein Übergang oder gar
») Zum Schluß: ühland, Schriften 3, 337. Böhme, Kinderlied
S. 262. Nr. 1258. Van Vloten, Nederlandsche Baker -en Kinderijmen.
Leiden 1874. S. 27. Dunger, Rundas S. 253. Nr. 1350. S. 211. Nr. 1136.
') Montaiglon, Recueil de poesies fran(^oises des XVe et XVIe siecles
1, 227. Gaston Paris, Franijois Villon S. 103 ff.
5) Becueil 2, 35.
*) Z. B. Bö ekel Nr. 104, S. 88.
5) ühland, Schriften 3, 181 ff. Scherer, Deutsche Studien I 345.
Böckel S. CXVIII. Eoethe, Reinmar von Zweter S. 250 ff. Meyer,
Altgermanische Poesie S. 160. Reinhold Köhler, Kleinere Schriften 3, 538
(vgl. z. B. Göttinger Beiträge 2, 18). Koegel, Literaturgeschichte I^ 64 ff.
Übrigens gehört der Spruch vom Meister Irregang nicht zur Rätsel-, sondern
zur Lügenpoesie; tatsächlich kann der Fahrende nichts von den gerühmten
Fertigkeiten, soweit sie ernsthaft gemeint sind. Vgl. Fsp. 1 135 ff . Q F 77,
145 ff. und den mnl. Buskenblaser. Kalff, Het Lied S. 482. Grob er s
Grundriß H 1, 878. Zu den romanischen Vorbildern Schneegans, Geschichte
der grotesken Satire S. 84 ff.
«) Bei Welcker, Dialektgedichte « S. 160.
') Geschichte der deutschen Dichtung III* 406 f. Näher steht die
Sentenzenliteratur.
37
Zusammenfallen 0 von Bätsei und Priamel schon durch die Ent»
stebung des Bätsels aus religiösem Bitual und eristischer Poesie ^)
ausgeschlossen. Im Traugemundsliede gibt es also keine anapho-
riscben Priameln^j, sondern diese vierzeiligen Beihen des für
die Literaturgeschichte so unschätzbaren Gedichtes haben, wie
die Fragen der Geitspeki Heidreks, den merkwürdigen alten
indogermanischen Typus bewahrt^). Allerdings finden auch wieder
Bätselmotive, wie sich später zeigt, im Priamel Verwendung^).
Ganz wie beim Bätsei ist in folgendem Epigramm Wilhelm
Müllers verfahren:
Adelstolz sitzt auf hölzernem Pferdci
Bauernstolz wälzt sich auf der Erde,
Bilrgerstolz geht auf hohen Hacken,
Geldstolz steht auf gelben Schlacken,
Dichterstolz fliegt in den Himmel hinein.
Wo mag der stolzeste Stolz wohl sein?^).
Ein rätselartig gebautes Beispiel aus der Madrigaldichtung
liefert Heinrich Bredelou^^. Oder beim galanten Ikon®) wird
der gemeinschaftliche Gesichtspunkt, der die Auflösung enthält,
an die Spitze gestellt; z. B. bei Hofmannswaldau ^). Die Ähnlich-
keit mit alter Priameldichtung spiegelt sich auch in der Bichtung
des Ikons auf das Genrebild. So gibt Hofmannswald^u S. 30
den „Abriß Eines falschen Freundes.*" Im „Abriß Eines ge-
1) Uhl, Die deutsche Priamel S. 277.
») Müllenhoff DAK5,238. Wilmanns Z.f.d.A. 20, 252. Koegel
a. a. 0. Sehr ad er, Reallexikon der indogermanischen Altertumskunde
S. (547. Oldenberg, Die Literatur des alten Indien S. 25.
») ühl, Die deutsche Priamel S. 277. 280.
*) Koegel a. a. 0. Uhland 3, 184. Detter und Heinzel,
Edda 2, 368. Auch mit dem Quodlibet hat das Rätsel an sich nichts
zu tun.
5) Vgl. Wendel er S. 37t 40. Wenn sich Rätsel der Form des Priamel-
viorzeilcrs bedienen, fallen die Gattungen Rätsel und Priamel darum noch
nicht zusammen.
«) W. Müller, Gedichte, hg. von Max Müller, Teil 2. Nr. 50. Die
Stolze.
^) HenrichsBredelou Von Königsberg aus Preußen Neue Madrigalen.
Uelmstädt 1689. S. 40. Nr. 48. Zur Charakteristik der Kompositionsweise:
Vossler, Das deutsche Madrigal S. 75 ff.
8) Q F 56, 53; 88.
^) Vermischte Gedichte (Breslau 1680) S. 29.
38
meinen Schulmannes^ (S. 31) wird dessen ganzer Lebenslauf
priamelartig durchgenommen. Noch zu Goethes Jugendzeit lebt
diese Kunsttradition des galanten Ikons; er schreibt an seinem
siebzehnten Geburtstag seinem Freunde F. M. Moors ins Stammbuch:
Dieses ist das Bild der Welt,
Die man fUr die beste hält:
Fast wie eine Mördergrube,
Fast wie eines Burschen Stube,
Fast so wie ein Opernhaus,
Fast wie ein Magisterschmaus,
Fast wie Köpfe von Poeten,
Fast wie schöne Raritäten,
Fast wie abgesetztes Geld
Sieht sie aus, die beste Welt*).
Halmsche Ghaselen, auf deren formelle Verwandtschaft mit
dem Priamel Wendeler ^) hinwies, stehen solcher Kunstübung
jedenfalls näher als volkstümlicher Improvisation; an wirklichen
Zusammenhang dachte wohl auch Wendeler nicht. Ein Beispiel:
Verschlungner Reihentanz sich wendend hin und her;
Buntfärbger Federball, den, sendend hin und her,
Gewandter Schläger Kunst nicht läßt zum Boden mehr;
Weihrauchgewölke, wie, duftspendend hin und her,
♦ Im Dom aufwirbeln läßt der Weihnacht Wiederkehr;
Sprühregen, den im Fall, verschwendend hin und her
Schaumduftgen Irisglanz, der Springquell streut umher;
Und WeberschifF, das rasch vollendend hin und her
Zum leuchtenden Geweb vereint der Fäden Meer:
So schweb Gaselenreim mir blendend hin und her! 3).
Alles dies, wie Bergmanns im Eap. IV zu erörternde
„sonnets-priamäles'^, ist kein echtes Priamel, alles aus bestimmter,
meist manirierter poetischer Tradition hervorgegangen, „poetische
Marcipane," alles mehr Kunst, als das Priamel verträgt, und
ohne rechten Zusammenhang mit der V^olkskunst des Priamels.
*) Bernays, Der junge Goethe 1, 85. Weißenfels, Goethe im
Sturm und Drang I 38. Herr mann, Jahrmarktsfest zu Plundersweilem
S. 36. 38 bringt diese Verse mit Guckkastenpoesie (Kopp in Steinhausens
Archiv für Kulturgeschichte 2, 296 ff.) in Verbindung und ist geneigt, sie
Goethe abzusprechen.
^) De praeambulis S. 12.
3) Friedrich Halms Werke I (Wien 1856), S. 161.
89
Wir habei> gesehen, daß alle Arten poetischer Kleinkunst,
die mit dem Priamel in Zusammenhang gebracht sind, sich doch
nicht damit decken. Wenn auch die Gattungen der Volkspoesie
vielfach in einander übergehen, ergeben sich trotzdem unter«
scheidbare Typen, deren prinzipielle Vermischung eine wirkliche
Erkenntnis dieser Poesie unmöglich macht. Je mehr das Priamel
literarischer Geltung zustrebt, um so deutlicher sondert es sich
aus seiner Umgebung ab. Es verwendet allerdings die Anaphora,
die Klimax, die Beihenbildung, Elemente der Gnomen- und Lügen-
dichtung, des Bätsels u. s. f.; aber Anaphora, Klimax, Beiben,
Bätsei u. s. w. sind eben noch kein Priamel. Es wahrt in seiner
fertigen Gestalt, bei Bosenplüt, in der Priamelrede, den
Charakter einer literarischen Gattung, es ist nicht bloße stilistische
oder syntaktische Form'). Dieser Unterschied wird für die
literaturgeschichtliche Beurteilung wichtig. So werden wir Budolf
Koegel teils beipflichten, teils widersprechen müssen, wenn er
ein altdeutsches Priamel bis in das zwölfte Jahrhundert mit
größter Bestimmtheit leugnet: beipflichten, wenn er es als an-
geblich vorhandene literarische Gattung leugnet; widersprachen,
wenn er verkennt, daß die volkstümlichen Grundlagen auch schon
in älterer Dichtung gegeben sind.
») Ehrismann, AfdA. 25, 167.
38
meinen Schulmannes" (8. 31) wird dessen ganzer Lebenslauf
piiamelartig durchgenommen. Noch zu Goethes Jugendzeit lebt
diese Kunsttradition des galanten Ikons; er schreibt an seinem
siebzehnten Geburtstag seinem Freunde F. M. Moors Ins Stammbuch:
Dieses ist da; Bild der Welt,
Die man (Ur die beste halt:
Fisl wie eine Mördergiub«,
Fast wie eines Burschen Slube,
Fast so wie ein Opernhaus,
Fast wie ein Magisierschmnus,
Fast wie Köpfe von Poeten,
Fast wie schöne Raritälen.
Fast wie abgesetiies Geld
Sieht sie aus, die beste Welt'J.
Ualmsche Gliaselen, auf deren formelle Verwandtschaft mit
dem Priamel Wendeler') hinwies, stehen solcher Kunstübung
jedenfalls näher als volkstümlicher Improvisation; an wirklichen
Zusammenhang dachte wohl auch Wendeler nicht. Ein Beispiel:
Versch lungner ßeihcntani sich wendend hin und her;
Buntfürbger FederboU. den, sendend hin und her,
Gewandter .Schläger Kunst nicht UBt lum Boden mchrj
Weibrauchge wölke, wie, du fisp endend hin und her,
• Im Dom aufwirbeln laßt der Weihnacht Wiederkehr^
SprUhiegeo, den im Fall, verschwendend hin und her
Schauuiduftgen Irisglani, der Spiingquell streut umher;
Und Weberschiff, das rasch vollendend hin und her
Zum leuchtenden Geweb vereint der FHden Meei:
So schweb Gaselemeim mir blendend hin und herl').
Alles dies, wie Bergmanns Im Kap. IV zu erörternde
„sonnets-priamMes", ist kein echtes Friamel, alles aus bestimmter,
meist manirierter poetischer Tradition hervorgegangen, „poetische
Marcipane," alles mehr Kunst, als das Priamel verträgt, und
ohne rechten Zusammenhang mit der Volkskunst des Priamels.
') Bernajs, Der jnngo Goütliu 1, 85. Weißünfuls, Gootho im
Sturm und Drang I 38. Hcrrmauii,
S. 36. 38 bringt dioac Vursu mit Guckk
Archiv für Kulturgcschichto 2, U'JG ff.) ii
Goethe abzusprochon.
') Do praoainbulis S. 12.
3) Friedrich Halms Werke I (W
Wir babeß gesehen, daß alle Arten poetischer Kleinkunst,
die mit dem Priamel in Zusammenliang gebracht sind, sich doch
nicht damit decken. Wenn anch die Gattungen der Volkspoesie
vielfach in einander übergehen, ergeben sich trotzdem anter-
scbeidbare Typen, deren priazipielle Vermiscbang eine wirkliche
ErkenntniB dieser Poesie unmöglich macht. Je mehr das Priamel
literarischer Geltung zustrebt, am so deutlicher sondert es sich
aas seiner Umgebung ab. Es verwendet allerdings die Anaphora,
die Klimai, die Beihenbildung, Elemente der Gnomen- und Lügen-
dichtuQg, des Batsels a. s. f.; aber Anaphora, Klimax, Reihen,
Rätsel n. s. w. sind eben noch kein Priamel. Es wahrt in seiner
fertigen Gestalt, bei Rosen plüt, in der Priamelrede, den
Cbarakt«r einer literarischen Gattung, es ist nicht bloße stilistische
oder syntaktische Form')- Dieser Unterschied wird für die
literatnrgeacbichtliche Beurteilung wichtig. So werden wir Rudolf
Koegel teils beipflichten, teils widersprechen massen, wenn er
ein altdeutsches Priamel bis in das zwölfte Jahrhundert mit
größter Bestimmtheit leugnet: beipflichten, wenn er es als an-
geblich vorhandene literarische Gattung leugnet; widersprechen,
wenn er verkennt, daß die volkstümlichen Grundlagen auch schon
in älterer Dichtung gegeben sind.
•) Ehtismsnn, A(dA. 25, 167,
II.
Name des Priamels.
Wenn man je gegen Namen eifern soll, so
müßte es gegen dieses Wort geschehen.
Jakob Grimm.
Begrenzter Umfang der Bezeichnung. Die musikalische Bedeutung bei Rosen-
plüt. Das Priamel als primitive instrumentale Improvisation. Priamel in
Predigt und Fechtkunst. Form des Wortes, Anwendung auf das Impro-
visationsgedicht, Verschwinden des Namens.
Wie beim Volkslied hat beim Priamel der Uegriflf das Wort
geschaffen^). Schon früher wurde bemerkt, daß der Frage nach
der Herleitung des Namens, wie beim Sonett und Madrigal^),
eine größere Wichtigkeit beigemessen ist, als sie an und für sich
haben muß. Der Begriff des Literaturobjektes hätte an hin-
reichendem Material festgestellt werden können, ohne daß die
Theorien über die Namensfrage von entscheidendem Einfluß zu
werden brauchten. Der alte Name hat überhaupt, insofern er
eine literarische Gattung bezeichnet, kein Jahrhundert gelebt'),
*) Erwin Kircher, Volkslied und Volkspoesie in der Sturm- und
Drangzeit, Zeitschrift für deutsche Wortforschung IV, S. 2.
^) Der Name des Madrigals hat ähnliche Schicksale gehabt. Voßler
S. 10 ff.
3) Göttinger Beiträge 2, 17. DLZ 1899, 303. Ehrismann Anz.
25, 163 f. Der altertümelnde Johann Martin Usteri benennt zwei poetische
Anekdoten mit mißlungener Erläuterung Briamel : Briamel vom Schuldenbott
und Briamel vom Wyn. Heß 1, 31 ff. Er scheint beabsichtigt zu haben,
die längst verschollene Bezeichnung wieder künstlich aufzufrischen. Albert
Bach mann bestätigt mir, daß die Mundart das Wort Priamel als Bezeich-
nung für ein Gedicht in der Tat nicht kennt. Die beste Inventarisierung
des Wortbestandes liefert für ein engeres Gebiet der inhaltreiche Artikel
des Schweizerischen Idiotikons V 301 f.
41
und auch in der kurzen Zeit seiner Geltung nur in recht engen
Grenzen Verständnis gefunden *). Von all den zahlreichen Priamel-
handschriften kennen ihn nur fünf A, C, D, FG und N. Die
guten Handschriften gebrauchen ihn nur bei Bosenp lutschen
Stü<5ken; vor Rosenplüt ist er gar nicht vorhanden^). Rosenplüt
aber verwendet ihn auch in dem Spruch von der fruchtbaren
Frau (D 39). Man wird sich hier dem Schlüsse niclit entziehen
können, daß der Name auf RosenplQt zurückzuführen ist.
Welche Bedeutung hat das Wort bei Rosenplüt? Die ganze,
bisher nur in Bruchstücken bekannte, wichtige Stelle der Hand-
schrift D muß es lehren; sie sei deshalb hier vollständig wieder-
gegeben^}. Ist sie doch neben einer Stelle des Härders und
einer der Minne Regel, die Jacobsthal und Ambros erläutert
haben, sehr lehrreich für die Musikgeschichte dieser Zeit^).
Fürbaß kom ich durch stießen nebel;
Da hört ich erst aus vogel snebel
Das allerlieplichst sUest preambel
Aus rausica on alles stammeln
Zwischen dem gamaut^) und dem sol,
Das^) schickten sie da auf zu zol
Dem kunig in der eren vesten,
Der^) in die sun ließ heraber glesten.
Dieselb macht mit irm warmen glitzern
Mang freien vogel so sUeßlich zwitzern,
0 Ehrismann S. 164.
8) Göttinger Beitr. 2, 16.
^) S. 39 — 41 der Handschrift. 41 ist falsch für 40 paginiert. Der
Text ist weder kritisch hergestellt noch mit allen Fehlem gegeben, vielmehr
ein Mittelweg eingeschlagen. Die kritische Ausgabe will Michels liefern.
^ Altere Stellen mustert mit reichem Gewinn Burdach, Eeinmar
der Alte und Walther S. 178 fF. Romanisches bei Lavoix, Bibliotheque
Fran<jai8 du moyen-äge 2, 321. Statt Jacobsthals ,gradibus' (Z. f. d. A. 20)
73) ist "beim Härder ,gravibus' zu lesen. Minne Regel 428.
*) Noch in Judenkünigs Tabulatur die tiefste Saite. Vgl. Agricola
Musica instioimcntalis deutsch S. 62 (des Neudrucks.) Ambros, Geschichte
der Musik 2', 151 fP. Leopold von Schröder führt in seiner Antritts-,
Vorlesung zu Wien (Beilage zur Münchener Allgemeinen Zeitung 1899}
Nr. 151, S. 2). Guidos Gamma auf das indische grama, prakritisiert gäma,
zurück.
6) Hs. Da.
^) Hb. Dorynn.
42
Mit semitoni aus dem re
Schöpften si aus der quinten sc.
Mang stießen wirbel aus iren snebeln
Die donten si her aus paumes gebeln
Mit halben noten on all valseten,
Das in rundel und in muteten ^)
Nie wurden geftirt so stieße priichlein,
Als man sie notirt in die blichlein,
Und sie de donet in canducten^)
Die vallenden noten und die verzuckten,
Holnoten und slagnoten furtswangen,
Gespalten die kurzen Über die langen,
Die discantirten^) sie all in irem cantum,
Do sie frolockten in tones trantrum.
Die lerch so meisterlichen traf
Die concordanzen in der ottaf.
Aus b fa be mi clang her teglich
Die droschel mit irm stießen sieglich.
Golander spielt aus b moUis
Und ruret niendert an das solis.
Die amscl der noten zal cannaunet^),
Die tenoriret und purdaunet^)
Mit ut, mit terz und mit medium.
Dartiber spielt ad placitum
Die nachtigal so stießen tackt,
Da sie so mang grtins laub bedackt,
Mit ires wedeis oberswUnglein^j.
Darunter mtinzet auch ir ztinglein
Mang stieße noten in einer minuten.
Damit sie all schon lob erputen
Mit manchem meisterlichem stUcklein
Dem, der in zu speise schuf die mticklein.
Dem dankten sie mit sUeßem gelsen.
Dem obersten schopfer aus iren helsen.
So ich nach lust ge umbswanziren
Und hört der vogel stimm hofiren,
Do kom ich an ein liebe stat.
») Ambros 2, 236. 237.
2) Ambros 2, 336. 339. Vierteljahrsschrift für Musikwissenschaft 2, 280.
3) Hs. discantiren. Zs. f. d. A. 20, 72.
^) Yielleicht Yon dem Kanun gebildet. Ambros 1, 114. 2, 198. Land,
Recherches sur l'histoire de lagammeArabe (Verhandlungen des 6. Orientalisten-
Kongresses) S. 53 ff. Ambros zur Minne Regel S. 245 f. Übrigens ist die
Lesung unsicher.
*) Z. f. d. A. 20, 73 f.
«) Schmeller, BW 2«, 640. QF 77, 135.
43
Die Ausführung beweist, daß Bösen plüt hier das Wort in
musikalischer Bedeutung gebraucht. Daß mit preambel nicht
nur ein musikalisches Geräusch ^) gemeint ist, zeigt die unmittel-
bare Fortsetzung des Satzes. Es ist synonym mit dem korre-
spondierenden späteren Ausdruck ,meisterliches stücklein^^). Auch
beim Härder führen die Vögel ein ,trippel"^) und im afr. Lai
d'piselet (91): lais, noviax sons, rotruhanges und chansons^) aus.
Rosenplüt verfügt überhaupt über reichliche Kenntnisse der
musikalischen Theorie und Praxis, wie aus zahlreichen Stellen
seiner Dichtungen hervorgeht. Damit zu prunken, war literarische
Mode. Hier sei nur auf die größeren zusammenhängenden Stellen
verwiesen. Im Spruch von dem Priester und der Frau sagt er:
Die (Vogel) hört ich nu so stieß ergellen
Für lauten, fidcln und rubellen^)
Und fUr der stießen harpfen griff.
Die warhcrt ich neur von in triff,
Das sie überstimpten aus iren gorgeln,
Schalmeien, portatif und orgeln
Und flöten und pfeifen aus dem sack^).
Dazu kommt eine Stelle aus den Ehefrauen^), die Stelle über
Conrad Paumann®) und einige Verse aus dem EinsiedeP).
Es tritt uns aus alledem schon eine nicht gerade gewöhnliche
Bekanntschaft mit musikalischen Dingen entgegen. Man kann
wohl sagen, er kannte die gesamte musikalische Kunstübung
Nürnbergs gründlich. In den oben zitierten Versen nennt er
allein 9 verschiedene Instrumente, zeigt sich bewandert in der
Orgel- und Lautentabulatur, mit deren Kunstausdrücken er
kokettiert, ist vertraut mit Theorie, Vokal- und Instrumental-
musik und kennt eine Anzahl musikalischer Kunstformen. „Das
0 Uhl, Die deutsche Priamel S. 112.
2) Gerade so sagt HansGerle, Musica Teusch (!) von 1*537, Blatt A 3:
„etliche kunstliche stuck | Preambel | vn Tentz."
3) Zeitschrift für deutsches Altertum 20, 73 ff.
*) Gröber im Grundi-iß II^ 660.
5) Schmeller, BW. 2^ 116. Ambros 1, 79. 2, 29. 243.
6) D 30.
^) Zeitschr. für deutsches Altertum 32, 445.
^ 8. unten.
^) Kellers Fastnachtspiele 3, 1125.
44
goldene Zeitalter des Instrumentenspiels^ mit seinen primitiven
Anforderungen ermöglichte ja eine später nie wieder erreichte
Vielseitigkeit der musikalischen Praxis. Ohne Mühe konnten die
Musiker sich noch zu Virdungs Zeit „einer mannigfaltigen Tätig-
keit widmen, und wenn es jemand so weit gebracht hatte, das
Clavicordium, die Laute und die Flöte zu spielen, so war er
imstande, mit Leichtigkeit ziemlich alle Instrumente in den Be-
reich seines Könnens zu ziehen^ ^).
Es kann nicht wundernehmen, wenn auch ein ungelehrter ^)
Handwerksmeister in Nürnberg zu solchen Kenntnissen gelangt;
die Haus- und Orchestermusik jener Zeit war durchgängig aus-
gesprochen dilettantenhaft, und die Leistungen werden fast immer,
wenn auch nicht ganz mit Becht, als überaus gering angeschlagen.
Nürnberg ist auch in gewissem Sinne die Wiege der deutschen
Instrumentalmusik, zu deren Anfängen das Priamel gehört.
Die Ausbildung selbständiger Instrumentalmusik knüpft;
sich an Orgel- und Lautenkunst, beide gerade in Nürnberg hoch
entwickelt. Nürnberg ist bereits im fünfzehnten Jahrhundert die
Hauptbezugsquelle für Instrumente aller Art^). Nürnberg hat
seinen ältesten Lautenisten Heintz Helt (1413)^) und im fünf-
zehnten und sechzehnten Jahrhundert eine ganze Reihe hervor-
^) Wasielewski, Geschieh to der Instrumentalrousik S. 98.
') Man darf nur nicht unterschätzen, was auch die sog. volkstümliche
Kultur an gelehrten Bildungsclementen enthielt. Der Gegensatz der Be-
griffe volkstümlich und gelehrt ist Ergebnis der Abstraktion.
^) Hans Loewenfeld, Leonhard Kleber S. 32. Jetzt findet man
vieles bequem zusammen in Oswald Körtes Buch über Laute und Lauten-
musik bis zur Mitte des sechzehnten Jahrhunderts. Publikationen der Inter-
nationalen Musik-Gesellschaft. Beihefte III. Leipzig 1901. Leider ist sein
Interesse mehr auf das sechzehnte als auf das vorangehende Jahrhundert
gerichtet. Dazu kommt die Publikation der spanischen Lautenmeister des
sechzehnten Jahrhunderts von Morphj und Gevjaert. Leipzig 1902. Die
Bibliographie ist allerdings lückenhaft: z. B. fehlen Judenkünig und Gerle.
*) Ambros 3, 427. Wenn Reuß in Mones Anzeiger 1854, 271 einen
Heinricus cytharcda 1202 in Würzburg nachweist, so wird das wohl ein
Harfenspieler gewesen sein. Wackernagel, Geschichte der deutschen
Literatur I' 9, 20. Deutsche Lautenisten des vierzehnten Jahrhunderts:
Beneke, Von unehrlichen Leuten (2. Aufl.), S. 41 (1385). Germ. Abh. 1,8,
122 (1890). In den Niederlanden: van der Straeten, La musique aux Pays-
Bas 2, 368 (1363). In Frankreich: Bivista musicale Italiana 5, 643 (1396).
45
ragender Eünsiler dieser Art aufzuweisen, wie die berühmte
Familie Gerle. Conrad Oerle ist um die Mitte des fünfzehnten
auch im Ausland als Lautenmacher bekannt^- Hans öerle
und Hans Neusiedler sind dort im folgenden Jahrhundert die
Verfasser wiederholt aufgelegter Lautenbücher ^). In Nürnberg
gab es auch tüchtige Dilettanten; Hans Oerle der Ältere nennt
in der Widmung seines Neuen Lautenbuches von 1552 den Nürn-
berger Hürger Franz Ledercr einen furnembsten dieser Kunst ^).
Rosenplüts genaue Bekanntschaft mit der Tabulatur kann auf
Vertrautheit mit dem Instrument beruhen, das dazumal jeder
klimperte^). Es war, wie heutzutage das Klavier, das Mode-
instrument der Dilettanten^). Wie die volksmäßige bürgerliche
Dichtung vielfach durch seßhaft werdende Fahrende Anregung
empfing, so konnte auch deren musikalische Tätigkeit nicht ohne
Einfluß auf die Musikübung in den Städten bleiben. Die deutschen
Spielleute gewannen bekanntlich schon im dreizehnten Jahrhundert
städtische Organisation und verschmolzen immer mehr mit der
bürgerlichen Gesellschaft^). Der Stadtmusikant trat vielfach ihr
Erbe an und förderte die Verbreitung musikalischer Bildung in
den Städten. Auch in Nürnberg lag die Pflege der Instrumental-
musik zuerst in den Händen der Stadtpfeifer ^). Der Fahrende
') van der Straeten 2, 369. Ernst Gottlieb Baron, Historisch-
Theoretisch und Practische Untersuchung des Instruments der Lauten. Nürn-
berg 1727. S. 56: „1415 der Weltberühmte Lauten-Macher Lucas Mahler
gelobet" ; vgl. S. 92.
') Yierteljahrsschrift für Musikwissenschaft 7, 288 f. Monatshefte füi-
Musikgeschichte 18, 101 ff. Zuerst hat Wasielewski in seiner Geschichte
der Instrumentalmusik im sechzehnten Jahrhundert, Berlin 1878, den
Leistungen der ältesten Lautenisten selbständige Studien gewidmet; seine
Beurteilung nimmt aber mehrfach den modernen Geschmack, nicht ganz die
historische Bedeutung zum Maßstab. Daß sie für den künstlerischen Genuß
unergiebig sind (S. 2.), nimmt ihnen nichts von ihrer. Wichtigkeit.
') Ein Newes sehr Kunstlichs Lautenbuch | darinnen etliche Preambel
I vnnd Welsche Tentz | . . . durch Haussen Gerle den Eiteren. Blatt A4*.
*) van der Straeten 2, 371.
*) Wasielewski S. 116 f. Fischart, Kurz 3, 9.
•) Wasielewski S. 4 ff. S. 11 flf. Monatshefte für Musik- Geschichte
19, 4 ff., Böhme, Geschichte des Tanzes 1, 288 ff. Hertz, Spielmanns-
buch S. 40 flf.
^) Jäger in der Festschrift, dargeboten den Mitgliedern und Teil-
46
mußte noch mehr als sein städtischer Kollege Dichtung und
Musik verbindeD. Am Hofe Albrecht II. von Niederbayern-Straubing
erscheint ein Singer der zugleich Lautenist war').
Weit über Nürnbergs Grenzen reicht der Ruhm seiner Orgel-
kunst. Der Erfinder der deutschen Lautentabulatur ^) und Ver-
fasser des ersten deutschen Orgelbuclies, ein blinder Nürnberger
Bürger, Organist an St. Sebald, wird von Kaiser Friedrich, den
Herzögen von Mantua und Ferrara ausgezeichnet, zum Ritter
geschlagen und von Albrecht III. nach München gezogen, wo er
starb und am 24. Januar 1473 beigesetzt wurde ^). und dieser
Mann, dessen Lebenszeit fast ganz mit der Rosenplüts zusammen-
fällt, stand dem Dichter nahe. Er widmet dem Musiker in
seinem Lobsprucli auf Nürnberg begeisterte Anerkennung^):
Noch ist ein meister in discm geticht,
Derselb hat mangel an seinem gesicht;
Der heißt Conrat Pawman.
Dem hat got sollich gnad getan,
Das er ein meister ob allen meistern ist.
Der tregt in seiner sinnen list
Die musica mit irn sUessen dönn.
Solt man durch kunst ein meister krönn,
Er trüg wol auf von goldc ein krön.
Mit contratenor, mit faberdon,
Mit primitonus tenorirt er.
Auf e la mi so sincopirt er,
Mit resonanzen in acutis.
Ein^) traurig herz wirt freies mutes,
nehmern der 65. Versammlung der Gesellschaft deutscher Naturforscher und
Ärzte vom Stadtmagistrate Nürnberg. 1892. S. 553.
*) Helttampts Rechnungsbuch 69b.
') Ansätze bei den Arabern. Land, Recherches S. 69. Körte S. 73 flf.
3) Chrysanders Jahrbücher für musikalische Wissenschaft 2, 70 fiF.
Sandbergcr, Beiträge zur Geschichte der bayerischen Hofkapelle unter
Orlando di Lasso (Leipzig 1899) I, 10 ff. über die Familie Baumann: Vicrtel-
jahrsschrift für Musikwissenschaft 10, 251 ff. Wasielewski wird S. 15
seiner Bedeutung wohl nicht ganz gerecht. Seine Grabinschrift haben
Tappert in den Monatsheften für Musik- Geschichte 18, 110 f. und Sandberger
S. 10 berichtigt. Ein Gypsabguß des Denkmals ist den Besuchern des
Germanischen Museums bekannt.
*) Die Stelle ist bei Lochner, dem Arnold folgt, sehr verdorben, in
D ohne Schwierigkeit; deshalb nach D 99 f. noch einmal zitiert.
^) Hs. Er.
47
Wen er aus octaf discantirt,
Und ^) quint und ut zusammen resonirt,
Und mit proporzen in gravibus.
Respons, antiffen, introituSi
Impnus, Sequenz und responsoria,
Da» tregt er als in seiner memoria'),
Ad placitum oder gesatzt.
Und was für musica wird geschätzt,
In kores cantum das kan er außen.
Rundel, muteten kan er fluckmaußen ^).
Sein haubt ist ein sollich gradual
In gemessen cantum mit solcher zai,
Das es got selbs hat genotirt darein.
Wo mocht dann ein weisrer^) meister gesein?
Mag Bosenplüt seine musikalische Bildung direkt dem
Baumann danken, wie Boethe vermutet, oder andern Musikern,
jedenfalls stand er rege teilnehmend in dem Musikleben seiner
Vaterstadt, so daß er mit vollem Verständnis unter tausend andren
einen musikalischen Begriff wie Preambel in sein Gedicht von
der fruchtbaren Frau übernehmen konnte. Fragen wir nun, was
das Priamel war, so geben die primitiven Anfänge der Instrumental-
musik Aufschluß, die sich, teils an die Vokalmusik anknüpfend,
teils von ihr unabhängig mit ziemlicher Deutlichkeit vor unseren
Augen entwickeln.
Bochus von Liliencron hat dem Auftreten selbständiger
Musik in Deutschland eine besondere Abhandlung gewidmet, die,
abgesehen von dem Verhältnis zum Lied, mehr negative Besultate
lieferte. „Es ist nun so schwer sich aus dem, was wir über die
Musik bis zum fünfzehnten Jahrhundert wissen, einen Begriff
von solchem Musizieren der Spielleute zu machen, daß dies der
Geschichte der Musik in der Tat bisher überhaupt noch nicht
gelungen ist**^). Und in seiner neuesten Behandlung des Themas^)
ist das Ergebnis: „Eine selbständige Form für Instrumentalmusik
») Fehlt in der H. Lochner 272.
^) Sandberger deutet S. 13 diese Stelle auf die Kunst des Extem-
porierens.
3) Schmeller, B WP 787. Wochen (Herrigs Archiv 99, 20) 184.
*) Hs. weiser.
5) Münchener Sitzungsberichte 1873 S. 664. Zeitschrift für vergl.
Literaturgeschichte. N. F. 1, 129. 131.
•) Pauls Grundriß II 2, 322 (HP 550).
48
gab es, vom Tanz abgesehen, noch nicht. Auch was man auf
der Orgel und der als Virtuoseninstrument beliebten Laute spielte,
waren übertragene Oesangsmusiken ^), nur nach Beschaffenheit des
Instrumentes eingerichtet und verziert."
Dagegen hat Schönbach ^) schon für das zwölfte Jahrhundert
Frankreich Tonstücke ohne Texte, also Instrumentalmusik, zu-
geschrieben, indem er sich auf Oröber^j beruft. Aber zunächst
ist das beweisende Zitat irrig, und was alsdann Gröber^) daiüber
sagt, beweist noch nicht die Existenz von wirklichen Tonstücken,
Er meint: „Tonstücke ohne Text bestanden in der Tat; z. B. da,
wo Instrumente beim Tanz gebraucht wurden, die, eintönig wie
die Trommel, die bei den seit der ersten Hälfte des dreizehnten
Jahrhunderts bezeugten öffentlichen sonntaglichen Tanzbelusti-
gungen verwendet wurde, nur den Takt anzugeben dienten.^
Solche Musik fehlte, wie selbst bei Naturvölkern^), auch in
Deutschland nicht. Im allgemeinen wird Instrumentalmusik doch
beträchtlich älter sein, als man gewöhnlich annimmt. Auf alt-
indische Lautenkompositionen und ihren Zusammenhang mit der
Zigeunermusik hat nachdrücklich Paul Bunge hingewiesen^).
Bei der von Böhme für die nordische Vorzeit angenommenen
selbständigen Instrumentalmusik käme es darauf an zu untersuchen,
welcher Art sie gewesen^). Genauere Untersuchungen fehlen
auch über die unzweifelhaft bei den Kelten^) vorhandenen An-
sätze zu Folyphonie^) und Instrumentalmusik. Für Deutschland
^) Was für das Priamel nicht zutrifft. Loewenfeld, Kleber S. 42.
') Die Anfänge des deutschen Minnesanges S. 116.
3) Grundriß der romanischen Philologie II 1, 664.
*) S. 660.
^) Böhme, Geschichte des Tanzes 1, 245. Bücher, Arbeit und
Ehythmus« S. 42ff. 251 ff.
^) Die Notation des Somanätha in Eitnors Monatsheften 36, 56 ff. Wie
im Mittelalter ist weltliche Musik Instrumental-, geistliche Vokalmusik. S. 58.
7) Geschichte des Tanzes 1, 12. Für das Mittelalter 1, 28. 248.
8) Lavoix a. a. 0. S. 284. Hertz, Spielmannsbuch S. 45. Walter,
Das alte Wales S. 290 erwähnt als bardische Musikübung ein Präludium,
gosteg. Für Frankreich: Restori bei Petit de Julleville, Histoire de
la langue et de la litterature Fran^aise 1, 403.
^) W. Meyer, Der Ursprung des Motetts. Nachrichten der Gottinger
Gesellschaft der Wissenschaften 1898, S. 113 ff. Biemann, Geschichte der
Musiktheorie. Leipzig 1898. S. IX und passim. Wallaschek, Anfänge
49
siud durch die Verdienste von Koller, Bieniann und Runge
instrumentale Einlagen im Minnesang, Vor- und Nachspiele beim
Mönch von Salzburg, bei Oswald von Wolkenstein erwiesen *). Auch
die poetische Ausmalung Gottfrieds (Tristan 3545 ff.) zeugt wie
einige Stellen der Minnesänger^) von solcher Eunstübung. Das
Ende de« vierzehnten Jahrhunderts hat, so eng sie sonst zusammen-
hängen, die Scheidung von Vokal- und Instrumentalmusik voll-
zogen. Der fruchtbarste französische Dichter des Jahrhunderts
schrieb eine vom Jahre 1392 datierte Poetik, Lart de dictier, in
der er zwei Arten von Musik unterscheidet, eine künstliche und
eine natürliche ^). Wenn sich nun auch diese Begriffe bei Deschamps
nicht so sehr mit heutiger Instrumental- und Vokalmusik als mit
musikalischer Komposition und unkomponierter Poesie decken,
und die vorgetragenen Kriterien der Unterscheidung sich gegen-
seitig nicht immer ausschließen, so redet er doch deutlich genug
von ihrer Verbindung und Trennung*). Die natürliche und die
künstliche Musik sind so nahe mit einander verwandt, daß man
von einer Ehe sprechen kann, in der sie leben müssen. Trotzdem
hört man jede für sich. Der natürlichen Musik kann einsame
Lektüre oder Vortrag eines Rezitators gelten; und die andere
Musik kann auch der Worte entbehren: ,et se puot l'une chantcr
par voix et par art, sanz parole'*).
Wie sich die Entwicklung vollzog, zeigen die ersten Denk-
mäler deutscher InstiTimentalmusik, das Bux heimer Orgelbuch
und der Anhang des Lochheimer Liederbuchs. Die Ent-
wicklung der Instrumentalmusik nimmt nicht nur von der Vokal-
musik und vom Tanze, sondern auch von dem- Vorspiel des Ge-
der Tonkunst. Leipzig 1903. S. 156 ff. Davey, History of English music
S. 74 ff. Saran, Der Rhythmus des französischen Verses. Halle 1904. S. 47 ff.
Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 35, 291.
1) Eitners Monatshefte 35, 84.
3) Der Unverzagte HMS 3, 44a, i. Meißner 3, 99b, 1. Roethe,
Reinmar von Zweter S. 189.
^) Societe des anciens textes fran^ais: Oeuvres completes d^Eustache
Deschamps 7, 269 ff. Hoepffner, Eustache Deschamps. Straßburg 1904.
S. 126. Raynaud, Oeuvres 11, 155 f. Im allgemeinen Thode, Michelangelo
2, 47 ff.
*) 7, 271 f.
*) 7, 272.
Ealing, Priamel 4
50
sanges ihren Ausgang. Schon der breix)nische Spielmann macht
als Präludium für den Gesang aufsteigende Läufe (prent sun
amunter), zum Nachspiel wiederholt er auf der Harfe die gesungene
Melodie ^). Allmählich hat sich die nur begleitende Instrumental-
musik vom Gesänge los gemacht, indem sie entweder vorher
improvisierte ^) oder Gesangssätze paraphrasierte. Diese Pamphrasen
gelten als vornehmere Erzeugnisse und scheinen früher der Auf-
zeichnung würdig; jene, die Präambula, schrieb man zunächst
noch lange nicht auf^). Ob diese Improvisationen auf der Orgel
oder auf der Laute gespielt wurden, machte dabei im allgemeinen
keinen unterschied. Es waren im wesentlichen die gleichen
Kompositionen, nur in verschiedener Ausführung, die von der Technik
des Instrumentes gefordert waren*). Für Orgel besitzen wir
schon Präambula im Buxheimer Orgelbuch, mehrere von un-
genannten Komponisten in Paumanns Fundamentbuch ^) und
zahlreiche der Folgezeit^).
,Die Königin der Instrumente', die Laute verbreitete diese
anspruchslose Gattung noch wirksamer. Seitdem Paumann die
Lautentabulaturschrift erfunden, werden sie aufgezeichnet und
bilden, je nach ihrer Bestimmung modifiziert^) fast zwei Jahr-
^) Hertz, Spielmannsbuch S. 45. Bibliotheque Fran^aise du Moyen-
äge II. Recueil des motets fran^ais des Xlle et Xllle siecles p. p. Gas ton
Raynaud, sums d'une etude sur la musique au siecle de Saint Louis par
Henry Lavoix Fils 2, 303.
') Vierteljahrsschrift für Musikwissenschaft 5, 84. Wasielewski
S. 93. Ambros 3, 35 f. Davey, History of English music S. 74: „Before
1400 . . . nearly all harmonising had been extempore, and only quite casually
was any work ever written down at all."
3) Ambros 3, 425. Anders Loewenfeld, Kleber S. 42.
*) Ambros 3, 430. Wasielewski S. 102 f.
5) Chrysanders Jahrbücher 2, 223 f. Ambros 3, 437.
ß) Vierteljahrsschrift 5. 64. 97. Wasielewski, Geschichte der In-
strumentalmusik, Beilagen, S. 4. 5. 12 — 17. Ritter, zur Geschichte des Orgel-
spiels II 98. Nr. 60. 118. Nr. 76. 77. 164. Nr. 98. 171. Nr. 102. Einund-
dreißig Preambel sind in Hans Gerles Neuem Lautenbuch von 1552 ent-
halten, meist italienischer Komponisten. 32 hat Eitner aus dem Buxheimer
und Klebers Orgelbuch veröffentlicht, leider nicht die Nr. 240 — 246;
Nr. 205—210 fehlen im Inhaltsverzeichnis, S. 16, darunter zwei Praeambula.
Auch Körte hat im Anhang seiner Monographie Preambel mitgeteilt.
^) Oskar Fleischer in der Vierteljahrsschrift 2, 97.
51
hunderte den eisernen Bestand der Lautenbücher. Als älteste
kommen hier, wenn man von den schon 1507 und 1508 in
Venedig gedruckten Lautenbüchem von Ottaviano dei Pettrucci*)
absieht, die Priamel Judenkünigs in Betracht. Sie können als
Ersatz für Paumanns nicht erhaltene Lauten-Kompositionen dienen.
Wenn Judenkünig nach der gleichzeitigen, schon von Ambros
mitgeteilten Eintragung im Jahre 1526^) senex admodum, also
doch wohl mindestens achtzig Jahre alt, gestorben ist, muß er
geboren sein, als Paumann undßosenplüt berühmt zu werden
begannen; ihre Blüte fällt mit seiner Jugend zusammen. Er
erwähnt auch als Erlebnis die Erfindung der Tabulatur, freilich
nicht Paumanns Namen; doch schon Wasielewski hat Juden-
künigs Mitteilung unbedenklich auf Paumann bezogen^). So
wird Judenkünig neben der Musik-Handschrift 3725 der Kgl. Hof-
und Staatsbibliothek in München und Paumanns Orgelbuch zum
ältesten und wichtigsten Zeugen liir das Priamel.
Hans Judenkünig^) stammte aus Schwäbisch Gmünd und
starb in Wien; vielleicht ein Israelit wie der Besitzer des
Lochheimer Liederbuches^). Seine heut überaus kostbaren
Bücher, welche die K. K. Hof bibliothek zu Wien besitzt, sind
jetzt zu einem Band vereinigt^). Das erste Büchlein gehörte
früher der K. K. Lyceal- Bibliothek in Linz. Es ist eine ütilis
et compendiaria ^) introductio, qua ut fundamento iacto quam
faciliime musicum exercitium instrumentorum et Lutine et quod
vulgo Geygen nominant, addiscitur labore studio et impensis
*) Sie erregten Lessings Aufmerksamkeit. Muncker 15, 338 f.
Oscar Chilesotti, Lautenspieler des sechzehnten Jahrhunderts. Liutisti
del Cinquecento. Ein Beitrag zur Kenntnis des Ursprungs der modernen
Tonkunst. Leipzig 1891 kennt als ältesten Lautenisten nur Neusiedler.
^) Man liest heute etwa: Obiit Viennae relictis uxore et filia vnica supcr-
stitibus mense Martio Anni 1526 senex admodum. Aber der Rand ist stark
beschnitten und mehrere Buchstaben zerstört.
^ Blatt 8b der neuen Paginierung: Es ist menigclich wissen, das in
kürtzen jaren bey manß gedcchtnüß erfunden worden ist die Tabalatur auff
die Lautten. Wasielewski S. 36 f.
*) Über den Namen Hertz, Spielmannsbuch S. 338, 206.
^) Über Beteiligung der Juden an der Kunst Germ. Abh. 18, 103.
6) K. K. Hof bibliothek Wien. SA. 75. F. 67.
^ Körte will S. 6 ^compendiata" gelesen haben.
4*
52
Joannis Judenkunig de Schbebischen Gmundt in communcm
omnium usum et utilitatem typis excudendum primum exhibitum.
Yiennae Austriae. Nun folgt eine lateinische eigne Einleitung
über den Nntzen der Musik, wie in vielen Lautenbüchern des
sechzehnten Jahrhunderts, und über den Nutzen des Büchleins
für Autodidakten, alles in gewähltem Stil, mit gelehrten Zitaten
gespickt. Den Inhalt bilden die Harmonie super odis Horatianis
secundum omnia Horatii genera, etiam doctis auribus haudquaquam
aspernandae, sowie Liederbearbeitungen und Hoffdäntze. Das
angeschlossene deutsche Lautenbuch heißt: Ain schon kunstlich
vnderweisnng in disem büechlein, leychtlich zu begreyffen den
rechten grund zu lernen auf der Lautten und geygen mit vleiß
gemacht durch Hans Judenkunig, pirtig von Schwebischen Gmünd
Lutenist, yetzt zu Wienn in Osterreich. Er hat jenem Buche
fünf Priamel einverleibt, die schon nicht mehr den primitiven
Charakter der alten Orgelpriamel des fünfzehnten Jahrhunderts
tragen, sondern ctüdenhafte Schwierigkeit besitzen. Er sagt
darüber ausdrücklich^): Auch welicher vor ain vebung hat auff
der Lautten von jm selber ainer pessernn applicatz gewondt hat,
denen hab ich, auß jeder hanndt ain pryamel gesatzt, das er
die fynger, in ainen gueten geprauch bring, dardurch er fertig
müg werden, durch den gantzen kragen auß. ^ ünd^): „Es kumbt
gar selten des ain stuck mit dreyen stymen aus ayner hand
alain geschlagen wierdt, du müst zu zeiten ruckhen in die andern
hend, darumb hab ich auß yeder hand ayn pryamel gesetzt, das du
des gantzen lawttenhals bericht werdest.^ Wasielewski beurteilt
sie so: ^Diese letzteren (die Priamel), originale Instrumentalsätze
Judenkünigs, geben vor allen andern Musikstücken Aufschluß über das
Gestaltungsvermögen des Verfassers, der sich nicht wie Dalza
damit begnügt, ebenso einfache als unbedeutende Tonfolgen nieder-
zuschreiben, sondern bemüht ist, seine Arbeiten durch den Versuch
einer contrapunktischen Gestaltungsweise gehaltvoller zu machen ^),^
Den Beschluß macht im Wiener Exemplar^): „Item das ander
») Blatt 9 a.
9) Blatt 23.
^) Geschichte der Instrumentalmusik S. 111.
*) Blatt 47.
53
puechlein zuaernemen, darinnen du vnderrichtt wierdest, den gesang
zu versteen was eyn yedliche noten oder pawß bedeüt." »Vnd
wann ich vemym,^ sagt der unermüdliche Autor ^), „das disses
büechlein angenem ynd lieb gehalten wirdt, so will ich bald ain
größers auslassen geen, das künstlicher vnd scherpffer wirdt sein,
für die, die vor ain vebung haben auff der Lautten*)."
Der Name der Priamel-Kompositionen lautet in der Hand-
schrift des Bnxheimer Orgelbuches^ Preambulum^), in Pau-
manns Orgelbuch Praeambülum^), bei Judenkünig stets ,das
PriameP, bei Kleber Preambalum, Preambulum oder Pream-
balon^), bei Kotter Präambel (Präludium, Anabole, Fantasie)^), bei
Hans Oerle Preambul oder Preambel^), in der Musica Teusch von
1532 und in der Musica vnd Tabulatur 1546: Priambel^), in
der Musica Teusch vom Jahre 1537: Preambel*®), bei Newsidler
Preambel oder Preamel^^), in dem handschriftlichen Lautenbuch
1) Blatt 56.
*) Vollendet vnd getrückht zu Wienn yn Osterreich darch Hans Singrycner
im 1523. Jar. S. jetzt Sammelbände der Int. Mus.-Ges. 6, 237 ff.
') Bnxheimer Orgelbuch als Beilage zu den Monatsheften für Musik-
Geschichte Jg. 19 f. Musikhandschrift 3725 der Kgl. Hof- und Staatsbiblio-
thek zu München.
^) Eitner S. 78. 85 ff. Zwei Bezeichnungen Eitners sind auszu-
scheiden: Praeambelum (Nr. 112, EitnerS. 13) und Preamblin (Eitner
S. 86); beides verlesen aus: Pamblm, das heißt ,Praeambulum.' Zu Eitner
S. 16—18 und S. 85 ff. ist zu bemerken, daß auch Nr. 206, 210, 216, 224,
235, 240, 241 als Preambulum, Nr. 242 — 46 gar nicht bezeichnet sind. Eitners
Lesung (S. 4) „Cartusianoner in Buxheim'^ lautet natürlich „Cartusianorum
in B.«
«) Chrysanders Jahrbücher 2, 223 f.
^ Eitner im Anhang zum Bnxheimer Orgelbuch a. a. 0. S. 96 ff.
Yierteljahrsschrift für Musikwissenschaft 5, 64. Loewenfeld S. 73 ff.
') Vierteljahrsschrift 7, 288 ff.
») Ambros 3, 428. Wasielewski S. 46, 1.
9) Mnilb. Linb. Wasielewski S. 111, 1.
»o)A«. A4a. A4b. A5b. A6a. A6b. B.
") ,Ein Newgeordnet Künstlich Lautenbuch . . . durch mich Hansen
Newsidler Lutinisten und Bürger zu Nürnberg, offenlich außgangen.'
Am Ende des 2. Teils: ,Getruckt beym Petreio, durch Verlegung Hansen
Newsidlers Lutinisten. Anno 1536S Teil 1 Bl. sllla: „hie folgen etlich
Preameln,^ slllb: „Preambel'', ebenso s Ulla; sllllb: „Preamel''; xllla:
„Ein gut Preambel,^ Im Register des 1. Teils: „Preambel viererlej. Ein
44
goldene Zeitalter des InstrumenteDspiels^ mit seiDen primitiven
Anforderungen ermöglichte ja eine später nie wieder erreichte
Vielseitigkeit der musikalischen Praxis. Ohne Mühe konnten die
Musiker sich noch zu Virdungs Zeit „einer mannigfaltigen Tätig-
keit widmen, und wenn es jemand so weit gebracht hatte, das
Clavicordium, die Laute und die Flöte zu spielen, so war er
imstande, mit Leichtigkeit ziemlich alle Instrumente in den Ue-
reich seines Könnens zu ziehen^ ^).
Es kann nicht wundernehmen, wenn auch ein ungelehrter *^)
Handwerksmeister in Nürnberg zu solchen Kenntnissen gelangt;
die Haus- und Orchestermusik jener Zeit war durchgängig aus-
gesprochen dilettantenhaft, und die Leistungen werden fast immer,
wenn auch nicht ganz mit Becht, als überaus gering angeschlagen.
Nürnberg ist auch in gewissem Sinne die Wiege der deutschen
Instrumentalmusik, zu deren Anfängen das Priamel gehört.
Die Ausbildung selbständiger Instrumentalmusik knüpft
sich an Orgel- und Lautenkunst, beide gerade in Nürnberg hoch
entwickelt. Nürnberg ist bereits im fünfzehnten Jahrhundert die
Hauptbezugsquelle für Instrumente aller Art^). Nürnberg hat
seinen ältesten Lautenisten Heintz Holt (1413)^) und im fünf-
zehnten und sechzehnten Jahrhundert eine ganze Beihe hervor-
*) Wasielewski, Geschichte der Instrumentalmusik S. 98.
') Man darf nur nicht unterschätzen, was auch die sog. volkstümliche
Kultur an gelehrten Bildungselementen enthielt. Der Gegensatz der Be-
griffe volkstümlich und gelehrt ist Ergebnis der Abstraktion.
*) Hans Loewenfeld, Leonhard Kleber S. 32. Jetzt findet man
vieles bequem zusammen in Oswald Kört es Buch über Laute und Lauten-
musik bis zur Mitte des sechzehnten Jahrhunderts. Publikationen der Inter-
nationalen Musik-Gesellschaft. Beihefte IIL Leipzig 1901. Leider ist sein
Interesse mehr auf das sechzehnte als auf das vorangehende Jahrhundort
gerichtet. Dazu kommt die Publikation der spanischen Lautenmeister des
sechzehnten Jahrhunderts von Morphy und Gev|aert. Leipzig 1902. Die
Bibliographie ist allerdings lückenhaft: z. B. fehlen Judenkünig und Gerlc.
*) Ambros 3, 427. Wenn Rcuß in Mones Anzeiger 1854, 271 einen
Heinricus cytharcda 1202 in Würzburg nachweist, so wird das wohl ein
Harfenspieler gewesen sein. W^ackernagcl, Geschichte der deutschen
Literatur P 9, 20. Deutsche Lautenisten des vierzehnten Jahrhunderts:
Beneke, Von unehrlichen Leuten (2. Aufl.), S. 41 (1385). Germ. Abh. 1,8,
122 (1390). In den Niederlanden: van der Straeten, La musique aux Pays-
Bas 2, 368 (1363). In Frankreich: Bivista musicale Italiana 5, 643 (1396).
45
ragender Künstler dieser Art aufzuweisen, wie die berühmte
Familie Oerle. Conrad Oerle ist um die Mitte des fünfzehnten
auch im Ausland als Lautenmacher bekannt'). Hans öerle
und Hans Neusiedler sind dort im folgenden Jahrhundert die
Verfasser wiederholt aufgelegter Lautenbücher ^). In Nürnberg
gab es auch tüchtige Dilettanten; Hans Gerle der Ältere nennt
in der Widmung seines Neuen Lautenbuches von 1562 den Nürn-
berger Bürger Franz Ledercr einen fnrnembsten dieser Kunst^).
Bosenplüts genaue Bekanntschaft mit der Tabulatur kann auf
Vertrautheit mit dem Instrument beruhen, das dazumal jeder
klimperte^). Es war, wie heutzutage das Klavier, das Mode-
instrument der Dilettanten^). Wie die volksmäßige bürgerliche
Dichtung vielfach durch seßhaft werdende Fahrende Aoregung
empfing, so konnte auch deren musikalische Tätigkeit nicht ohne
Einfluß auf die Musikübung in den Städten bleiben. Die deutschen
Spielleute gewannen bekanntlich schon im dreizehnten Jahrhundert
städtische Organisation und verschmolzen immer mehr mit der
bürgerlichen Gesellschaft^). Der Stadtmusikant trat vielfach ihr
Erbe an und förderte die Verbreitung musikalischer Bildung in
den Städten. Auch in Nürnberg lag die Pflege der Instrumental-
musik zuerst in den Händen der Stadtpfeifer ^). Der Fahrende
') van der Straeten 2, 369. Ernst Gottlieb Baron, Historisch-
Theoretisch und Practische Untersuchung des Instruments der Lauten. Nürn-
berg 1727. S. 56: „1415 der Weltberühmte Lauten -Macher Lucas Mahler
gelobet« ; vgl. S. 92.
') Vierteljahrsschrift für Musikwissenschaft 7, 288 f. Monatshefte für
Musikgeschichte 18, 101 ff. Zuerst hat Wasielewski in seiner Geschichte
der Instrumentalmusik im sechzehnten Jahrhundert, Berlin 1878, den
Leistungen der ältesten Lautenisten selbständige Studien gewidmet; seine
Beurteilung nimmt aber mehrfach den modernen Geschmack, nicht ganz die
historische Bedeutung zum Maßstab. Daß sie für den künstlerischen Genuß
unergiebig sind (S. 2.), nimmt ihnen nichts von ihrer Wichtigkeit.
3) Ein Newes sehr Kunstlichs Lautenbuch | darinnen etliche Preambel
I vnnd Welsche Tentz | . . . durch Haussen Gerle den Eiteren. Blatt A4'.
*) van der Straeten 2, 371.
*) Wasielewski S. 116 f. Fischart, Kurz 3, 9.
•) Wasielewski S. 4 fF. S. 11 ff. Monatshefte für Musik- Geschichte
19, 4?., Böhme, Geschichte des Tanzes 1, 288 ff. Hertz, Spielmanns-
buch S. 40 ff.
^) Jäger in der Festschrift, dargeboten den Mitgliedern und Teil-
48
gab es, vom Tanz abgesehen, noch nicht. Auch was man auf
der Orgel und der als Virtuoseninstrument beliebten Laute spielte,
waren übertragene Gesangsmusiken ^), nur nach BeschaflFenheit des
Instrumentes eingerichtet und verziert.^
Dagegen hat Schönbach ^) schon für das zwölfte Jahrhundert
Prankreich Tonstücke ohne Texte, also Instrumentalmusik, zu-
geschrieben, indem er sich auf Gröber^) beruft. Aber zunächst
ist das beweisende Zitat irrig, und was alsdann Gröber^) daiüber
sagt, beweist noch nicht die Existenz von wirklichen Tonstücken,
Er meint: „Tonstücke ohne Text bestanden in der Tat; z. B. da,
wo Instrumente beim Tanz gebraucht wurden, die, eintönig wie
die Trommel, die bei den seit der ersten Hälfte des dreizehnten
Jahrhunderts bezeugten öffentlichen sonntaglichen Tanzbelusti-
gungen verwendet wurde, nur den Takt anzugeben dienten.^
Solche Musik fehlte, wie selbst bei Naturvölkern^), auch in
Deutschland nicht. Im allgemeinen wird Instrumentalmusik doch
beträchtlich älter sein, als man gewöhnlich annimmt. Auf alt-
indische Lautenkompositionen und ihren Zusammenhang mit der
Zigeunermusik hat nachdrücklich Paul Sunge hingewiesen^).
Bei der von Böhme für die nordische Vorzeit angenommenen
selbständigen Instrumentalmusik käme es darauf an zu untersuchen,
welcher Art sie gewesen^). Genauere Untersuchungen fehlen
auch über die unzweifelhaft bei den Kelten^) vorhandenen An-
sätze zu Polyphonie^) und Instrumentalmusik. Für Deutschland
') Was for das Priamel nicht zutrifft. Loewenfeld, Kleber S. 42.
*) Die Anfänge des deutschen Minnesanges S. 116.
^ Grundriß der romanischen Philologie II 1, 664.
*) 8. 660.
^) Böhme, Geschichte des Tanzes 1, 245. Bücher, Arbeit und
Rhythmus' S. 42 ff. 251 ff.
^) Die Notation des Somanätha in Eitncrs Monatsheften 36, 56 ff. Wie
im Mittelalter ist weltliche Musik Instrumental-, geistliche Vokalmusik. 8. 58.
^ Geschichte des Tanzes 1, 12. Für das Mittelalter 1, 28. 248.
^) Lavoix a. a. 0. 8.284. Hertz, 8pielmannsbuch 8. 45. Walter,
Das alte Wales 8. 290 erwähnt als bardische Musikübung ein Präludium,
gosteg. Für Frankreich: Restori bei Petit de Julleville, Histoire de
la langue et de la litteraturc Fran(;aise 1, 403.
*) W. Meyer, Der Ursprung des Motetts. Nachrichten der Göttinger
Gesellschaft der Wissenschaften 1898, 8. 113 ff. Riemann, Geschichte der
Musiktheorie. Leipzig 1898. 8. IX und passim. Wallaschek, Anf&nge
49
siud durch die Verdienste von Koller, Biemann und Bunge
instrumentale Einlagen im Minnesang, Vor- und Nachspiele beim
Mönch von Salzburg, bei Oswald von Wolkenstoin erwiesen ^). Auch
die poetische Ausmalung Gottfrieds (Tristan 3545 ff.) zeugt wie
einige Stellen der Minnesänger^) von solcher Kunstübung. Das
Ende de« vierzehnten Jahrhunderts hat, so eng sie sonst zusammen-
hängen, die Scheidung von Vokal- und Instrumentalmusik voll-
zogen. Der fruchtbarste französische Dichter des Jahrhunderts
schrieb eine vom Jahre 1392 datierte Poetik, Lart de dictier, in
der er zwei Arten von Musik unterscheidet, eine künstliche und
eine natürliche ^). Wenn sich nun auch diese Begriffe bei Deschamps
nicht so sehr mit heutiger Instrumental- und Vokalmusik als mit
musikalischer Komposition und unkomponierter Poesie decken,
und die vorgetragenen Kriterien der Unterscheidung sich gegen-
seitig nicht immer ausschließen, so redet er doch deutlich genug
von ihrer Verbindung und Trennung^). Die natürliche und die
künstliche Musik sind so nahe mit einander verwandt, daß man
von einer Ehe sprechen kann, in der sie leben müssen. Trotzdem
hört man jede für sich. Der natürlichen Musik kann einsame
Lektüre oder Vortrag eines Bezitators gelten; und die andere
Musik kann auch der Worte entbehren: ,et se puet Tune chantcr
par voix et par art, sanz parole**).
Wie sich die Entwicklung vollzog, zeigen die ersten Denk-
mäler deutscher Instrumentalmusik, das Buxheimer Orgelbuch
und der Anhang des Lochheimer Liederbuchs. Die Ent-
wicklung der Instrumentalmusik nimmt nicht nur von der Vokal-
musik und vom Tanze, sondern auch von dem- Vorspiel des Oe-
der Tonkunst. Leipzig 1903. S. 156 ff. Davey, History of English music
S. 74 ff. Saran, Der Rhythmus des französischen Verses. Halle 1904. S. 47 ff.
Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 35, 291.
0 Eitners Monatshefte 35, 84.
8) Der Unverzagte HMS 3, 44a, 1. Meißner 3, 99b, 1. Roethe,
Reinmar von Zweter S. 189.
^) Societe des anciens textes fran^ais: Oeuvres completes d'Eustache
Deschamps 7, 269 ff. Hoepffner, Eustache Deschamps. Straßburg 1904.
S. 126. Raynaud, Oeuvres 11, 155 f. Im allgemeinen Thode, Michelangelo
2, 47 ff.
*) 7, 271 f.
*) 7, 272.
Enling, Priamel 4
50
ganges ihren Ausgang. Schon der bretonische Spielmann macht
als Präindium für den Oesang anfsteigende Läufe (prent sun
amnnter); zum Nachspiel wiederholt er auf der Harfe die gesungene
Melodie ^). Allmählich hat sich die nur begleitende Instrumental-
musik vom Gesänge los gemacht, indem sie entweder vorher
improvisierte ') oder Gesangssätze paraphrasierte. Diese Pamphrasen
gelten als vornehmere Erzeugnisse und scheinen früher der Auf-
zeichnung würdig; jene, die Präambula, schrieb man zunächst
noch lange nicht auf^). Ob diese Improvisationen auf der Orgel
oder auf der Laute gespielt wurden, machte dabei im allgemeinen
keinen Unterschied. Es waren im wesentlichen die gleichen
Kompositionen, nur in verschiedener Ausführung, die von der Technik
des Instrumentes gefordert waren ^). Für Orgel besitzen wir
schon Präambula im Buxheimer Orgelbuch, mehrere von un-
genannten Komponisten in Paumanns Fundamentbuch ^) und
zahlreiche der Folgezeit^).
,Die Königin der Instrumente^ die Laute verbreitete diese
anspruchslose Gattung noch wirksamer. Seitdem Paumann die
Lautentabulaturschrift erfunden, werden sie aufgezeichnet und
bilden, je nach ihrer Bestimmung modifiziert^) fast zwei Jahr-
') Hertz, Spielmannsbuch S. 45. Bibliotheqne Fran<;aise da Moyeii'
agü IL Kücueil des motets fran^ais des Xlle et XIII^ siecles p. p. Gas ton
Raynaud, snivis d'une etudo sur la mnsique au siecle de Saint Louis par
Henry Lavoix Fils 2, 303.
*) Yicrteljahrsschrift für Musikwissenschaft 5, 84. Wasielewski
S. 93. Ambro 8 3, 35 f. Davey, History of English music S. 74: „Before
1400 . . . nearly all harmonising had been extempore, and only quite casuaHy
was any work ever written down at all."
^) Ambros 3, 425. Anders Loewenfeld, Kleber S. 42.
*) Ambros 3, 430. Wasielewski S. 102 f.
*) Chrysanders Jahrbücher 2, 223 f. Ambros 3, 437.
^) Vierteljahrsschrift 5, 64. 97. Wasielewski, Geschichte der In-
strumentalmusik, Beüagcn, S. 4. 5. 12 — 17. Ritter, zur Geschichte des Orgel-
Spiels II 98. Nr. 60. 118. Nr. 76. 77. 104. Nr. 98. 171. Nr. 102. Einund-
droißig Preambel sind in Hans Gerles Neuem Lautenbuch von 1552 ent-
halten, meist italienischer Komponisten. 32 hat Eitner aus dem Buxheimer
und Klebers Orgclbuch veröffentlicht, leider nicht die Nr. 240 — 246;
Nr. 205—210 fehlen im Inhaltsverzeichnis, S. 16, darunter zwei Praeambula.
Auch Kort e hat im Anhang seiner Monographie Preambel mitgeteilt.
V Oskar Fleischer in der Vierteljahrsschrift 2, 97.
51
hunderte den eisernen Bestand der Lautenbücber. Als älteste
kommen hier, wenn man von den schon 1507 und 1508 in
Venedig gedruckten Lautenbüchem von Ottaviano dei Pettrucci*)
absieht, die Priamel Judenkünigs in Betracht. Sie können als
Ersatz für Paumanns nicht erhaltene Lauten-Kompositionen dienen.
Wenn Judenkünig nach der gleichzeitigen, schon von Ambros
mitgeteilten Eintragung im Jahre 1526^) senex admodum, also
doch wohl mindestens achtzig Jahre alt, gestorben ist, muß er
geboren sein, als Paumann undBosenplüt berühmt zu werden
begannen; ihre Blüte fällt mit seiner Jugend zusammen. Er
erwähnt auch als Erlebnis die Erfindung der Tabulatur, freilich
nicht Paumanns Namen; doch schon Wasielewski hat Juden-
künigs Mitteilung unbedenklich auf Paumann bezogen^). So
wird Judenkünig neben der Musik-Handschrift 3725 der Kgl. Hof-
und Staatsbibliothek in München und Paumanns Orgelbuch zum
ältesten und wichtigsten Zeugen für das Priamel.
Hans Judenkünig^) stammte ans Schwäbisch Gmünd und
starb in Wien; vielleicht ein Israelit wie der Besitzer des
Loch heimer Liederbuches^). Seine heut überaus kostbaren
Bücher, welche die E. E. Hof bibliothek zu Wien besitzt, sind
jetzt zu einem Band vereinigt^). Das erste Büchlein gehörte
früher der E. E. Lyceal- Bibliothek in Linz. Es ist eine ütilis
et compendiaria ^) introductio, qua ut fundamento iacto quam
facillime musicum exercitium instrumentorum et Lutine et quod
vulgo Oeygen nominant, addiscitur labore studio et impensis
^) Sie erregten Lessings Aufmerksamkeit. Muncker 15, 338 f.
Oscar Chilesotti, Lautenspieler des sechzehnten Jahrhunderts. Liutisti
del Cinquecento. Ein Beitrag zur Kenntnis des Ursprungs der modernen
Tonkunst. Leipzig 1891 kennt als ältesten Lautenisten nur Neusiedler.
2) Man liest heute etwa: Obiit Viennae relictis uxore et filia vnica super-
stitibus mense Martio Anni 1526 senex admodum. Aber der Rand ist stark
beschnitten und mehrere Buchstaben zerstört.
3) Blatt 8b der neuen Paginierung: Es ist menigclich wissen, das in
kürtzen jaren bey manß gedcchtnüß erfunden worden ist die Tabalatur auff
die Lautten. Wasielewski S. 36 f.
*) über den Namen Hertz, Spielmannsbuch S. 338, 206.
^) über Beteiligung der Juden an der Kunst Germ. Abb. 18, 103.
6) K. K. Hof bibliothek Wien. SA. 75. F. 67.
^ Körte will S. 6 „compcndiata" gelesen haben.
4*
52
fV^uoi^ ./iV>dk«kttoig de Sehbebischen Gmandt in communcm
v^Uauvww i^mß ^ ntilitatem typis excadenduni primum exhibitum.
V,4ivUi^«^ A*i4fiM, Nun folgt eine lateinische eigne Einleitung
VA'<^ 4^ Huizm der Mosik, wie in vielen Lautenbüchern des
6^l/^ili«i)U« ifltirbtiulderts, and über den Nutzen des Büchleins
}\^ ^^\/Ai4Mkim^ alles in gewähltem Stil, mit gelehrten Zitaten
^.v^t^J^it^ iMm Inhalt bilden die Harmonie super odis Horatianis
u/ •v.vJ \jm omuu Horatii genera, etiam doctis auribus haudquaquam
^.r^ytfi^jtsAii^^ fowie Liederbearbeitangen und HofTdäntze. Das
''i^K*^i^:ll//h^m deutsche Lautenbuch heißt: Ain schon kunstlich
> uc^,i v^^oog in disem büechlein, leychtlich zu bcgreyffen den
rftxirUi» ^mind zu lernen auf der Lautten und geygen mit vleiß
^xMiAU^M durch Hans Judenkünig, pirtig von Schwebischen Omfind
iA\i*>^jU% yet2t zu Wienn in Osterreich. Er hat jenem Buche
1v..!jf Frumel einverleibt, die schon nicht mehr den primitiven
^:l.kitiikier der alten Orgelpriamel des fünfzehnten Jahrhunderts
U'4i^^Uf sondern elüdenhafte Schwierigkeit besitzen. Er sagt
^«rti.U;r ausdrücklich^): Auch welicher vor ain vebung hat auff
<l^r Lautten von jm selber ainer pessernn applicatz gewondt hat,
<>^fMrn hab ich, auß jeder hanndt ain pryamel gesatzt, das er
4i^ fynger, in ainen gueten geprauch bring, dardurch er fertig
Utüg werden, durch den gantzen kragen auß." Cnd^): „Es kumbt
^r selten des ain stuck mit dreyen stymen aus ayner hand
;tüiin geschlagen wierdt, du müst zu zeiten ruckhen in die andern
kend, darumb hab ich auß yeder hand ayn pryamel gesetzt, das du
des gantzen lawttenhals bericht werdest. " Wasielewski beurteilt
sie so: ^Diese letzteren (die Priamel), originale Instrumentalsätze
Judenkünigs, geben vor allen andern Musikstücken Aufschluß über das
Gestaltungsvermögen des Verfassers, der sich nicht wie Dalza
damit begnügt, ebenso einfache als unbedeutende Tonfolgen nieder-
zuschreiben, sondern bemüht ist, seine Arbeiten durch den Versuch
einer contrapunktischen Oestaltungswcise gehaltvoller zu machen ')."
Den Beschluß macht im Wiener Exemplar^): „Item das ander
') Blatt 9*.
9) Blatt 23.
^ Geschichte der Instrumentalmusik S. 111.
*) Blatt 47.
53
puechlein zuuernemen, darinnen du vnderrichtt wierdest, den gesang
zu versteen was eyn yedliche noten oder pawß bedeüt.^ »Vnd
wann ich vemym,*' sagt der unermüdliche Autor ^), „das disses
büechlein angenem ynd lieb gehalten wirdt, so will ich bald ain
größers auslassen geen, das künstlicher ynd scherpffer wirdt sein,
für die, die vor ain vebung haben auff der Lautten')."
Der Name der Priamel-Kompositionen lautet in der Hand-
schrift des Bnxheimer Orgelbuches^ Preambulum^), in Pau-
manns Orgelbuch Praeambülum ^) , bei Judenkünig stets ,das
PriameP, bei Kleber Preambalum, Preambulum oder Pream-
balon^), bei Kotter Präambel (Präludium, Anabole, Fantasie)'), bei
Hans Oerle Preambul oder PreambeP), in der Musica Teusch von
1532 und in der Musica vnd Tabulatur 1546: PriambeP), in
der Musica Teusch vom Jahre 1537: Preambel'®), bei Newsidler
Preambel oder Preamel^^), in dem handschriftlichen Lautenbuch
1) Blatt 56.
*) Vollendet vnd gctrückht zu Wienn yn Osterreich durch Hans Singryener
im 1523. Jar. S. jetzt Sammelbände der Int. Mus.-Ges. 6, 237 ff.
3) Buxheimer Orgelbuch als Beilage zu den Monatsheften für Musik-
Geschichte Jg. 19 f. Musikhandschrift 3725 der Kgl. Hof- und Staatsbiblio-
thek zu München.
*) Eitner S. 78. 85 ff. Zwei Bezeichnungen Eitners sind auszu-
scheiden: Praeambelum (Nr. 112, Eitner S. 13) und Preamblin (Eitner
S. 86); beides verlesen aus: Pamblm, das heißt ,Praeambulum.^ Zu Eitner
S. 16—18 und S. 85 ff. ist zu bemerken, daß auch Nr. 206, 210, 216, 224,
235, 240, 241 als Preambulum, Nr. 242 — 46 gar nicht bezeichnet sind. Eitners
Lesung (S. 4) „Cartusianoner in Buxheim'' lautet natürlich „Cartusianorum
in B.«
5) Chrysanders Jahrbücher 2, 223 f.
^) Eitner im Anhang zum Buxheimer Orgelbuch a. a. 0. S. 96 ff.
Vierteljahrsschrift für Musikwissenschaft 5, 64. Loewenfeld S. 73 ff.
7) Vierteljahrsschrift 7, 288 ff.
8) Ambros 3, 428. Wasielewski S. 46, 1.
9) MHIIb. Llllb. Wasielewski S. 111, 1.
«o)A8. A4a. A4b. A5b. A6a. A6b. B.
'^) ,Ein Newgeordnet Künstlich Lautenbuch . . . durch mich Hansen
Newsidler Lutinisten und Bürger zu Nürnberg, offenlich außgangen.'
Am Ende des 2. Teils: ,Getruckt beym Petreio, durch Verlegung Hansen
Newsidlers Lutinisten. Anno 1536^ Teil! Bl. sllla: „hie folgen etlich
Preameln," slllb: „Preambel", ebenso s Ulla; sllllb: „Preamel"; xllla:
„Ein ^t Preambel/ Im Register des 1. Teils: „Preambel viererley. Ein
54
der Kgl. Hof- und Staatsbibliothek zu München Ms. Mus. 1512:
PreambeP), in einem italienischen Lautenbuch daselbst Ms. Mus.
266: Priambolo ^J, in den handschriftlichen Münchener Orgelbüchern
Cod. 265 und 270 PraeambeP), in einer deutschen Laute ntabulatur
der Wiener Hofbibliothek Nr. 18688 neben Preambulum auch
Priambulum^j, bei Wolff Heckel: Preambulum^), in den Novae
Tabulae musicae testudinariae . . . Neu Lautenbuch . . . Durch
JuliumCaesaremBarbettumvonPadua. Straßburg, Jobin, 1582:
Prearabulo^), bei Philipp Hainbofer Praeambuli') („Preludi
Praeambuli Phantasiae" sind im Titel zusammengestellt), bei
Waisselius (Bartensteinensis) und Daniel Präambul (Praeam-
bulum)^). Man ging also nait Lautbestand, Flexion und Geschlecht
des Wprtes, wie in der Wolfenbütteler Handschrift FG^), nicht
gut Preambel." — Teil 2: Alllb Nr. 1: „Ein seer guter Organistischer
Prcambel." Aalb Nr. 41: „Hie volget ein sehr kunstreicher Preambel oder
Fantasey, darinn sind begriffen, vil mancherley art, von zwifachcn vnd dri-
fachen doppel laiffen, auch sincupationes, vnd vil schöner fugen." Ebenso
im Register: „Ein kunstreicher Preambel oder Fantasey." Vierteljahrs-
schrift 7,288. Wasielewski Beilage Nr. 6 und S. 113. Eine Auflage
von 1544 in der Hof- und Landesbibliothek zu Karlsruhe. Daselbst ,das
ander Buch' Job ins vom Jahre 1573 mit handschriftlichen Nachträgen.
1) Vierteljahrsschrift 7, 291. J. J. Maiers Catalogus Villi, 63.
^) Vierteljahrsschrift 7, 291. ,Priambolo de magistro Marco da Laguila'
Blatt 43 a.
3) Catalogus Vmi, 163.
*) Sechzehntes Jahrhundert. Tabulae codicum 10, 177. 178. Nr. 4, 14,
35, 36.
^) Discant. Lautten Buch von mancherley schönen vnd lieblichen stucken.
Straßburg 1550 S. 191.
^) primo bis scxto. Donaueschingen. Diese Komposition heißt noch
in einem dortigen handschriftlichen Lautenbuch von 1735 Preambulum, nicht
so in dem Lautenbuch viler New erleßner fleisiger schoener Lautenstück . . .
Durch Sixtum Kargel. Straßburg, Jobin 1586.
7) Vierteljahrsschrift 7, 292.
s) Tabulatura AUerley künstlicher Präambulen. Frankfurt a. d. 0.
1592. (Schlobitten.) Becker, Die Tonwerke dos sechzehnten und siebzehnten
Jahrhunderts. Leipzig 1847. Sp. 276. Daniel, Thesaurus Gratiarum, das
ist Schatzkästlein, darinnen allerhand Stücklein, Präambuln, Toccaden,
Fugen u. s. w. zur Lauten-Tabulatur gebracht. Hanaw 1625. Bei Becker 280.
9) Daß ,priamcllu8* aus ,priamel' enstanden ist, unterliegt wohl keinem
Zweifel.
55
sorgfältig um. Ähnlich sagt Judenkünig ,Tabalatur^ und Martin
Agricola gebraucht in seiner Musica instrumentalis deutsch^)
unter andern auch die Form ,Tabelthur/ Übrigens begegnete
Ambros^) mit dem Preambel das (selbst in seiner dritten Auf-
lage^) noch nicht berichtigte) Mißverständnis, eine Stelle des
guten Johann Leonbard Frisch Sebastian Brant zuzu«
schreiben und ins Narrenschiff zu versetzen. Andere haben ihm
das gläubig nachgeschrieben^).
In Italien sind solche Kompositionen als Intonazioni (Präludien)
die Vorläufer der Toccata*). Es läßt sich verfolgen wie der
volksnlSßige Modename Priamel allmählich veraltet und von ähn-
lichen abgelöst wird; es erscheinen gelehrtere, wie vor allem
Praeludium, Pr^lude, dann Fantasie, auTOfAata^), Bicercate, Bicercari^),
Capricci^), Intrade u. s. f. Als altmodische Beminiscenz wird
Praeambulum (Präambul) von J. £. Kindermann, Organisten in
Nürnberg (1616—1655), F. A. H. Murschhauger, Kapellmeister
in München (gest. 1737), und J. Christoph Bach (1643—1703)
festgehalten^). Aber auch noch Johann Sebastian Bach hatte
seine zweistimmigen Inventionen ursprünglich Praeambula genannt
und gebraucht das Wort sonst gelegentlich*®). Die Gattung
entwickelt sich dabei in immer kunstvollerer Durchbildung, es
differenzieren sich Unterabteilungen mit besonderer Bestimmung**);
endlich wird das neben dem Tanz älteste Instrumentalstück, wie
*) Publikation älterer Musikwerke herausgegeben von der Gesellschaft
für Musikforschung, Jahrgang 24, Band 20 S. 67. 69. Vgl. den Titel.
») 3, 520.
») S. 536.
*) z. B. Eümmerle, Encyklopädie der evangelischen Kirchenmusik
2, 717.
^) Ambro 8, 3, 520. Spanisch: Tientos. Englisch: Interludcs u. ä.
6) Ambro 8 3, 429.
^ Wasielewski S. 117.
») Ambros 4, 433.
9) Ritter 1 146, 158, 163. II 118, 164, 171. Commers Sammlungen
zeigen den alten Titel.
'^) Spitta II 665 ff. Schumanns Carnaval op. 9 beginnt mit einem
Freambule. Von dem Musiklehrer der Kaiserin Maria Theresia Georg
Christoph Wagenseil bewahrt die K. K. Ilofbibliothek zu Wien ein Heft
Praeambula. Tabulae codicum 10, 207. Nr. 18771.
») Vierteljahrsschrift 7, 97.
56
bei dem unsterblichen Johann Sebastian Bach mit der Fuge
verbunden und von Chopin und Liszt zur Höhe einer universalen *
Form emporgehoben.
Wir haben es hier nur mit dem Charakter des ältesten
Preambel zu tun. Man hat einen Unterschied zu machen zwischen
dem unselbständigeren Tonstück, das wirklich noch zum Gesang
überleitet, wie Nr. 30 des Paumann sehen Orgelbuches*), und
dem selbständigen in sich abgeschlossenen Preambel, wie Nr. 31
des Orgelbuchs, die Stücke des Buxheimer Orgelbuchs und
die fünf Priamel Judenkünigs^). Von Paumann selbst rühren
die letzten Stücke der Handschrift des Fundamentbuches nicht
her ; er wird es noch verschmäht haben, für diese kleinen Sachen
Literaturfähigkeit zu beanspruchen. Dennoch stammen sie mindestens
aus der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts^). Es ergibt sich
für das Preambel zunächst der Charakter eines selbständigen^)
Improvisationsstückes ohne literarische Ansprüche ^), kurz und ein-
fach, bald ungemein beliebt und verbreitet, abgeschrieben und
gedruckt. Regelmäßig wird nur ein musikalischer Hauptgedanke
*) Loewenfeld, Leonhard Kleber S. 63 macht auf die plagalcn
Schlüsse aufmerksam.
*) Vergleiche noch Prätorius, Syntagma III 1, 21. „Das 8. Capitel.
Von den Praeludiis vor sich selbst: Als da sind Phantasien, Fugen, Simphonien
und Sonaten. III 1, 25: „Das 10. Capitel. Von den Praeludiis zur Motetten
oder Madrigalia: als die Toccaten. Toccata ist als ein Praeambulum oder
Praeludium, welches ein Organist, wenn er erstlich vff die Orgel oder
Clayicjmbalum greifft, ehe er ein Mutet oder Fugen anfehet, aus seinem
Kopf vorher fantasirt, mit schlechten entzellen griffen, vnd Coloraturen etc.
Einer aber hat diese, der ander ein andere Art, davon weitläuffig zu tractiren
allhier vnnotig, und erachte mich auch zu gering, einem oder dem andern
hicrinnen etwas fürzuschreiben." Wasielewski verwischt den Unterschied,
weil er in erster Linie die Entwickelung der späteren Kontrapunktik über-
all zu sehen bemüht ist.
3) Chrysanders Jahrbücher 2, 80. 88. 177.
*) Diese Kompositionsgattung hat immer die Tendenz gehabt, sich
selbständig zu entwickeln, auch wenn sie wirklich als Einleitung gedacht
waren. Noch die Präludien Joh. Seb. Bachs zeugen davon; sie sind eben-
falls durchaus selbständig. Spittal 110, 772. Vgl. Mendelssohn op. 35
und 37 und Judenkünigs Priamel-Etuden.
^) Mit der Autorschaft nahm maus nicht genau; Hans Gerle hat
ein Priamel Judenkünigs ohne Angabe des Komponisten in seine Musica
TeusQh 1532 übernommen. Wasielewski S. 111, l.
57
mit primitiver, aber um so deutlicherer, meist ganz äußerlicher
musikalischer Logik in parallelen, gleichartigen Kolen durch-
geführt. Darin kommt der Hauptcharakter der ganzen melodischen
Kunst jener Zeit zur Erscheinung^). Sehr richtig hat Müllen-
hoff^) erkannt, daß auch das poetische Priamel eigentlich aus
einem Satz mit nur einer Parenthese bestehe sollte. Wasie-
lewski sah in den musikalischen Priameln nur Unterhaltungs-
musik und charakterisiert sie als leicht skizzierte Gebilde von
äußerst losem Gewebe ^). Wenn darin konsonante Klänge, Konkor-
danzen einfach aneinandergereiht werden^), so dürfte der letzte
Grund dieses Parallelismus für die Musik wie für die Poesie der
notorische Improvisationscharakter dieser Stücke sein. „Das charak-
teristische aller dieser Kompositionen", sagt Körte ^), „liegt in
dem Portspinnen eines Motivs durch verschiedene Stimmen hin-
durch ohne eigentliche straffe Gliederung und ohne periodischen
Bau. Logische Entwickelung ist fast nie zu spüren . . . Oft wird
Geist durch konventionelle Formeln ersetzt, und Tonalitätsgefühl
ist selten sicher ausgeprägt, Nachahmung das beliebteste Mittel."
Paumanns musikalisches Vermögen war ebenso schöpferisch^)
als virtuos. Bosenplüt würde seine Preambel wohl im Lobspruch
erwähnt haben, wenn die Gattung für vornehm genug gegolten
hätte; sie mußten jedoch hinter den gelehrten Bundellen, Muteten,
Antiphonen, Sequenzen u. s w. offenbar weit zurückstehen. Wohl
aber konnte er passend den anspruchslosen Vogelgesang ^) mit
dem Preambel vergleichen. Dieselbe Bezeichnung erscheint wieder-
holt in guten Handschriften vor Bosenplütschen Gedichtchen ^),
») Chrysanders Jb. 2, 23.
a) DAK 5, 262.
3) Geschichte der Instrumentalmusik S. 129. 115. Vgl. Eitner 8.3.
*) Loewenfeld, Kleber S. 68. 53 f.
») S. 119.
«) Loewenfeld, Kleber S. 42.
') Später sind Kompositionen nicht selten wie La canzon de li uccclli
von Francesco da Milano bei Chilesotti S. 44. Körte S. 121. Budolf
Wyssenbach, Ein schön Tabulaturbuch auif die Lauten, von mancherlei
Lieplichen Italianischen Dantzliedem, mit sampt dem Yogelgesang u. s. w.
Handschriften der Herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel 8, 258.
^) Wenn Zescn (Welti, Geschichte des Sonettes S. 92) ein Gedicht
auch Crusmaticum, Crusma nennt, so ist hier derselbe Vorgang zu beobachten
58
die eine unverkennbare Ähnlichkeit mit musikalischen Preambeln
haben : sind wir berechtigt, hier eine andere Dedeutung anzunehmen,
als dort? Ich glaube, nein. Ohiie Not eine neue Bedeutung des
Terminus dem Dichter aufzuzwingen, widerspräche einem be-
rechtigten Orundsatze der Interpretation.
Während für alle andern Bedeutungen des Wortes, hypothe-
tische und wirkliche, entweder gar keine, oder äußerst spärliche
lielege vorhanden sind, die zum Teil weit hergeholt wurden^),
ist man an der kaum übersehbaren Masse der Belege für die
musikalische Bedeutung achtlos vorübergegangen. Wahrscheinlich
hätte die Feststellung des Tatbestandes doch das Schweifen
wissenschaftlicher Kombinationen verhindert.
Es erübrigen ein paar Worte über die Herleitung des
Priamels aud der Fechtkunst und der Predigt^). Khrismanns
Erklärung i^Ut mit der Unmöglichkeit des Herderschen Stand-
punktes; sie paßt nur für Herders irrtümliche Definition, nicht
für ^as gesamte Material. Der im sechzehnten Jahrhundert für
Weitläufigkeiten der Prediger bezeugte Ausdruck Preambulum
ist auch erst, doch wohl aus der Musik, auf die Predigt Über-
tragen. „Präambulieren" und Abschließen, Erwartung und Auf-
schluß sind Begriffe, die mit dem Priamel an und für sich nichts
zu tun haben; es gibt eben auch analytische Priamel. Man darf
hier wohl nicht einwenden, selbst bei analytischen Priameln gäbe
es gewissermaßen Erwartung und Aufschluß, sondern man erwäge
lieber den auch für das antike Epigramm nachgewiesenen Unwert
dieser Begriffe. Wenn das Priamel mit der Predigt verwandt
wäre, wo müßte dies mehr zu Tage treten als in den geistlichen
Priameln? Und doch entfernen gerade diese sich regelmäßig am
meisten von dem Charakter, den man den präambulierenden und
Erwartung erregenden Reihen zuschreiben möchte. So muß man
auch diesem, von den vorgetragenen noch immer wahrscheinlichsten,
Erklärungsversuche die Zustimmung versagen.
wie boim Priamel; xpoüufia nie praoambulum sind uigcntlicb TonstSckc.
Iröber, Grundriß II 1, 659 ff.
') Lexikographen seien auch auf Buch Weinsberg 2, 245, die
raeambula fidei der mittelalterlichen Theologie und Soldan -Heppe,
[eienprozesso 2, 124 verwiesen.
*) Literarisches Centralblatt 1898, 1491. Ehrismaun a.a.O. S. 165ff.
59
Auf den unsicher vermuteten^) Zusammenhang des Bosen-
plütschen Priamels mit der Fechtkunst einzugehen, lohnt sich
wohl nicht. Die Belege gehören dem Ende des sechzehnten
Jahrhunderts an^).
Was die Lautform, die Flexion und das Geschlecht des
Priamels betrifft, so sahen wir oben bereits, welchen Veränderungen
das lateinische Praeambulum unterlag. Mit Ausnahme von Pria-
melius, das mit Preamblin und andern Wortmonstra auf eine
Stufe zu stellen war, sind die zur Bezeichnung poetischer Stücke
überlieferten Wortformen Preambel und Priamel aus der Musik-
literatur reichlich nachgewiesen: und zwar, wenn man von New-
si edlers und Hainhofe rs Masculinum') absieht, in sämtlichen
handschriftlichen und gedruckten Belegen durchweg als Neutrum,
der korrekten Ableitung und sonstigem Gebrauch^) entsprechend.
Wie aus Triplum*) des Härders trippel, so entstand aus praeam-
bulum preambel. Wo das zuerst geschehen, ist ziemlich belanglos;
schon ein Blick in das erstaunlich reicheMaterial , das van der
Straeten aufgespeichert hat) lehrt, daß die Musikübung des aus-
gehenden Mittelalters vollkommen international gewesen ist. Selbst
wenn man, wie billig, Daveys Übertreibungen abzieht, bleibt
1) Der Becensent ühls im Lit. Centralblatt (1898), Albert Leitzmann
sagt S. 1491: „Daß der Verf. (S. 19) den etwaigen Zusammenhang der
Priamel als Trutzlied mit der im DWB VU belegten, der Fechtkunst ent-
stammenden Bedeutung von preambel =» Scharmützel, Wortgefecht, a limine
zurückweist, scheint nicht berechtigt, wie denn die vorliegende Unter-
suchung weiterer Forschung yöUig freien Spielraum läßt/'
^ Nichts ergibt denn auch die Zusammenstellung von Schaer, Die
altdeutschen Fechter und Spielleute. Straßburg 1901. S. 128. Vgl. 137.
Auch das Fechterpreambel entstammt wohl der Musik. Schaer bringt
das Priamel wieder mit dem Meistergesang in Verbindung.
^ Auch das Schweizerische Idiotikon verzeichnet einmal das Masc.
y 301 aus Maaler.
^) Hertz, Spielmannsbuch S. 343.
*) Treble, Trebulus: Denkmäler der Tonkunst in Osterreich VII 1.
Sechs Trienter Codices hg. von Adler und Koller. Wien 1900. S. XXVII.
Man bildete außer Preamble, Treble auch die Wörter Quadrible, Quinible.
Davej, History of English music. London 1895. S. 48. Albert Folzin,
Geschlechtswandel der Substantiva im Deutschen. Hildesheim 1903. S. 39
läßt ^diu preambel, priamel < preambulum wohl unter Einfluß von Priemel <
primnla^ entstehen, trotzdem diese Entlehnung 300 Jahre später stattfand^
60
die Tatsache bestehen, daß die englische Musik und englische Musiker
um die Wende des vierzehnten bis fünfzehnten Jahrhunderts in
Europa maßgebenden Einfluß ausgeübt haben ^). Die deutsche
musikalische Kunstsprache wie die meisten Instrumente haben
den Umweg über die romanischen Länder gemacht, und Leute
wie Paumann und Lucas Mahler waren mit romanischen Ländern
und ihrer Eunstübung völlig bekannt. Wilhelm Hertz hat in ähn-
licher Frage über das Lais sich ebenfalls dem alten Gebrauch des
Neutrums angeschlossen, und Joseph B6dier mußte den berechtigten
Tadel seines Lehrers Gasten Paris über sich ergehen lassen,
als er die populäre Form Fabliaux in wissenschaftlicher Behandlung
verwendete. Es wäre nicht wirkliche Ehrfurcht den großen Männern
gegenüber, die das irrige Femininum ,die Priamel' gebrauchten,
wollte man aus Bücksicht auf sie die Bezeichnung beibehalten.
Denn L es sing wie Jakob Grimm wären die ersten gewesen,
die das Femininum verworfen hätten, wenn ihnen die Sachlage
bekannt * gewesen wäre. Wie Lessing zu dem Femininum ge-
kommen ist, darüber lassen sich nur Vermutungen aufstellen.
Das Französische, Uainhofers Fantasiae und die Mundart-)
können ihn dazu verführt haben. Sobald in der Lauten-Musik
der Name Praeambulum veraltete und zahlreiche andere an seine
Stelle zu treten begannen, waren auch die Tage des poetischen
Terminus gezählt, zahlreiche andere treten an seine Stelle wie
Spruch, Sprichwörter, Schwank. Der fahrende Sprecher nannte
im fünfzehnten Jahrhundert sein Büchlein noch Priamelred. Man
hat priamel als Entstellung von preambel bezeichnet^). Die
Entwicklung ist vollkommen lautgesetzlich. Bosenplüts Mund-
art stieß das b ab^), wie sein Beim preambel: stammeln^), beweist;
und das unbestimmte e ward zu i erhöht. Schon in das lateinische
Wort war das i eingedrungen*).
>) Davey S. 75 f.
^) Es gibt bis jetzt kein lehrreicheres Bild von mundartlichem Ver-
fahren als den schon gerühmten Artikel des Schweizerischen Idiotikons;
die Mundart nimmt sich nicht weniger Freiheit als die musikalische Mode.
3) Schade, s. v.
*) Weinhold, Bairische Grammatik S. 130. Gebhardt, Grammatik
der Nürnberger Mundart. Leipzig 1901. S. 31.
5) Zur Differenz des n: QF 77, 119.
«) Vgl. oben. S. 54.
-i
61
Halten die eben entwickelten Tatsachen und Erwägungen
gründlicher Prüfung stand, so haben wir bei der Bezeichnung
des Priamels denselben Vorgang wie bei der Taufe des Sonettes
zu beobachten. Auch beim Sonett geht die Bezeichnung von
der Musik aus und wird auf ein kleines Gedicht übertragen').
Der Charakter des Sonettes hat mit der ursprünglichen, ganz
allgemeinen Bedeutung des musikalischen sonet, so weit bis jetzt
festgestellt ist, kaum etwas zu tun^). Anders bei dem Priamel.
Die. Bezeichnung des bisher namenlosen, von Bosenplüt klassisch
vervollkommneten Volksreimes mit dem Namen Preambel ist so
zutreffend, daß man sie am ehesten ihrem Klassiker zutrauen
möchte. Hier wie dort selbständige, die Formgebung entscheidend
beeinflussende Improvisation, in beiden Fällen eine Mittelstellung
zwischen halb automatischer Abfolge und höchster Eunstlogik, in
jedem Falle die Fähigkeit, sich zu universeller Form zu ent-
wickeln, auf beiden Gebieten ähnliche Geschichte der Benennung
und Überlieferung. Besonnene Überlegung wird darauf verzichten,
aus Einzelheiten der vorliegenden musikalischen Sätzchen, wie
dem akkordlichen Parallelismus oder dem Moment der letzten
Spannung kurz vor dem Schluß Ähnlichkeiten mit dem Bau
einzelner Priameln herauszuklauben. Ohne Spielerei^) und Will-
kürlichkeit kann das nicht abgehen. Aber der allgemeine Charakter
der kurzen^) Improvisation, Festhalten eines Hauptgedankens,
der mehr äußerlich als mit frei schaffender logischer Entwicklung
durch parallele Kola durchgeführt wird , das ist dem musi-
kalischen und poetischen Priamel gemein. Beide werden zu fast
gleicher Zeit literaturfähig, beide müssen sich gefallen lassen, in
der späteren Entwicklung an ihrem ursprünglichen Charakter
») Welti , Geschichte des Sonettes S. 19. Gröber, Grundriß II 1, 659 ff.
^) Man kann auch hier einen Zusammenhang vermuten; hloße Willkür
wird auch hier nicht gewaltet hahen. Leider scheinen die Quellen der
Musikwissenschaft über diese Fragen zu versiegen.
^) Auch vor Kombinationen über Verwandtschaft des praeambulum mit
tropi und modi (Gerbert, De cantu et musica sacra 1, 370. Scriptores
ecclesiastici de musica sacra potissimum 2, 83a. Judenkünig knüpft an das
fünfte Priamel einen Tropolus secretus) ist zu warnen. Ehrismanns neuer
Versuch, Ähnlichkeiten mit der Predigt nachzuweisen, fordert zur Ver-
doppelung der Vorsicht auf.
^) Vergleiche die ,kurzen preambeP in D.
62
einzubüßen: das musikalische Priamel wird die Mutter hoch-
entwickelter Eunstformen, das poetische verkümmert unter der
Hand geistloser und unbegabter Nachahmer, um endlich, in seinen
Grundformen freilich unverwüstlich, nur noch ein Ferment späterer
Kunst zu bleiben. Und noch am Schluß einer langen Geschic}ite
dieser Eunstformen knüpft Intuition gottbegnadeter Genies i(in-
bewußt wieder an die Urformen an: wenn Chopin in seinem
herrlichen Prölude Op. 28, Nr. 15 in parallelen Umformungen
den einen Hauptgedanken ausprägt, den er durch die stets fest-
gehaltene Dominante auch äußerlich kenntlich macht, und wenn
Goethe noch das Priamel dichtet:
Weite Welt und breites Leben,
Langer Jahre redlich Streben,
Stets geforscht und stets gegründet,
Nie geschlossen, oft gerUndet,
Ältestes bewahrt mit Treue,
Freundlich aufgefaßtes Neue,
Heitern Sinn und reine Zwecke:
Nun 1 man kommt wohl eine Strecke.
III.
Zur Oberlieferung des Priamels.
,vil verdirbet
des man nicht en wirb et.'
Walther.
1. Schriftliche Üherlieferung. Angehliche Priamelhandschriften. Vor-
ßosenplütsche Üherlieferung Die Priamelrede. Reste des Trierer Spruch-
huches. Spuren kleinerer Sammlungen. Die Hauptmasse der Überlieferung.
2. Mündliche Üherlieferung. . Volkspoesie und Kunstdichtung ein Zirkel.
Beispiele.
Die vielgestaltigen Formen der Überlieferung mit systema-
tischer Vollständigkeit zu erschöpfen, ist heute unmöglich; auch
Einzelfragen, z. B. die handschriftliche Überlieferung Bosenplüts,
scheiden aus. Es sollen hier nur außer den nötigsten Nach-
weisungen von neuem Material einige allgemeine Gesichtspunkte
angedeutet werden, unter denen sich die Überlieferung des Priamels
betrachten läßt. Dabei wird im ganzen von dem Vierzeiler ab-
gesehen, der später besonders behandelt ist. Wenn das große
Unternehmen der Berliner Akademie, alle deutschen Handschriften
des In- und Auslandes bis zum siebzehnten Jahrhundert zu
inventarisieren, vollendet ist, wird es leicht sein, das Material zu
ergänzen. Des Einzelnen Kräfte versagen bei solchen Aufgaben.
1.
Die Überlieferung im engeren Sinne, die literarische
Überlieferung beschränkt sich im fünfzehnten Jahrhundert beim
klassischen Priamel auf Handschriften, vom sechzehnten bis ins
siebzehnte Jahrhundert liegen Handschriften und Drucke vor,
mündliche Überlieferung geht ununterbrochen vorher und nebenher.
64
Etwa hundertfunfzig Jahre nach dem Erscheinen der letzten alten
Sammlung setzt die moderne wissenschaftliche Beschäftigung mit
dem Priamel ein. Die Vorgeschichte der Gattung und ihr Nach-
leben bleiben hier im allgemeinen außer Betracht; ihre Quellen
müssen meist für sich betrachtet werden. Außerdem kann hier
auf die literarhistorische Entwicklung noch nicht eingegangen
werden, es muß an dieser Stelle eine Art catalogue raisonnä genügen.
Nach dem sogenannten großen, nicht gedruckten üand-
schriftenkataloge der üof- und Staats -Bibliothek zu München
gäbe es freilich schon eine Priamelhandschrift des dreizehnten
Jahrhunderts auf Pergament, und damit würden alle aus andern
Quellen gewonnenen Ansichten von der Literaturgeschichte des
Priamels über den Haufen geworfen. Aber die Sache verhält
sich anders. Schmeller hatte unter Abteilung XIV, Nummer 361
des Index auf eine Priamelhandschrift seines Bepertoriums mit
folgenden Worten verwiesen: „Deutsche Priameln mit den ent-
sprechenden lateinischen seculi XlII siehe das Bepertorium Blatt
üguitio." Unter liebenswürdiger Hilfe des Herrn Dr. Petzet
konnte ich nun aus Schmellers Papieren feststellen, daß Schmeller
und die Hof- und Staatsbibliothek diese Handschrift nie besessen
haben und daß, was sie enthielt, keine Priamel gewesen sind.
Schmeller bemerkt nämlich im Bepertorium unter Hugutio (!):
„In der schönen Pergament-Handschrift in Folio: Mag. üguizonis')
liber derivationum. 118 Bl. sec. XIII., die Antiquar Butsch
am 10. November 1848 vorzeigt, steht hinten von dos früheren
Besitzers Weriand, plebani in Seldenhoven, ordinati anno 1282,
invcstiti 1286 Hand:
Ich schilt nicht daz iemen tuet
machet er daz ende guet.
tc non pro factis sperno si sit bona finis «
Das ist aber nichts als der Freidankspruch 63, 20, und die
drei anderen, welche Schmeller noch mit ihren lateinischen
Entsprechungen abgeschrieben hat, sind ebensowenig Priamel wie
der erste ^J.
1) Über Huguitio: Pabricius, Bibliotheca (Florenz, 1858) III 283.
') Die Handschrift ist ins Britische Museum gekommen. Priebsch,
Deutsche Handschriften in England 2, 157; Priebsch druckt die fünf Frei dank-
zweizeiler der Hs. ab.
65
Nicht minder in die Irre führt Mone mit einer Notiz ifbef
Priamel, die in einer Papier-Handschrift zu Wien vom Jahre 1501
sich befunden haben sollen^).
In lateinischen und deutschen Handschriften sind einzelne vor-
Bosenplütsche Stücke überliefert. So wichtig sie für die Ge-
schichte des Priamels sind, stehen sie trotzdem an Bedeutung den
größeren Sammlungen nach und sind deshalb später unter kleinen Buch-
staben des Alphabets aufgeführt. Ebenso erscheinen vom sechzehnten
Jahrhundert an Priamel zahlreich, aber vereinzelt in Handschriften
des verschiedensten Inhalts, in Stammbüchern, als Einträge auf
Buchdeckeln, in Drucken, in volkstümlicher Literatur aller Art.
Diese Überlieferung ist nie unterbrochen und leitet auch vom
Dreißigjährigen Krieg zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts über.
Eigentliche Priamelhandschriften stammen erst aus dem
fünfzehnten Jahrhundert; sie konnten erst entstehen, nachdem
Bosenplüt die Gattung literaturfähig gemacht, das Priamel sich
zu einem selbständigen Kunsl zweig der Sprecher ausgewachsen
und die Produktion rasch sich gemehrt hatte. Unter den zahlreich
erhaltenen sind wirkliche Priamelbüchlein der umherziehenden
Sprecher, Liebhabersammlungen, Lesebücher und große Sammel-
handschriften zu unterscheiden.
Für die erste Kategorie liefert eine Donaueschinger Hand-
schrift den Beleg, den einzigen und wertvollsten. Selten sind
solche meist ganz verbrauchte Exemplare, wie dies Spruchbüchlein
oder das des Jacob Kebitz, bis heute erhalten. Der besondere
Wert des Donaueschinger Büchleins besteht darin, daß nicht
nur der Name Priamel in neuer Komposition als Titel für die
ganze kleine Sammlung erscheint, sondern auch erst aus diesem
Exemplar eines Priamelsprechers eine anschauliche Vorstellung
von solchen Büchlein und dem Vortrag der Priamel-Rede
gewonnen wird. Es ist ein selbständiges Heft, das den Titel
jPriamelred' auf dem ersten freigelassenen Blatte führt, in sehr
handlichem Oktavformat, zum Einstecken geeignet, von eine
Hand des fünfzehnten Jahrhunderts geschrieben; im ganzen nur
*) Mones Anzeiger 8, 209. Papierhs. Sedez. v. J. 1501. Bl. 3 — 4:
„Drei Priameln. Nu höre liber sun myn etc." Da es kein Priamel gibt,
das mit den citierten (an den Cato erinnernden) Worten beginnt, so hat
man wohl auch einen Irrtum Mones anzunehmen.
Eni ins, Priamel ^
66
sechs, zum Teil defekte, aber zusammeDhängende Blätter mit
neunzehn Nummern. Der Antiquar Butseh aus Augsburg hat
es im November 1868 der Fürstlich von Fürstenbergischen Biblio-
thek zu Donaueschingen geschenkt, in der es unter den neuen
Erwerbungen mit der Signatur A III 19 bezeichnet ist. Auf
Blatt 1 und am Ende hat eine Hand des siebzehnten bis achtzehnten
Jahrhunderts sich in Federproben und Sprüchen^), lateinisch und
deutsch, versucht. Die Stücke sind folgende:
1. Blatt 2 a. Ein schreyber der lieber tanczt vnd springt.
2. Wer gern spilt vnd vngem gillt.
3. Blatt 2 b. Ein vater der sein kindt gern lern wollt.
4. Welch man seim eelichen weib ist veindt.
5. Blatt 3 a. Weißhait von truncken leuten.
6* Ein junge mayt on lieb.
7. Blatt 3 b. Die geyer vnd die htinerarn.
8. Mein lieb liebt mir so fast.
9. Blatt 4 a. Mein firaw liebet mir so ser.
10. Ewer lieb ist niemer nit gleich.
11. Blatt 4b. Mein lieb liebet mir fUr Schnecken.
12. Es ist ein gemeiner sit.
13. Kein größer narr mag nit werden.
14. Blatt 5 a. Ein schweigender schUler.
15* Poßheit vnd grindig pader.
16. Wann man ein einfelligen betreugt.
17. Blatt 5 b. Wann das ein weiser eins narren spott.
18. Ein man dem er vnd gut zu fieust.
19. Wenn ein reycher ein armen verschmecht.
Auf die einzelnen Stücke wird später einzugehen sein;
den Beschluß machen zwei Priapea. Den Überrest eines ähnlichen,
wenn auch nicht durchweg priamelhaften niederrheinischen Spruch-
büchleins stellt das von Nolte beschriebene Trierer Folioblatt
des fünfzehnten Jahrhunderts dar^). Es enthält priamelhafte
und nicht priamelhafte Vierzeiler, Preidankverse, zwei größere
Priamel von zehn Zeilen und einen scherzhaften Schluß.
Dem letzten alten Priameldruck von 1631 scheint noch ein
solches Spruchbuch zu Grunde zu liegen. Aber als Gattung
kennt z. B. Happelius das Priamel nicht mehr^). Übrigens
*) Diese sind hier übergegangen.
3) Pfeiffers Germania 19, 303 ff.
^) E. G. Happelii größester Denkwürdigkeiten der Welt oder so
67
hat Moscherosch noch 1650 sehr gute Priamelquellen, die auf
selbständige Überlieferung zurückgehen. Mit den Drucken des
sechzehnten Jahrhunderts deckt sich die Becensio nicht.
Aus solchen kleineren Sammlungen, deren Grundstock Bosen-
p lutsche Priamel bilden, sind dann alle größeren Handschriften
hervorgegangen. In der von Sigmund Hurrer in Passau an-
gelegten Handschrift läßt sich das noch deutlich verfolgen^).
Er wird aus Liebhaberei gesammelt haben. Die Handschriften
A, B, C^D, H, J^), K, L, M scheinen Lesebücher; so wie sie vor-
liegen, auch schon nicht mehr einheitlicher Art. Die größte Sammel-
handschrift, voll der verschiedenartigsten Bestandteile, ist FG').
Die anderen mir bekannten Handschriften gibt eiue unten folgende
Liste an. Was ihr Alter betrifft, so lehrt die Untersuchung,
was früher nicht genau zum Ausdruck gekommen ist^), daß die
versprengten Stücke der älteren Handschriften nicht von dem
Nürnberger Dichter herrühren. Die Eintragungen auf Vorsetz-
blättern oder am Schluß von Handschriften, wie bei Handschrift
c ^) datieren meist aus späterer Zeit. Die Handschriften A bis H
genandte Eelationes Curiosae U. Hamburg 1685 S. 436: „Man pfleget im
gemeinen Sprichwort zu sagen: Ein Jungfrau ohne Liebe etc.**
1) Göttinger Beiträge 2, 39. 42. 17.
2) Die Handschrift ist Nr. 952, nicht 592; die Priamel stehn Blatt
17a bis 19a; 31b und 34b.
3) Uhl S. 90 ff. Ehrismann S. 162 ff. Wie solche Sammlungen durch
„irgend einen Knaben" angelegt werden können, ersieht man aus Luthers
Brief an W. Link vom 20. Mäi-z 1536 (bei De Wette 4, 680 ff; vgl. 6, 542):
„Tu qui ibi es inter flumina aurea et argentca, quaeso mihi mitte non
somnia ea, sed semina poetica, quae mihi vehementer placent. Non intelligis?
Ich will deutsch reden, mein gnädiger Herr Wenzel. Wo es euch nicht
zu schwer, noch zu viel, oder zu lang, oder zu weit, oder zu hoch, oder
zu tief und dergleichen etc. wäre, so bitte ich euch, ihr wollet irgend einen
Knaben lassen sammeln alle deutsche Bilder, Eeimen, Lieder, Bücher,
Meistergesang, so bey euch dieß Jahr sind gemalet, gedichtet, gemacht,
gedruckt durch eure teutsche Poeten und Formschneider oder Drucker;
denn ich ürsach habe, warumb ich sie gerne hätte."
*) Göttinger Beiträge 2, 11 ff.
*) a. a. 0. 11 Nr. XXXIX. Jetzt Längins Katalog No. 183. Die
Eintragung ist nicht von Ottners Hand. Das ähnliche Verhältnis war
bei der Handschrift 2225 der (xroßherzoglichen Hofbibliothek zu Darmstadt
festzustellen.
5*
68
and a bis d sind bereits in den Göttinger Beiträgen 2, 7 ff. ver-
zeichnet'). Hier sind. mehrere hinzuzufügen.
N« Die oben beschriebene Papierhandschrift der Fürstlichen
Bibliothek zu Donaueschingen A III 19.
0. Handschrift Nr. 94 des Barack sehen Katalogs derselben
Bibliothek. Es kommt nur der erste Teil der Handschrift in
Betracht, der ein Spruchbuch für sich darstellt. Barack hat
nur fünf Nummern (1. 2. 3. 13. 18.) daraus verzeichnet. Ich
ergänze ihn durch folgende Übersicht des Bestandes:
I. Blatt 1 a 10 Gebote. Saligia ^). Mensch wiltu werden gotes kind So
merck di siben todsUnd. 8 Verse.
3* Blatt Ib. Vagot. Mensch got hat dir fUnff synn geben. 10 Verse.
4. Du solt stätiglich nach gottes huld werben. 6 Verse.
5. Nu cristen mensch volg meinem rat. Ermahnung zum Tischgebet. 24 Verse.
6. Blatt 2 a. Sälig ist der nymer übel spricht.
7. Mellifluus Jesus. Wiltu wirdig sein der speis. 14 Verse.
8. Blatt 2 b. Sälig ist der man den sein hannd nsrt.
9. Nu merckent hie die lere mein. Drei Räte Augustins. 16 Verse.
10. Blatt 3 a. Halt die pot gots in deinem müt.
II. Quitquid agas. Kürzere Sprüche, Vierzeiler, Aphtzeiler, Zehnzeiler.
12. Blatt 3 b. Mensch du solt dich bedencken lang. 10 Verse.
13. Spricht Catho. Wiltu mit ern werden alt.
14. Blatt 4 a. Essen vnd trincken on danckperkait.
15. Spricht Catho. Purgschaft domit man manchen verderbt.
16. Blatt 4 b. Wenn man ain ainialtigen betreugt.
17. Zwei nicht priamelhafte Vierzeiler.
18. Ysopus. Welich man seinem weib ist veindt.
19. Orglogg vnd ein wollpogen.
20. Blatt 5 a. Es ward auf erden kain mensch nie so reich. 10 Verse.
21. Wer ee halten dinget vmb großen Ion.
22. Die knaben in den hochen hUeten.
23. Blatt 5 b. Drew ding nyemant ersatten kan.
Deo gracias.
In dieser Überlieferung ist bei Nummer 15 und 18 der
Nürnberger Büchsenmeister zum Catho und Ysopus geworden^).
V Über einige von diesen Handschriften ist dann QF 77 passim und
in Uhls Buche über die deutsche Priamel besonders S. 90 ff. gehandelt.
Zu H vgl. Germania 1888, 159. Ehrismann Anz. 25, 162.
2) Merkwort für die sieben Totsünden. Geffcken, Bildercatechismus
S. 22. Beilagen S. 194.
^) Zum Ysopus wird Eosenplüt als Verfasser des 18. Spruchs auch
in der Wiener Handschrift Nr. 4117, Blatt 28 b.
69
P, die Handschrift 3027 der K. K. Hof-Bibliothek zu Wien »),
erregt dadurch besonderes Interesse^ daß sie in ihrem älteren
Teil wie die Erbauungsliteratur eine Art von geistlichen Priameln
aufweist, die eine direkte Vorstufe für Bosenplüts ähnliche
Gedichte bedeuten, und daß sie in ihrem jüngeren Bestand eine
wahrscheinlich ins sechzehnte Jahrhundert fallende Spruchsammlung
erhallen hat. Sie beginnt Blatt 329b mit der Überschrift: Das
sind guet reym. Es ist wenig mehr von Eosenplüt dabei, haupt-
sächlich recht volkstümlich gewordene Stücke wie das Dienstboten-
Priamel: „Wer ehalten dingt um großen Ion,* mit allerlei Verderb-
nissen und Kürzungen. Im allgemeinen aber war die Hand-
schrifb noch zu den größeren zusammengehörenden Sammlungen zu
rechnen.
Dem Katalog der Wiener Akademie^) gegenüber, der dieses
verbreitetste Priamel Bosenplüts nur als ein ,carmen germanicum
de servis domesticis' (2, 183, 34) bezeichnet, während er sonst
die Praeambula immer als solche heraushebt, ist stete Nach-
prüfung erforderlich. Wie mir Herr Scriptor Menöik mitteilte,
gehen die Angaben auf Th. von Karajan und J. Haupt zurück.
Bisweilen sind falsche Angaben Hoffmanns^) berichtigt, aber
auch vielfach Irrtümliches verzeichnet. Hier mag berichtigt
werden: Nr. 2880 (Tabulae 2, 149), 10. Blatt 146a:
,Wie mocht ich mich wol gehaben.
Wenn ich einen sich begraben,
Das fch auch dahin muß nisten.
Das mich nyemant kann gefristen^
ist kein Priamel. Über die angeblichen mittelniederdeutschen
Priamel Hoffmanns (S. 191) siehe die letzte Anmerkung. Die
in den Tabulae 2, 179 aus Nr. 3017 Blatt 112b flf. vermerkten
Praeambula sind prosaische Sprüche, wie die in der Oermania
») Tabulae 2, 182.
*) Tabulae codicum manu scriptorum in bibliotheca Palatina Vindo-
bonensi asservatorum edidit Academia Caesarea Yindobonensis : ein bei der
Masse des handschriftlichen Besitzes unschätzbares Verzeichnis.
3) Z. B. Tabulae 2, 158 zu Hoffmann S. 191. Dann ist Blatt 36a
(der neuen, 132 a der alten Paginierung) ein Priamel nicht erkannt und
der Inhalt f&lschlich auf eine ,optima amasia^ bezogen. Vgl. zur Sache
Sandvoss in den Preußischen Jahrbüchern 86, 560 f.
70
1888, 164 veröffentlichten*). Aus den Tabulae 2, 183, 31 ver-
merkten Sprüchen ist mehreres auszuscheiden. Das Tabulae
2, 174, 32 ,Praeambulum spyritale' genannte Stück ist eine
Frosasentenz der Form: Du bist schuldig: den Engeln das du
volgest irem rate, den heiligen, das irme leben nachvolgst, der
werlt das sie verschmachest u. s. w.
Außer den vier in den Qöttinger Beiträgen 2, 10 angegebenen
Handschriften a bis d, welche vereinzelte Stücke enthalten, sind
folgende zu vermerken: e* Handschrift 33a der Dresdener Hof-
bibliothek 2). f. Nr. 1847 der Hofbibliothek zu Darmstadt 3).
g. Nr. 2225 der Darmstädter Hofbibliothek*). Das vorgeklebte
Pergamentblatt ist von 1410 datiert, h. Nr. 2775 derselben
Bibliothek*), i. Nr. 60 der Großherzoglichen Universitäts-Biblio-
thek zu Heidelberg 5). k. Nr. 293«), 1. Nr. 294^), m. Nr. 325 »)
derselben Bibliothek, n. Cgm. 523, o. Cgm. 851, p. Clm. 4394,
q. Clm. 4408 der Münchener Hof- und Staatsbibliothek % r. Nr 2880,
8. Nr. 2940, t. Nr. 3009, u. Nr. 3026, y. Nr. 3192, w. Nr. 3650,
X. Nr. 4117, y. Nr.4118, z. Nr. 4120, aa. Nr. 4142, bb. Nr. 4501
cc. Nr. 8852 dd. Nr. 15090 der K. K. Hofbibliothek in Wien^^).
Außerdem gibt es zahlreiche Handschriften dieser Gruppe,
deren veröffentlichte Stücke angeführt werden, ohne daß es hier
eines Nachweises der einzelnen Handschriften bedarf^^). Voll-
ständigkeit auf dem Gebiete dieser Gattung von Überlieferung
zu erreichen, ist dem Einzelnen unmöglich. Dazu kommt eine
») Vergleiche Tabulae 2, 174, 22.
^) Katalog 2, 439. Die Sprüche sind nicht mnd., sondern mnl.
3) Germania 1887, 342.
*) A. a. 0.
*) Bartsch, Die Altdeutschen Handschriften S. 24. Schon im Jahre
1887 stellte mir Ehrismanns Freundlichkeit zwei Priamel vom Alter
(Blatt 198d) zur Verfügung. Handschriften, deren Inhalt schon, wie bei
Nr. 348. 377. 379 veröffentlicht ist, werden hier nicht mehr aufgezählt.
Ebenso ist in allen anderen Fällen verfahren.
6) Bartsch S. 158.
7) Bartsch S. 159.
8) Bartsch S. 177.
9) Catalogus III. V. VIII. 2, 158.
'«) Tabulae codicum n. III. V. VIII.
*') Darunter z. B. die wichtige Hs. des Britischen Museums Add. 16581.
Trieb seh, Deutsche Handschriften in England 2, 147. Nr. 175.
71
vom sechzehnten Jahrhundert ab zu verfolgende Menge von
Stammbüchern, die hin und wieder älteres Dichtungsgut oder
häufiger eigene Improvisationen fortpflanzen. Besonders wertvolle
besitzen die Bibliotheken zu Darmstadt, Karlsruhe und das
Faulusmuseum zu Worms. Sie einzeln aufzuführen, erübrigt sich.
Während dieser ganze Zweig der nur einzelne Stücke bietenden
Überlieferung in älterer Zeit nirgends zu einer Sammlung gedieh,
pflanzte sich die Überlieferung der Handschriften A bis P alsbald
im sechzehnten Jahrhundert in Drucken fort, die von 1510 bis zur
Mitte des Dreißigjährigen Krieges wiederholt aufgelegt und um-
gearbeitet wurden. Für die fast in jeder Beziehung geringeren
Erzeugnisse der späteren Nürnberger Schule (FG), hat sich, wie
es scheint, auch nie ein Drucker gefunden. Wenn später, wie
in dem Beisebüchlein (Druck i) ähnliche heterogene Sprüche folgen,
so erscheinen sie selbständig, und ihre Auswahl ist doch ver*
nünftiger und einheitlicher als in F3. Die fahrenden Sprecher,
Freiharte und Pritschmeister wandeln meist in den Bahnen
Bosenplüts^). Der sinnreiche Herr Hanns Steinberger,
Britschmeister und Spruchsprecher, der wie Abraham a Santa
Clara schon auf dem Titel in Makamen redet, ließ 1631 zuletzt
ein Spruchbüchlein abdrucken, das genau den Umfang von N hatte.
Der Pritschmeister übte das Priamel noch im achtzehnten Jahr-
hundert. Ein gutes Priamel ist als Pritschmeisterreim vom Jahre
1724 überliefert»).
Was sich im Einzelnen aus der Überlieferung für die
Geschichte des Priamels ergibt, muß sich später zeigen. Charakter,
Entstehung und Geschichte jeder einzelnen handschriftlichen
Sammlung mit Bezug auf Bosenplüt feststellen, hieße dem
künftigen Herausgeber vorgreifen.
2.
Am wichtigsten aber für die Entwicklung des Priamels wie
aller volkstümlichen Poesie ist die mündliche Überlieferung.
*) Die Drucke sind bei Wendel er S. 47 f. in Kollers 2. Auflage der
Alten guten Schwanke, Göt tinger Beiträge 2, 11, Goedeke, Grundriß IP8
verzeichnet. Insbesondere ygl. Herman Brandes, Die jüngere Glosse
zum Reinke de Vos. Halle 1891. S. LIII f.
3) Frischbier, Preußische Sprichwörter I 211, 12.
72
Es ist freilich ein wenig Übertreibung mit Paul Heyse*) zu
sagen, daß ein Volk aufhöre zu improvisieren, wenn es lesen
und schreiben könne, und der Unterschied zwischen geschriebener
und ungeschriebener Dichtung läßt sich kaum zur Grundlage
einer erschöpfenden Erörterung über das Wesen der Volkspoesie
machen^). Bei Kulturvölkern ist es ein ewiger Zirkel, in dem
geschriebene und ungeschriebene Überlieferung sich begegnen.
Der Gegensatz zwischen Volks- und Kunstdichtung ist durchaus
kein absoluter'); Übergänge aller Schattierungen finden statt*).
Burdach hat auf ein Hinuntersteigen der höfischen Poesie
in das Leben des Volkes und ein Aufstreben der volks-
mäßigen Lyrik nach oben hingewiesen^). VTie das Volk die
Poesie gebildeter Klassen aufnimmt, so regen wieder volkstümliche
Poesien selbst den gebildetsten Dichter an. Die entstehenden
Arten der Kontamination sind theoretisch nicht zu erschöpfen.
Bisweilen scheint es, als ob sich einmal beide Einflüsse das
Gleichgewicht halten, z. B. bei dem Fleisch- und Backwaren-
händler in Italien, der am Dreikönigstag auf ausgehängten Reklame-
zetteln seiner Bude witzig und pathetisch Würste und Frittüren
*) Edouard Schoure überbietet Paul Heyse und datiert sogar den
Verfall des Volksliedes von der Erfindung der Buchdruckerkunst. Geschichte
des deutschen Liedes S. 252 der deutschen (dritten) Auflage.
^ JohnMoier, Volkslied und Kunstlied in Deutschland I, 3. Petsch,
Ergebnisse der germanistischen Wissenschaft im letzten Vierteljahrhundert
S. 485. Gummere wählt in seinen Beginnings of Poetry (New York 1901)
die Formel: communal — individual; Wackerneil stellt in Herrigs Archiv
111, 445 Produktion und Reproduktion einander gegenüber. Steig hat in
der Nation 21, 314 ff. aus ungedruckten Briefen J. Grimms und Arnims
sehr interessante Auseinandersetzungen über Natur- und Eunstpoesie ver«
offen tlicht. Vgl. jetzt Achim von Arnim und Jacob und Wilhelm Grimm.
Bearbeitet von R. Steig. Stuttgart und Berlin 1904. S. 115 ff.
^) Paul Heyse in der Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprach-
wissenschaft 1, 182. Gustav Meyer, Essays 2, 155.
*)John Meier, Volkstümliche und kunstmäßige Elemente in der
Schnaderhüpfelpoesie. Beilage zur Münchener Allg. Zeitung 1898. Nr. 226.
Meier hat weniger erörtert, inwieweit die sogenannten Kunstdichter doch
wieder von der volksmäßigen Tradition abhängen und welche Grenzen dem
Austausch gezogen sind. Strack in den Hessischen Blättern für Volkskunde
l, 58 ff
») Reinmar und Walther S. 1?8, Walther S. 99.
73
in selbstgemachten Sonetten besingt^). Der Versuch B ruinierst),
den Chorgesang als Charakteristikum des Volksliedes aufzufassen,
scheitert daran, daß er vom Volkslied die Arbeitsgesänge bei
Einzelarbeit und das einzeln gesungene Improvisationslied des
Vierzeilers ausschlösse, das trotz aller Über- und ünterschätzung
immerhin eine der Urzellen der Volkspoesie bleibt. Das Arbeits-
lied ist dem Kultlied, wovon B ruinier ausgeht, an Alter über-
legen^). Dagegen scheint das Übergewicht des Gemeinsamen
über die Anrechte des einzelnen, die autoritäre Beteiligung des
Volkes ein notwendiger, fruchtbarer Gesichtspunkt. Schon Uhland
hatte das hervorgehoben; John Meier stellt es in den Vordergrund.
Ein wesentliches Merkmal der Volkspoesie ist die „Verneinung
jedes individuellen Bechtes an dem in den Volksmund gedrungenen
Produkt des Einzelnen und die durchaus autoritäre Stellung des
Volkes gegenüber Worten und Melodie. Dies Herrenverhältnis
des Volkes zum Stoff ist eine notwendige Voraussetzung der
Volkspoesie*),* auch für die Volkspoesie des Priamels. „Vortrag
verwandelt sich jeden Augenblick in Produktion^)". Frei schaltet
der Einzelne mit dem volkstümlichen Priamel, während Eosen-
plüts künstlerische Gebilde oft sich bis auf die Gegenwart un-
versehrt erhalten haben, die nicht zu vermeidende Verballhornung
alter Sprachformen ausgenommen. Was echt volkstümlich bei
Rosenplüt war, ging wieder am leichtesten ins Volk über, wie
andrerseits Bosenplüt der älteren volksmäßigen Gnomik die
meisten Motive verdankt. Wo bestimmte Verfasser dichten, liegt
die Sache am einfachsten. Folz und die späteren Nürnberger
nähern sich wieder der Freiheit volkstümlicher Poesie.
*) Paul Heyse a. a. 0. S. 184.
«) Das deutsche Volkslied S. 28. 35. 36.
3) Bücher, Arbeit und Rhythmus^ S. 315. Wundt, Völkerpsychologie I,
265. Daur, das deutsche Volkslied besonders des sechzehnten Jahrhunderts
nach seinen formelhaften Elementen betra^chtet. Heidelberger Dissertation
1902. S. 30 ff.
*)John Meier II 1. Dungers Einwendungen (Sächsische Volks-
kunde S. 233) schlagen nicht durch.
*) Vgl. Heyse a. a. 0. S. 188. Das Gleiche berichtet u. vielen
andern Max Buch von den Wotjäken. Acta societatis scientiarum Fennicae
12, 548. 554. Ähnlich verfährt lebendige Sagen tradition. Jiriczek,
Deutsche Heldensagen 1, 17.
74
Die Behandlung der Überlieferung: hat sich also zwischen
zwei Extremen zu bewegen: einerseits sind die priamelartigen
Sprüche und Priamel des sogenannten Seifried Helbling,
Hugos von Trimberg, Bosenplüts, Folzens u. s. w. wie
alle Erzeugnisse der Individual-Poesie anzusehen, andrerseits ist
bei den Varianten des volkstümlichen Friamels jedes Exemplar
principiell echt, und eine Erschließung der ersten Form wird
stets etwas problematisch bleiben^). Dennoch entbindet uns
diese Sachlage keineswegs von der Pflicht, historische Ent-
wicklungen zu scheiden und womöglich bis zu einer Urform vor-
zudringen^); sie lehrt uns nur die Tatsachen der Volksdichtung
in anderm Lichte sehn. Zwischen jenen beiden Extremen liegen
unzählige Nuancierungen gegenseitiger Beeinflussung von Individual-
poesie und volkstümlicher Weiterdichtung.
Zunächst ein Beispiel dafür, wie auch hier Volkspoesie zur
Individualpoesie hinstrebt und wie Verfasserfragen in der Über-
lieferung dieser Art behandelt werden.
Alte Sprüche geißeln klerikale Habsucht und Bauerntücke;
nicht etwa erst seit dem Beginn reformatorischer Bewegungen
und seit dem Bauernkrieg, sondern schon im zwölften Jahrhundert
beim ersten Auftauchen kunstvollerer Onomik in der deutschen
Literatur erscheint in der Erinnerung Heinrichs von Melk
ein Verschen, in dem jene beiden Vorwürfe verbunden werden.
Die phaffen die sint gitic,
die gebour die sint nidic^).
Mit dem Verfall der Kirche und der Vergrößerung der Kluft
zwischen Herrn, Bauer und Städter mehren sich die Stimmen^),
die im Sprichwort nachklingen^). Ein Eendsburger Sprichwort
sagt sogar:
') John Meyer II 1.
2) B ran dl in den Forschungen zur neueren Literaturgeschichte. Fest-
gabe für R. Heinzel. Weimar 1898 S. 54 fF. Gummere, Primitive poetry
and the bailad. Modern Philology I 1. Chicago 1903 S. 193 ff. Brandl,
Deutsche Literaturzeitung 24, 3031 f.
3) Vers 423 ff.
*) Renner 831. 21404. Florilegium Gottingense Nr. 27; Cum mare
siccatur et demon ad astra leuatur, Tunc primo laycus clero nascetur amicus.
*) Wand er, Sprichwörterlexikon s. v. Bauer und Pfaffe.
75
De Bur, de Osse ud de Preester
sünd de dree grödsten Beester*).
Den vollkommensten Ausdruck findet diese Abneigung gegen
kirchliche Habsucht und bäuerliche Unzuverlässigkeit in einer Form
des Priamels, die sich äußerlich des beliebten und sehr alten
Mittels durchgeführten Reims bedient und die wirkungsvolle innere
Verbindung aus dem biblischen Satz von der ewigen Barmherzig-
keit Oottes herübernimmt. Es ist bitterste Satire, mit jenen
beiden unheiligen Eigenschaften Gottes Barmherzigkeit zu ver-
binden. So mag im vierzehnten Jahrhundert das synthetische
Friamel entstanden sein:
Gottes barmherzikeit,
der pfaffen gitekeit,
und der buren bosheit:
wert in aUe ewikeit.
Die bekannteste Variante dieser Fassung war mit der Jahres-
zahl 1418 am alten Weißturm tor in Straßburg eingemeißelt, der
nach 1870 abgebrochen ist. Die Inschrift lautete:
Gottes bannhertzigkeit,
Der pfaffen grytikeit,
Und der bauren bosheit :
DurchgrUndet niemans uf minen eit').
Diese Fassung entstand wahrscheinlich dadurch, daß formale
Analogie der geläufigen Vorstellung von der unergründlichen
Barmherzigkeit einwirkte ^). Ohne Füllsel gehts am Schluß nicht ab.
Es klingt ganz wie eine ätiologische Sage, wenn dazu ein
Chronist des siebzehnten Jahrhunderts, Schadens (1586—1626)
in seiner 1870 verbrannten Chronik ,ex relatione cujusdam
senioris' erzählt: Die Stiftsherrn von St. Thomä hätten den
Gärtnern und Eönigshofer Bauern 1418 die übliche gemeine
Zech von Brot und Wein entziehen wollen, obgleich die Ernte
reichlich ausgefallen. Darüber seien die Bauern ergrimmt und
hätten den Zehnten auf dem Felde verbrannt. „Nachdem aber
die Pfaffen sich zu dieser Zeit geweigert, ohngeacht durch Gottes
Barmheitzigkeit eine reiche Ernd und Zehent gefallen, hat die
') Wander 1, 257, 62; weit verbreitet.
^) Stob er, Sagen des Elsasses IP212. ,durchgranden' zu Kistencr 1217.
3) John Meier n 2 ff.
76
Bosheit der Bauern verursacht, daß durch böse Buben der Zehent,
so noch auf dem Felde lag, mit Feuer angesteckt und verderbt
worden^)."
Zarncke gab den Spruch als von Sebastian Brant ver-
faßt unter den Epigrammata et Satyrica faceta atque acuta ex
Avtographo authoris descripta in der Einleitung zum Narrenschiflf
1854, mit dem Zusatz J. Qlasers: Stehet zu Straßburg unter
der weisszen thurn Portten In einen stein gehawen So zu
Dr. Brandti Sei. lebens Zyt auff gerichtt vnd von Im Dieser
Eymen gemacht worden. Zarncke hatte diese Abschrift von
Glasers Manuscript durch Crecelius erhalten (NarrenschifF,
Einleitung S. XXXV). Dann wiederholte den Spruch im Jahre
1857 Mone in seinem Anzeiger (1857 S. 397), August Stöber
in der Alemannia 1879 (7, 235), und Crecelius in derselben
Zeitschrift im Jahr 1880 (8, 77). An Brants Verfasserschaft hatte
selbst Crecelius hier noch keinen Zweifel ausgesprochen. Jetzt
fand Birlinger, nachdem Stöber wieder darüber gehandelt,
denselben Spruch ohne Brants Namen bei Philipp Hainhofer
1613 erwähnt (Alemannia 10, 166) und ließ dann durch Crecelius
feststellen, daß nur J. Glaser Brant als Verfasser angibt^).
») Stöber S. 213. Ähnliche Ätiologie bei Zincgräf: Wander,
Sprichwörterlexikon 3, 1239.
') von Zincgräfs, Lehmanns, Wanders und v. Padb er gs Fassungen
kann hier abgesehen werden. Eine bemerkenswerte Variante Henischs ist
in Mones Anzeiger (N. F.) 14, 273 wieder abgedruckt: , Weiber list, Gottes
gnad, und der Bawren schalkheit hat nimmer kein ende.' In der Über-
lieferung Hainhofers hat sich das spezifische Straßburgische ,grit' ver-
loren, der angebliche Autor ist nicht angegeben: „Gottes Barmherzigkait,
Der Pfaffen geitzigkait, Der Bawem Boßhait: Spricht niemand aus, bei
meinem aydt." Alemannia 10, 166. Der Priamelvierzeiler ist übrigens bis
heute lebendig, man dichtet ihn noch jetzt improvisierend fort. In einem
modernen niederdeutschen Eoman, Frans Essink von H. Landois F 192,
läßt der Verfasser einen Kaplan, der eine Gewerbe-Ausstellung veranstaltet
hat, alles durch die Ausstellung eingekommene Geld selbst einstreichen und
mit Bezug darauf seinen Helden sagen:
Guotts Barmherzigkeit,
Buuren Unbeschuftigkeit,
Rüen Riecklichkeit
ün Papen Begierlichkeit:
Währt in alle Ewigkeit.
77
Schon die Jahreszahl sprach von vornherein dagegen. Daß der
Stein zu Brants Zeiten aufgerichtet sei, war ein andrer Irrtum
Glasers. Und aus der Beihe Brantscher Epigramme ist unser
Vierzeiler sicher zu streichen.
So hascht die Überlieferung nach bedeutenden Namen, um
ihren Erzeugnissen eine Autorität zu geben, deren sie nicht be-
dürfen. Eine andre Art der Fiktion schiebt ältere Sprüche
Luther, Melanchthon und Andren unter, weil diese sich
einmal oder mit Vorliebe ihrer bedienten. Oft stehen diese
Fiktionen in dem allerlosesten Zusammenhange mit der Sache;
im Maximilianszimmer des Schlosses Tratzberg steht mit Kreide
ein namenloser Spruch an der Wand geschrieben, den man darauf
von Kaiser Maximilian verfaßt sein läßt 0* Im einzelnen vollzieht
sich auch hier, wie im Volkslied und in der Sprache, die Ent-
wicklung durch Wechselwirkung von Analogie und Isolierung^).
Von der Entwicklung des Volksliedes unterscheidet sich die des
meist nicht mehr gesungenen Priamels dadurch, daß Einwirkung
der Melodie dann in Wegfall kommt. Trümmer alter Priamel
füllen einerseits die ganze spätere gnomische Literatur, andrerseits
bleiben Motive bis auf die Gegenwart lebendig. Wo lokale Über-
lieferung eine gewisse Kontinuität verbürgt, läßt sich das Ver-
fahren am besten beobachten, z. B. für den Mittelpunkt Bayerns
bei Henisch. Er bezeugt Vierzeiler, die, im fünfzehnten Jahr-
hundert Motive Bosenplütscher Priamel, auch noch heute dort
als Schnaderhüpfel gesungen werden, wie: „Wer hat*ein frech Pferd,
Jung vnd wacker^)." Motivgleichheit verbindet folgende Sprüche.
Henisch: Ein gesunder starcker Leib,
Ein sch6n Gottselig Weib,
Gut geschrey vnd bar Gelt:
Ist das best inn diser Welt^).
Schnaderhüpfel aus Unterkärnten :
An aufrichtiger Freund^
Und a Liedle zan sing,
Und an recht a treus Diendle:
Sein die drei besten Ding.
0 Germania 33, 322.
3) John Meier II 2.
^ Uhl S. 830. Birlingor, Schwäbische Volkslieder S. 107. Nr. 238.
*) Uhl S. 363.
78
Schneid in Leib, Geld in Sack,
Und a Sehens Diandl af d' Nacht,
Dö drei guetn Ding
Kann man selten zsammbring ^).
Das frische Naturkind der Alpen ist in die Stadt verpflanzt,
wo Schulmeister und Spießbürger es trübselig ehrbar zugestutzt
haben.
Besser hat sich ein andrer Improvisations- Vierzeiler in der
Überlieferung des siebzehnten Jahrhunderts seines Leben$ gewehrt:
Wer an Apfel schält und er ißt ihn nit,
Wer a Diendle Habt und er kußt se nit,
Wer ins Wirtshaus geht und trinkt kan Wein:
Mueß a rechter Batzenlippel sein').
Den Typus dieses Schnaderhüpfels erläutern die Varianten:
Wer Epfel kaft und kost se net:
wer a Madel freit, und probiert se net:
dös muß a rechter Dummer sein,
der sieht dös Ding net ein 3).
Im Lechtal bei Brixlegg lautet ein Kinderreim:
Wer an Äpfel stiehlt und frißtn nit.
Wer a Dianl liebt und küßt sie nit,
Wer ins Wirtshaus geht und trinkt koan Wein:
Mueß a rechter PatzenlUppel sein*).
Verkürzt wird der Vierzeiler in Westpreußen.
. Wer Äpfel schält und sie nicht ißt,
Wer Mädchen liebt und sie nicht küßt:
Der muß ein wahrer Schafskopf sein^).
Schon im Liber Vagatorum Kap. 13 ist diese Verkürzung
des Motivs belegbar.
Welcher Breger kein Erlatin hat,
Die nicht foppen und ferben gat,
Eundem erchlagen Sie mit ein schuch^).
>) Pogatschnigg und Herrmann P, 384 f. Nr. 1799. 1800.
2) Pogatschnigg und Herrmann P, 386. Nr. 1806.
3) Dunger, Run das S. 76. Nr. 411. Marriage, Volkslieder aus
der badischen Pfalz S. 333. Nr. 237. Nachweise S. 334.
*) Zeitschrift für österreichische Volkskunde 2, 104. Nr. 145.
5) Treichel, Volkslieder und Volksreime S. 142. Nr. 18.
ß) Av6-Lallemant, Das deutsche Gaunertum 1, 208.
79
Verwandt ist die Fassung:
Der Bua, der sei Diendle
Ban Tanzn nit halst,
Kimmt mer vor, wie die Bäurin,
Dö die Nudel nit schmalzt^).
Auch dies Motiv kehrt als Schlager im Fastnachtsspiel wieder^);
die Überlieferung des siebzehnten Jahrhunderts kennt es in den
Varianten : ^
Wer ein appfel schalet vnd den nicht ysset,
bey jungfrawn sitzt vnd die nicht küsset,
ist beim wein, vnd nicht schenckt ein:
der mus ein ein faltiger tropff sayn.
Wer einen Apfel schält und ihn darnach nicht isset.
Auch bei der Jungfer sitzt und sie nicht kecklich küsset.
Hat bei sich eine Kann voll guten süßen Wein,
Und schenkt nicht, wann ihn dürst, von selben tapfer ein.
Der mag mir wohl ein Tropf und fauler Kerle sein').
Er müßte sein ein rechter Schelm,
Und war er auch von Schild und Helm,
Der war bei schönen Jumpfem und gutem Wein,
Und wollt dann noch sehr traurig sein^).
Bei Zincgräf heißt der Verspottete ein schlechter Joseph,
oder der Sammler gibt dem Vierzeiler die Überschrift , Schlecht
vnd einfältige leute^ Lehmann nennt den Toren einen faulen
Esel^). Die drei letzten Fassungen folgen sonst der Über-
lieferung Gruters.
Henisch arbeitet stark mit Bosenplütschem Dichtungs-
gut, ohne älteres und jüngeres volkstümliches Material zu ver-
schmähen, wie es die Überlieferung bot. Ein Beispiel für viele.
Beichten ohne rew,
liebhaben ohne trew,
Almosen geben zum gesicht :
Die werck taugen aUe nicht.
Vnd sind ftir Gott so angenem,
Als wenn ein Saw ins Juden Hauß kem^).
^) von Hörmann Schnaderhüpfeln aus den Alpen^ S. 292. Nr. 811.
^ Vgl. unten; Göttinger Beiträge 2, 60. Nr 27.
^ Die erste Fassung aus Gruterus, die zweite aus einem Stammbuch
von 1647 bei Sandvoß 85, 581.
*) Germania 19, 83.
*) ühl S. 384. 392. 428.
6) Uhl S. 330. Reimbüchlein S. XVin. Nr. 36.
80
Es beruht auf Zerfaserung alter Priamel und Verfitzung*)
heterogener Bestandteile; auch hier bestätigt sich, daß Anfänge
sich am längsten erhalten; individuelle Situation wird verwischt,
feinere Pointierung aufgehoben; der Verwässerung dient ein ganz
allgemein gehaltener Abschluß. Der Anfang ist ein Priamel des
vierzehnten Jahrhunderts: ,Minne ane trüwe und bihte ane rüwe^^j,
aber in der ümkehrung, die ihm Varianten des fünfzehnten Jahr-
hunderts, mnd. und mnl. Fassungen geben ^). Vers 3, 5, 6 hat
Hans Bosenplüt beigesteuert aus einem 12 zeiligen Priamel^).
Die trefflich humoristische Pointe fiel. An die Stelle der be-
schorenen Sau, die sicher manchmal schlechter Witz in die bis
zur Mitte des vierzehnten Jahrhunderts zu allgemeinem Ärger
mitten am Markt stehende Synagoge^), die , Judenschule', getrieben
hatte, tritt die Sau im Judenhaus. Der Vierzeiler erhält einen
lahmen Schluß, ohne daß man auf den Witz verzichtete, der
konsequent hätte fallen müssen.
Über solche allgemeine, nur der vorläufigen Orientierung
dienende Andeutungen lassen sich diese Bemerkungen hier nicht
gut hinausführen.
») John Meier II 3.
2) Graf f 8 Diutisca 1, 325. Mones Anz. 8, 54.5.
3) Wander 1, 297. Ebenso Zincgräf und Schottel: ühl S. 393.
434. Die älteren Fassungen siehe unten.
*) Keller, Schwanke Nr. 36.
^) Reicke, Geschichte der Stadt Nürnberg S. 225 f.
IV.
Weltliteratur und Priamel.
Das über die Klaft der Nationen hinweg-
gerichtete Ange erfaßt nur allznleiclit der
Schwindel, und man vergißt den wahren und
hauptsächlichsten Grandsatz aller historischen
Kritik, daß die einzelne historische Erscheinung
zunächst im Kreise der Nation, der sie angehört,
geprüft und erklärt werden soll und erst das
Resultat dieser Forschung als Grandlage der
internationalen dienen darf. Mommsen.
1. Allgemeine Bedenken gegen bisher geübte Vergleichung. 2. Ein Beispiel.
3. Indisches. 4. Biblisches. 5. Mittellateinisches. 6. Finnisches. 7. Ro-
manisches. 8. Folgerungen.
1.
Nicht nur in der sogenannten Stoflfgeschichte, auch bei der
Untersuchung der poetischen Formen widmet man den inter-
nationalen Zusammenhängen besondere Aufmerksamkeit. Beim
Ohasel, beim Sonett, beim Madrigal, bei gelehrten Entlehnungen
versteht sich das von selbst, und der Initiative des Einzelnen
pflegt überhaupt vorsichtige Überlegung in der Spruchdichtung
und in der Improvisation möglichst wenig zuzutrauen^). Die
Beleuchtung von Beceptionen und Benaissancen ist eine Haupt-
aufgabe der geschichtlichen Wissenschaft geworden; je mehr man
die Geschichte der Menschheit studiert und vertieft, meint
Bergmann^), desto mehr läßt sich erkennen, daß darin Nach-
ahmung häufiger ist als Erfindung oder originale Initiative.
*) Roethe, Reinmar von Zweter S. 247. von Waldberg, Die deutsche
Renaissance-Lyrik S. 2. S o c i n , Diwan aus Central- Arabien 3, 48. G u m m e r e ,
Beginnings of Poetry S. 352.
*) lia priamele S. 8.
Euling, Priamel 6
82
Aber es gibt auch Fälle, in denen Goethe recht behält, wenn er
von den Deutschen einmal sagt, keine Nation sei geeigneter,
sich aus .sich selbst zu entwickeln.
Der erste Geschichtsschreiber des Priamels hat bereits eine
bis in alle Einzelheiten wohlausgebaute Theorie aufgestellt, die
an Zuversichtlichkeit in der Tat nichts zu wünschen übrig läßt.
Höien wir Bergmanns Deduktionen.
Was er ,1a priamfele' nennt, ist, wie das Sonett, die Canzone,
das Bondeau von einem bestimmten Volke erfunden und von
andern nachgeahmt. Die Inder erfanden sie, wie nach Zesens
Meinung die Ebräer das Madrigal, Indien vermittelte sie Tibet und
China, die Chaldäer entlehnten und überlieferten die Gattung
den Hebräern, diese gaben sie durch die Bibel den Deutschen,
die deutsche Literatur verpflanzte sie nach Dänemark, Italien
und Frankreich, die Dänen brachten sie auch nach Island; nur
die Gelten können die Triaden erfunden haben ^).
Schade, daß von diesem luftigen Hypothesengebäude bei
näherer Prüfung nichts Stand hält und alles vor genauerer Be-
trachtung sich in farbigen Nebel auflöst. Bergmann hat den
Namen Priamel in der Literatur flüchtig aufgelesen, sich ein
willkürliches Bild des Gegenstandes gemacht, natürlich ohne
bloße Stilformen und selbständige poetische Gattung zu unter-
scheiden, und dann diese seine Vorstellungen von ,der Priamel'
der Weltliteratur aufgezwungen. Nicht einmal die nötigste
Orientierung kann man Dem zugestehen, der sich nicht ver-
gegenwärtigt hat, in welcher Epoche überhaupt diese Bezeichnung
entstanden ist^), und was sie in dem bestimmten einzelnen Fall
bezeichnet: der unter anderem meint, die Meistersänger hätten
,die Priamel' in die italienische Literatur verpflanzt^). Die
Wichtigkeit des Zusammenhangs deutscher Dichtung mit Italien
ist sicher nicht zu unterschätzen, aber er war ganz andrer Art*).
Die in Italien schon zu Anfang des dreizehnten Jahrhunderts
auftretenden Meister volkstümlicher Satire und volkstümlichen
) Bergmann S. 8. 16. 25. 27. 32. 34 Des Hehren Sprüche S. 197 ff.
2) Bergmann S. 28.
3) Bergmann S. 32.
*) Wackernagels Versuch, Formen der italienischen Lyrik aus
der deutschen abzuleiten, halte ich für widerlegt.
83
Humors hätten, theoretisch wenigstens, viel eher anf deutsche
Dichtung einwirken können. Für eine Behauptung, die Deutschen
hätten das Priamel oder die Prianiel durch die Bibel von den
Hebräern empfangen, citiert Bergmann Wilhelm Grimm^) als
Zeugen, der das nie gesagt hat, sondern nur zwei hier in Betracht
kommende Freidankstellen aus der Bibel belegt Bergmanns
Quelle für seine Kenntnis des deutschen Priamels in jener Unter-
suchung war eine alte Auflage der Literaturgeschichte von Kurz.
Für alle übrigen Behauptungen ist er den Beweis schuldig ge-
blieben und mußte ihn schuldig bleiben. Er wirft aller Art
Sentenzenliteratur mit dem Priamel zusammen; ihm genügt jeder
leise Anklang an die Anaphora, jede prosaische Aufzählung, um
alsbald die Gattung des Priamels als vorhanden zu konstatieren.
Folgerichtig müßten dann aber Bergmann und die in seinen
Spuren Wandelnden das Priamel aus dem ßigveda herleiten.
, Priameln^ nach Bergmanns Begriff finden sich auch da genug; z. B.
Wer auf Erwerb gereist war, kehret wieder,
und aller Wandrer Sehnen strebt nach Hause,
Man läßt, was halb getan, um heim zu gehen:
Das ist des himmlischen Bewegers Ordnung^).
Oder:
Die Pflugschar schafft das Brot, wenn man sie ziehet,
wer seine Füße regt, der 'kommt zum Ziele;
Dem Brahman bringt das Reden mehr als Schweigen,
ein Freund, der gibt, ist besser als ein karger^).
Der Einfuß schreitet schneller als der Zweifuß,
der Zweifuß überholt im Lauf den Dreifuß,
Der Vierfuß läuft dem Zweifuß auf der Ferse,
er schaut und steht, wo fünfe sich versammeln^}.
Zwei gleiche Hände schaffen nicht das gleiche,
und Schwesterkühe melken nicht das gleiche,
Ein Zwilling gleicht dem andern nicht an Stärke,
und zwei Geschwister schenken nicht das gleiche ^).
*) Bergmann S. 27. Grimm hat Freidank S. CXXII im Gegenteil
,die PriameP für alt und volksmäßig erklärt (Kap. 14. Äußere Form).
Gegen Bergmann Wendeler S. 35.
'-*) Geldner und Kaegi, Siebenzig Lieder des Rigveda S. 47; vgl.
Typus A des Priamelvierzeilers.
») A. a. 0. S. 156, 7; *) S. 156, 8. ß) S. 156, 9.
6*
84
Mit etwas literarhistorischer Fantasie und hinreichender
Fähigkeit ausgestattet, alle literarischen Gattungen durcheinander
zu wirbeln, könnte man von solchen Voraussetzungen aus das
Priamel als hieratischen Ursprungs erklären; denn mehrere
hieratische Lieder des Bigveda sind durchgehends in ,priamel4)aften
Strophen gebaut; z. B. das Lied an Indra, das nach Art der
Definitionspoesie *) die Eigenschaften des Gottes aufzählt und jede
Strophe zusammenfassend mit den Worten: „das ist, ihr Völker,
Indra" schließt^). Ähnlich ist der zweite Teil des Liedes an
Soma^) und das Lied an die Gewässer*) angelegt. Aber mit
dem Priamel sind solche Strophen ebenso verwandt, wie die
sogenannte Nürnberger Madonna mit der Göttin der Schönheit
aus der Pagode zu Bangalor.
Tatsächlich haben wir in den Liedern an Indra und Soma
Ausläufer der alten Chorpoesie, in der ein Urelement poetischer
Technik, Wiederholung, die wichtigste Bolle spielte^). Hier
liegen auch die Wurzeln der kirchlichen Litanei. Und jene oben
aus dem Bigveda ausgelesenen Vierzeiler beweisen nichts anderes,
als daß auch die älteste indische Poesie ebenso wie alle ver-
wandten Literaturen schon die einer jeden entwickelten Sprache
unentbehrlichen Formen der Aufzählung, der Anapher, des
Parallelismus, der Klimax u. s. w. gekannt hat^), da jedes Volk
Analyse und Synthese des Urteils übt. Selbst rhetorische Figuren,
die man stilistischem Baffinement zuzuschreiben pflegt, finden
sich in der primitivsten Literatur von Naturvölkern, z. B. die
Epiphora. Im samojedischen Märchen heißt es: Er sinkt auf
^) Meyer, Altgermanische Poesie S. 369.
2) Geldner und Kaegi S. 58.
3) A. a. 0. S. 111.
*) A. a. 0. S. 125.
^) von Biedermann, Goethe-Forschungen 3, 239 ff. 255 ff. Böckel,
Deutsche Volkslieder aus Oberhessen S. CX f. Bücher, Arbeit und Rhyth-
mus^i S. 44ff. 141. 303 ff. Bruchmann, Poetik S. 17 ff. Meyer, Die alt-
germanische Poesie S. 345. 354 f. Zu syrischen ,Priameln' (Uhl, Die
deutsche Priamel S. 173): Grimme in den OoUectanea Priburgensia 2, 12 f.
10, 62. (Häufung).
6) Kaegi, Der Rigveda (Leipzig 18812) g. 33, 153 ff.
85
den Schnee; dort liegt er, liegt er lange, lange; er steht auf,
fängt an zu gehen, geht, geht u. s. w. ^).
Dem ganzen Wust der sogenannten Priameln des Auslands
liegt meist nur diese allgemeine Ähnlichkeit zu Qrunde. Daß
solche Verwandtschaft zwischen fast allen sprachlichen Erzeugnissen
des Erdkreises besteht, hat man immer gewußt; der Vierzeiler
der unliterarisch -volksmäßigen Improvisation liefert auch ein
Beispiel weitverbreiteter gemeinsamer Formen; aber was sich
auf solchen Grundlagen Literarisches bei einzelnen Völkern ent-
wickelte, bedarf stets zunächst gesonderter Untersuchung, und
dabei gibt die innere Form, nicht allein die äußere den Ausschlag.
Scherer meinte^), nur die Form der Häufung im Sprichwort
und der Gnome lasse sich auch sonst außerhalb der germanischen
Poesie nachweisen. Wir können den fremden Literaturen viel
mehr zugestehen, und sind doch noch weit von der Konstatierung
eines Priamels als Gattung entfernt. Von einer Kombination jener
Stilformen in selbständiger Form und Verwendung dieser Form
in einer Gattung epigrammatischer Improvisations-Dichtung zu
besonderem künstlerischen Zweck, also von Vorhandensein des
Priamels, ist kein Beweis erbracht. Wenn durch absichtliche
Zusammenstellungen ähnlich gebauter Sprüche in der Über-
setzung^) der trügerische Eindruck hervorgerufen wird, als habe
man es mit einer wirklich bewußt ausgebildeten Gattung zu tun,
so genügt meist ein Blick in die Quellen solcher Centonen, um
zu erkennen, daß dieser Eindruck künstlich gemacht und in dem
ursprünglichen Zusammenhange nicht begründet ist. Notorisch
ist die ungeheure üngleichartigkeit in Herkunft, Zeit und Charak-
ter der von Böhtlingk gesammelten Sprüche. Die indischen
Sentenzen nützen der Priamelforschung methodisch vor der Hand
so wenig, wie die indischen Dramen der Untersuchung über
Nürnberger Fastnachtspiele. Ein zu bestimmendes Objekt durch
') Bruchmann, Poetik S. 73. Zur Beurteilung der Wiederholungen:
V. Biedermann a. a. 0. Comparetti, Der Kalewala S. 38.
^) Deutsche Studien 1, 346. Besonnen Meyer, Die altgerm. Poesie
S. 526.
^) Zur Kritik von Übersetzungen vergleiche den von Biedermann
3,245 f. mitgeteilten Fall. Traduttore traditore. Leopold vonSchröder,
Indiens Literatur und Cultur S. 396 ff. 667 ff. Kaegi, Der Rigveda S. 113 ff.
86
ein Unbekanntes zu erläutern, mehrt die Schwierigkeiten, anstatt
sie zu heben.
Ohne Kenntnis der deutschen Priameldichtung ist noch
Niemand auf den Gedanken gekommen, in außerdeutschen Spruch-
formen die angeblich gleichen als besondere Gattung auszuscheiden ;
also ist diese Klassifikation nicht aus der Natur und dem Charakter
der betreffenden ausländischen Literaturerzeugnisse erwachsen,
sondern künstlich von außen her an sie herangebracht. Sie mit
dem deutschen Priamel zu vergleichen, ist höchstens zu Gunsten
der literaturhistorischen Analogie erlaubt, ebenso, wie wenn man
etwa Christian Bouter den deutschen Cervantes nennen wollte.
Auf etwas wirklich dem deutschen Priamel recht Ähnliches, z. B.
die indischen Vierzeiler des Häla, hinzuweisen, haben andrerseits
wieder die Vergleicher zu ihrem Unglück völlig vergessen.
Werfen wir auf den ungefügen Schutt beigebrachter Parallelen
nur einen flüchtigen Blick, so ergibt sich, daß die Technik der
zum Beweis gegebenen Beispiele auf entwicklungsgeschichtlich
verschiedener Stufe steht, ohne daß die Vergleicher es bemerken.
Wir wollen davon absehen, daß zum Teil Prosa und Poesie,
Gnome, Sentenz, Bätsei, Quodlibet und Priamel zusammengeworfen
werden, und nur hervorheben, wie Parallelismus an und für
sich entwicklungsgeschichtlich grundverschiedene Formen hat.
Zum Parallelismus führt in Arbeitsgesängen die Wiederholung
des Arbeitsprozesses, beim Tanzlied das Musikalische, die Wieder-
holung der Tanzfiguren, bei den Finnen der improvisierende
Vortrag durch zwei verschiedene Sänger, in den litauischen Dainos
und der Volkspoesie anderer Nationen die Wiederholung des
Chores oder der Mitsänger, bei der alten romanischen Ballade
der Befrain, bei manchen Formen der Volksdichtung Differenzierung,
bei andern psychologischer Mechanismus. Unter diesen Formen
des Parallelismus nimmt der des Priamels, wie Kapitel VI ergibt,
als durch Improvisation entstanden, eine eigene Stellung ein.
Der oft hervorgehobene Parallelismus in germanischer^) und
westasiatischer Dichtung^) ist nicht ein und dasselbe; dort führt
') Meyer, Die altgermanische Poesie S. 328.
*) Bruchmann, Poetik S. 35 ff. 38. von Biedermann 3, 244 ff.
D. H. Müller, Die Propheten. Wien 1896. S. 191 ff. Döller, Rhythmus,
Metrik und Strophik in der bihlisch-hehräischen Poesie. Paderborn 1899.
87
er zur Strophenbildung, hier ersetzt er sie, wenn auch Spuren
der Strophenbildung nicht ausgeschlossen sind. Ebenso sind
nicht alle Formen der Wiederholung und Häufung identisch.
Es ist doch nur Spiel mit Worten und Begriffen, Formen der
Wiederholung aus slavischer Literatur, über die Miklosich^)
meisterhaft gehandelt hat, als Beispiele anaphorischer Priamel auszu-
geben^). Aus unklar gemengtem Material läßt sich nimmermehr
eine klare Erkenntnis gewinnen^).
Selbst wenn man behaupten wollte, das deutsche Priamel
hätte nur seine Grundform der indischen Gnomik entlehnt, so
widerspricht dem die Beobachtung der Ubiquität jener Elemente
in fast allen Sprachen und Literaturen.
Eine andere Frage bleibt es, ob auch auf dem Gebiet der
Gnomik wandernde Stoffe anzunehmen sind. Bisher schwebt
die These vom Übergang indischer Sprüche ins Ghaldäische noch
völlig in der Luft. An und für sich ist der Übergang ja möglich,
aber um eine ganze Theorie darauf zu stützen, müßte man doch
ein einigermaßen genügendes Material haben. Das eine oder andre
Beispiel genügte noch nicht. Daß biblische Sprüche mit der
christlichen Lehre in die Literaturen des Abendlandes übergingen,
ist selbstverständlich; Priamel aber nicht, weil die biblische
Literatur, wie sich zeigen wird, eben selbst die Gattung nicht
gekannt. Natürlich muß man unter Priamel nicht jede witzige
Sentenz von ein paar Worten oder jeden beliebigen Satz ver-
stehen, der ein paar parallele Bestimmungen besitzt. Ge-
legentliche Aufzählungen, Triaden, Vergleiche u. s. w. können
auch noch keine selbständige Priamel- Gattung ausmachen; Herder,
auf den man sich unvorsichtig berufen hat, behauptete mit Becht
nur, daß in den Sprüchen Salomons und im Sirach schon der
Keim der Priamel sei^). Man kann sich dafür ebenso gut auf
S. 97. Zum Unterschied des Parallclismus der Form und des Gedankens:
Norden, Kunstprosa 2, 816 ff.
*) in den Denkschriften der Wiener Akademie Bd. 38.
«) Uhl, Die deutsche Priamel S. 186 f.
^) Grosse, Die Anfänge der Kunst S. 42.
*) Suphan 16, 228. Wenn Herder hinzusetzt; , woher ihre Form
auch genommen scheint', so irrt er hier, wie überhaupt in der Frage der
Priamelform.
88
den Bigveda als auf das Chinesische berufen. Von einer wissen-
schaftlichen vergleichenden Behandlung der Gnomik verschiedener
Literaturen sind wir trotz der gelegentlichen Beiträge von Zell,
Imanuel Bekker, B. Köhler, Kaegi, Suringar, Zacher,
u. A. noch weit entfernt; die meisten bisherigen Versuche bewegen
sich innerhalb der Grenzen eines bösen Dilettantismus^). „Noch
liegt nicht einmal das zureichende Material sicher und gesichtet
vor, soviel Versuche zu Sammlungen, bisweilen von kolossalem
Umfange wie W anders gigantische Arbeit für Deutschland, wir
auch weiterhin bei den einzelnen Nationalliteraturen zu ver-
zeichnen haben werden^)." Das gilt noch jetzt. Die heutige
Überschätzung^) Wanders zeigt, wie weit wir noch von frucht-
bringender Arbeit entfernt sind*). Es ist traurig, daß diese
,gigantische', aber kritiklose Lebensarbeit des rastlosen Mannes
mehr Schaden als Nutzen zu stiften scheint; ein ungeheurer
Teil der vermeintlichen Sprichwörter entpuppt sich als heterogenes
Material: da stehen neben wirklichen Sprichwörtern selbstgemachte,
Worterklärungen , Bätsei, Schnaderhüpfel, Zaubersprüche, Segen,
Inschriften, Kindersprüche, Kettensprüche, alliterierende Formeln,
Citate, Kalenderverse, Auszüge aus Witzblättern, Kalauer, Stamm-
bucheinträge, Liederverse, Anekdoten, ündeutsches u. s. w. u. s. w.
*) Nicht alle so schlimm wie die Histoire generale des proverbes,
adages, sentences, apophtegmes, derives des moeurs, des usages, de Fesprit
et de la morale des peuples anciens et modernes, accompagnee de remarques
critiques, d'anecdotes, et suivie d'une notice biographic sur les poetes usw.
von dem Chevalier de la legion-d'honneur M. C. de Mery, Paris 1828, in
3 Bänden. Im 2. werden auch die deutschen Sprichwörter behandelt. Einige
Kost-Proben: Nr. 13: „Eichen Lob stinkt;" oder Nr. 11: „Müßigang ist
des Tunfels Euhebank;" oder, um die Höhe der hier geübten Völker-
psychologie zu chai-akterisieren : S. 151 über Deutschland und Wien: „Le
combat du taureau est le spectacle favori du peuple." Erst seit 1831 wird
deutsche Literatur gründlicher in Frankreich bekannt. Rössel, Histoire
des relations literaires entre la France et l'Allemagne. Paris 1897 S. 1G9 ff.
«) Gosche, Archiv II 277 ff.
^) Von andern zu schweigen, nennt Maaß in einer Abhandlung über
Allegorie und Metapher im deutschen Sprichwort (Dresdener Gymnasial-
programm 1891) S. 2 W anders Buch eine nationale Edeltruhe.
*) „Wenn irgendwo in der Volkskunde, so ist in der Parömiologie die
monographische Behandlung die Voraussetzung für jeden Fortschritt,"
Friedrich S. Krauss, Romanische Forschungen 16, 1, S. 232,
89
alles in wirrem DurcheinaDder. Übertroifen werden wird Wand er
wahrscheinlich nur noch von Franz Freiherrn von Lipper-
heide^j.
So wäre es verfrüht, zu vergleichen, was man noch nicht
kennt. Für das Deutsche ist liier wahrlich noch kein Bedürfnis
nach Erweiterung der wissenschaftlichen Ziele vorhanden, da die
nächsten, die Erkenntnis der Grundlagen und der einzelnen Zweige
der Gnomik, noch nicht erreicht sind. Nur Arbeit von innen
heraus kann fördern. Wenn es gelingt, das Wesen des Priamels
aus seiner Entstehung und die Entwicklung seiner Form aus
seinem Wesen zu erklären, dann braucht man zunächst Fremdes
nicht heranzuziehen. Das allen Literaturen Gemeinsame liegt
ofb zu weit zurück, um im einzelnen Ergebnisse zu liefern.
Dazu kommen besondere Eigenschaften der gnomiscben Lite-
ratur^ welche die vergleichende Untersuchung erschweren. Die
volksmäßige Gnome ist zu sehr das Erzeugnis ganz bestimmter
Bedingungen, als daß sie in der Begel international werden
könnte. Sie prägt häufig am besten den nationalen Charakter
in kürzester Form aus. Deshalb zitiert man ein fremdes Sprich-
wort als fremdes, aber modelt es im allgemeinen nicht um.
Habent hoc peculiare pleraque proverbia, ut in ea lingua sonare
postulent, in qua nata sunt: quod si in alienum sermonem
demigrarint, multum gratiae decedat: meint Erasmus und ver-
gleicht sie mit den Weinen, die an der Quelle getrunken werden
müssen^). In der Volkspoesie kommt nach Hegel die mannig-
faltige Besonderheit der Nationalitäten zum Vorschein*). Die
germanische Gnomik beruht auf einer Gegenständlichkeit des
Denkens*), wie sie in gleicher Vollkommenheit nur in Goethes
Vorstellungsart zur Erscheinung gelangt ist: der kürzeste Weg
*) Deutsche Literatur zeitung 24, 654.
3) Vgl. Pitre, Proverbi Siciliani 1 S. CLVIII f. Gervinus 2», 24.
von Hör mann, Volkstümliche Sprichwörter und Redensarten aus den
Alpenlanden. Leipzig 189L S. XII f.
3) Aesthetik 3, 435.
*; Koegel P, 173. Daß auch andere Nationen im Sprichwort diese
Abneigung gegen das Abstrakte teilen, wird nicht auffallen. Zs. für Völker-
psychologie 9, 214. Neue Heidelberger Jahrbücher 8, 160. Aber zwischen
der Auffassung der Wirklichkeit durch eine jugendfrische und eine yer-
lebte Sprache besteht doch ein Unterschied.
90
führt vom Wort zum Begriff, sie scheinen innig verschmolzen.
Nur wo Art und Gegenstände dieses Denkens, die umgebende
Natur und das Leben, dieselben wären, könnte man die regel-
mäßige Entlehnung begreiflich finden. Aber gerade diese Faktoren
wechseln von Land zu Land, von Volk zu Volk. Das scheint
also gegen eine Theorie der Entlehnungen zu sprechen. Bei
weitem größer war bis jetzt der Gewinn, den man für die Ver-
schiedenheit nationalen Denkens und Empfindens aus den Zeug-
nissen der Gnomik ziehen kann. Ein treffendes Beispiel gibt
die Studie über italienisches und deutsches Sprichwort von
Kradolfer^), der zeigt, wie sich die beiden Völker das Ideal
des Mannes gebildet haben: das deutsche Ideal ist der recht-
schaffene Mann, das italienische der galantuomo. Er bezeichnet
galantuomo als das italienische Sprichwort in nuce. Den Unter-
schied nnsrer Gnomik von der hebräischen, griechischen und
römischen hat Gervinus erörtert^). Die alte indische Spruch-
dichtung ist von der germanischen recht verschieden. Während
die deutsche Literatur eine ziemlich unverfälschte altvolkstümliche
Gnomik besitzt, gerät die indische Lehrdichtung in den Bann
theologischer Dogmatik und gespreizter Hofpoesie ^). Das Gebundene
herrscht auch in den glänzenden Sprüchen Bhartriharis aus einer
Epoche später Renaissance*). Der Orientale reflektiert, der Germane
beobachtet; hier gedrungene Kürze, dort zerfließende Weit-
schweifigkeit; hier konkretes Beispiel, dort trotz aller stilisierter
Bealistik Lehre; hier Formmangel ^^ >doi;i'-veinH^}ckelt künstlicher
Formen Überfluß; hier die Gnomik noch reich an Zügen primitiver
Zustände, dort das Erzeugnis bereits fortgeschrittener Kultur^).
Das sind einige Züge, die sich gleich aufdrängen. „Der höchste
Charakter orientalischer Dichtkunst," sagt Goethe in den Noten
und Abhandlungen zum West - östlichen Divan , „ist was wir
') Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft 9, 185 ff.
249 f. Vgl. Bellis Sonett ,Er galantuomo'.
3) 1X5 23 ff.
3) Gustav Meyer, Essays 1, 290 fif.
*) Max Müller, India what can it teach us? S. 90. Oldenberg,
Die Literatur des alten Indien S. 221 if. 286 f..
*) Man yergleiche, was Rohde, Der griechische Roman S. 154 über
die pedantische Zierlichkeit und ausschweifende Üppigkeit orientalischer
Poesie sagt.
91
Deutsche Geist nennen, das Vorwaltende des oberen Leitenden;
hier sind alle übrigen Eigenschaften vereinigt, ohne daß irgend
eine, das eigentümliche Recht behauptend, hervorträte. Der Oeist
gehört vorzüglich dem Alter, oder einer alternden Weltepoche."
Wie verschieden nationaler Geschmack vollends das Kolorit
der Gnome, Witz, Humor, Satire, Laune, bestimmt, bedarf nur
des Hinweises. „Nirgends reizt diese Idiotistische Schreibart mehr,
ja nirgends ist sie unentbehrlicher, als bei Schriftstellern der
Laune, bei Dichtem von eigner Manier, und in dem Vortrage
für den gemeinen Mann, der auch in Schriften leben soll. Nimmt
man diesen das Idiotistische ihrer Sprache, als einer lebendigen,
als einer angcbohrenen, als einer Nationalsprache: so nimmt man
ihnen Geist und Kraft*)." Allerdings verdient hervorgehoben
zu werden, daß die indische Spruchliteratur fast alle Motive der
Gnomik mit einer ganz staunenswerten Reichhaltigkeit ausge-
bildet hat. Da finden sich die Motive von der Wirkung des
Alters, von Personen und Dingen, wovor man sich zu hüten hat,
von irdischen Genüssen, von Zierden der verschiedenen Stände,
die Motive: der Brave, der Ehrenwerte, der würdige und der
unwürdige Genosse, das gute und das böse Weib, Passendes und
Unpassendes, Zusammengehöriges und Gegenteil, Unmögliches,
vergebliche Arbeit, ideale Zustände, Ursachen, Wirkungen u. s. f. ^) :
alles wie in der älteren deutschen Gnomik. Teilweise sind auch
sie Improvisationen, wie die Sprüche Buddhas und seiner Jünger^).
Aber eins aus dem andern abzuleiten, hat ernstlich noch niemand
versucht und wird auch wohl nicht möglich sein. Gemeinsamer
Vorstellungsgehalt liegt ohne Zweifel zu Grunde, parallele Ent-
wicklungen, deren verschiedener Charakter immer noch so groß
ist, um die Selbständigkeit völlig zu entscheiden, haben die indische
wie die deutsche Gnomik bereichert.
Die wissenschaftliche Vergleichung indogermanischer Gnomik
hat sich regelmäßig auf den Inhalt der Sprüche beschränkt.
Spezifische Formen scheinen, von gelehrten Entlehnungen abge-
>) Herder 2, 45 Suphan.
*) Abhandlungen für die Kunde des Morgenlandes, herausgegeben von
der deutschen Morgenländischen Gesellschaft. IX. 4. Inde^^ %\\ y. 3öhtlin^ks
Indischen Sprüchen von August Blau.
3) Oldenberg, Buddha S. 197,
92
sehen, wie bei den internationalen Erzählungen die Einkleidung,
in der Eegel nicht zu wandern. Ein gemeinschaftlicher indo-
germanischer Spruchschatz ist eine ebenso sichere Tatsache^),
als gemeinsame Grundlagen der Sprache. Aber die Art dieser
Beziehungen, der Grad der Verwandtschaft, Entlehnung und Einfluß,
die Schlüsse, die daraus zu ziehen sind, das alles zu untersuchen,
ist leider noch nicht in Angriff genommen^). Dazu bedürfte es
mindestens einer reinlichen Scheidung der Elemente, der Zuriick-
führung der Gnome auf ihr Motiv, der Verfolgung dieses Motivs
in seiner Entstehung und Ausbildung und der Vergleichung seiner
verschiedensten Einkleidungen. Mit einfacher Anwendung lingu-
istisch comparativer Methode auf Probleme der Stoff- und Literatur-
geschichte wäre es sicher nicht getan ^). Hoffentlich befreit uns
der Fall der orientalischen Hypothese in der Ethnographie und
Linguistik auch von den orientalisierenden Theorien in der Poesie
und vergleichenden Literaturgeschichte.
2.
Ein Beispiel möge erläutern, wie im einzelnen Fall durch
äußerliche Vergleichung nichts gewonnen wird. Es gibt auf
unserm Gebiete Entsprechungen, die der Konstatierung jedes
direkten Zusammenhanges spotten. Die Tatsache ist nicht neu.
W. Grimm hatte mit feinem Takt im Hinblick darauf eine all-
gemein vergleichende Behandlung der Freidanksprüche unterlassen:
„Wollte man den Blick weiter bis zu den Sentenzen liebenden
Arabern und dem Oriente überhaupt ausdehnen, so würden An-
klänge ähnlicher, selbst Beispiele völlig übereinstimmender Sprich-'
Wörter kaum fehlen. Warum sollte der wunderbare Zusammenhang
in der Entwicklung des Geistes, den wir zwischen edlen Völkern
auch da, wo wir ihn nicht äußerlich erklären können, bemerken,
hier gerade sich verleugnen?"^). So gefällt sich indische wie
*) Meyer, Die altgermanische Poesie S. 454. 457 ff.
^) Am wenigsten, wo man es suchte, bei Rem y, The influence of India
and Persia on the poetry of Germany. New York 1901.
3) Vergl. was Schönbach, Die Anfänge des Minnesanges S. 4 gegen
R. M. Meyers Sammlungen einwendet.
*) Freidank S. CXI.
93
deutsche Dichtung in ähnlichen Definitionen weiblicher Schönheit,
wenn es dort heißt:
Ein Gesicht, wie Vollmond klar,
Augen, wie die Lilie schmachtend,
Schwarz wie Bienenschwarm das Haar,
Farbe, die das vGold verachtet;
Sanft gehügelt Brust und Hüfte,
Gleich des Elefanten Stirne,
Und die Rede zart wie Düfte
Sind die Zierden einer Dirne*).
und deutsch:
Ein haupt von Beheimer land,
Zwei weisse ermlein von Prafant
Und ein prust von Swaben her,
Von Kernten zwei tuttlein ragcnt als ein speer,
Und ein pauch von Osterreich,
Der do wer siecht unde gleich,
Und ein ars von Polan
Und ein peierische fut doran
Und zwei fuszlein von dem Rein:
Das mocht wol eine schone frawe sein').
Bei individueller Durchführung, gleichen sich Motiv und
Anlage; und doch können wir in der deutschen Literatur eine
selbständige Entwicklung dieser „Definitionspoesie" nachweisen.
Ausgezeichnet hat Beschreibungen der Schönheit im griechi-
schen Boman Erwin Rohde^) behandelt. Es lockte ihn zu erfahren,
wann und woher diese Auspinselungen der Gestalten ihren Ursprung
genommen haben, und war geneigt neben Einfluß physiognomischer
Lehrbücher an Einwirkung orientalischer Neigungen zu denken.
Freilich unterschäzte er dabei die allgemein volkstümlichen Motive.
Das orientalische Beschreibungslied, wie es heute noch z. B. in
Palästina gedichtet wird*), bewahrt die Züge echter Ursprünglich-
keit. Ein Bauer in Endur in der Höhle der Zauberin sang:
^) Bohlen 1, 5. Es ist der von Bergmann S. 6 wiedergegebene
Sprach Bhartriharis.
2) Cgm 713, 47a. Umgearbeitet in PG 41b 1; Pfeiffers Text
(Futilitates S. 7) gibt ein unrichtiges Bild vom Alter dieses Priamels.
Rohere Formen und stoffgeschichtliches Material bei Reinhold Köhler,
Kleinere Schriften 3, 31 ff.
3) Der griechische Roman S. 150 ff. 530. Dazu Erich Schmidt,
Lessing P 528 ff.
*) Dalman, Palästinischer Diwan S. XIL
94
Ich frage dich bei Gott, dem Allerhöchsten,
o Garstiger^), willst du nicht von meinem Herzen wegnehmen den Rost?
Ich verzichtete auf die Rinder und die Pferde, auch Kamele,
selbst das Geld vor euch verleugnete ich nicht.
Wolltest du den Besitz, kam zu dir mein Eigentum
von dem Weideplatz, nicht fand man es morgen.
Ich bitte von Gott, daß du werdest mein Besitz,
und ich rufe mit lauter Stimme: ich bin der glücklichste!
Ich küsse dich, und du mehrst meine Liebkosung.
Das Gesicht ist hell wie ein Vollmond, wenn er anfängt,
und ich setze dir auf den Scheitel meinen Neumond,
ein Werk von Abu Hanna, von Gold und zwar baarem.
Das Haar auf den beiden Schultern ist wie die Seile,
es gleicht den Federn des Unwetters in der Nacht der Finsternis,
seine Augenbrauen die Linie der Feder in Künsten,
die Tätowierung des Siebengestims ist darüber mit Absicht angebracht,
und das Auge schwarz, nicht bedeckte es Schielen,
und ein Nasenring in dem Nasenflügel — darin ist Smiiragd,
und Zähne wie Perlen, ihre Aufreihung ist mir süß,
und du sagst von ihnen: Hagelkörner.
O ihr Hals — der Hals der Antilope, die aufgeschreckt wurde,
wenn sie den Jäger des Morgens sah, welcher jagt,
die Schultern sind feist, die Hände ein Werk des Schöpfers,
und die blaue Tätowierung ist auf ihnen zerstreut.
Auf die Brust schreibt er He und Mim und Däl,
ihre Gazellen weiden und auch die jungen Kamele.
Der Nabel ist eine Büchse mit Zibet in Künsten,
der Moschus und der Kampfer strömt von ihm aus,
und der Leib wie Falten von Seide in Strähnen,
weicher als Seidenstoff oder gekardete Baumwolle, I
die Schenkel, die Stützen des Mutterleibs, sind mir Gefangenschaft,
die Liebe zur Heiterkeit oberhalb seiner Fersen erschreckt,
und Füße vorn, ein Werk des Schöpfers,
wer wohl sieht (wie) sie auf der Wüste — einen,
vom Osten bis zum Westen, zum Norden
bis zum Süden, welcher sammelt bei Muhammed.
Dies ist die Beschreibung des Schönen, nicht ist darin ein Fehl —
o ihr, die ihr die Stimme hört, benedeiet Muhammed!') j
Die leblose Manier byzantinischer Autoren, die einzelne
Stücke nacheinander aufzählen, ist in orientalischen Geschichts-
') Die Geliebte wird unter dem Bild einer männlichen Person vor-
gestellt. DalmanS. Xin.
«) Dalman S. 111. Vergl. S. 133 f.
95
werken vorgebildet^). Der orientalischen Schönheitsmalerei gegen-
über, die in Gedichten aus den galanten Perioden europäischer
Literaturen ihr Seitenstück findet ^j, übt die hellenistische Poesie
noch bewußte Beschränkung; und sie durfte es, weil ihr ein
Mittel der Veranschaulichung zu Gebote stand, das Bohde ein
echt griechisclies nennt: man greift auf die Typen der Plastik
zurück. So läßt Anakreon den Bathyllos entstehen ;. den Hals
nimmt er von einem Adoüis, Brust und Hände von einem Merkur,
die Hüfte von einem PoUux, den Bauch von einem Bachus, wie
Lessing im XX. Abschnitt seines Laokoon ausführt.
In ähnlicher Weise verfährt das oben gegebene deutsche
Priamel, indem es auf die Typen ethnographischer Poesie ^) zurück-
greift, die sich in Stammes- und Ortsneckereien*) und ver-
wandten Erscheinungen^) bei uns wie anderwärts bis auf die
Gegenwart fortpflanzt. Überhorst stellt unser Priamel in später
Fassung (als Stammbuchhumor!) unter die Kategorie des Scherzes
zum Zeigen von Wissen und meint: „Das Bewußt-Komische be-
steht in der Schamlosigkeit der letzten Verse; daß aber der,
welcher diesen Spruch verfertigte, damit seine durch eigene
Beobachtung (?) erworbene genaue Kenntnis des Körpers der
Frauen der allerverschiedensten Gegenden hat zeigen wollen,
darüber dürfte wohl Niemand im Zweifel sein" ^). Der alte Spruch
vermeidet das leere Benommieren mit entfernten Ländern und
beschränkt sich auf deutsche Landschaften und Polen. Ob das
Mittelalter etwas Bewußt-Komisches in den letzten Versen ge-
funden hat oder hat ausdrücken wollen, ist im Hinblick auf
1) Auf die orientalische Poesie ist Eohde nicht eingegangen.
3) QF 56, 73 ff. Erich Schmidt S. 531.
^) Ethnographische Zusammensetzung des Unnenschen im Babylonischen
Talmud (hg. von Goldschmidt) 7, 155.
*)Elard Hugo Meyer, Deutsche Volkskunde S. 336 f. Hessische
Blätter für Volkskunde 1, 54. Marriage, Volkslieder aus der badischen
Pfalz S. 379. Nr. 285. Handel mann, Topographischer Volkshumor aus
Schleswig-Holstein. Kiel 1866. Grenzboten 58, 325 f. Fast jede Sammlung
von Volkspoesie hat entsprechende Beispiele. Bei Naturvölkern: Talvj,
Versuch S. 71. Cats, Spiegel der alten und neuen Zeit. Hamburg 1711.
S. 132 ff.
») Göt tinger Beiträge 2, 70. Nr. XLVni. KpuirtdSi« 3, 260. 4, 121.
^) Überhorst, Das Komische 2, 544.
96
Tannbäasers Freiheiten derart^) recht zweifelhaft. Natürlich hat
auch kein weitgereister Stammbnchpoet dieses Priamel verfertigt,
sondern es ist aus ethnographischer volkstümlicher Poesie hervor-
gewachsen. Im Faustbuch buhlt der Held mit sieben ^Teuffelischen
Weibern^ verschiedener Nationalität, „wie man wohl in Schemper-
liedein die besonderen Vorzöge der Frauen hier und dort rühmte
und zu einem Idealgebild vereinigtet^). Schönheitsbeschreibung
mit Ausscheidung des Geographischen wird im heutigen Impro*
visationsvierzeiler mit" Vorliebe gepflegt.
Aage wie Kersche,
£d Hals wie Schnee,
£ purpurrot Mäulche:
Was will e schöns Mädche meh^)?
Zwoa blUaweißi Zanla,
Zwoa brinroate Wangla,
Zwoa Äugla wia Kühl:
A scheans Schatzerl wars wul^).
Schö molat und fein
Muaß mei Schatz a mal sein;
Und halt goar so schean eng um die Mitt,
Sist möcht is nit.
Schö hoach auf da Brust,
Daß i an iar hab a Lust,
Und net z' groß und net z' kloan,
Muaß mi ken ganz alloan.
A suaßs Göscherl muaßs habn,
Zan Schmatzerl vagrabn,
Und di Augn schea braun:
Wir i allewal eini schaun.
Was geaht iar no o :
Als a Kiterl blitzbloo,
Und a Spenserl a neigs.
Und a Herzerl a treus.
Das Deandl is kloa,
Aba aufrichti schoa;
Was is mit da Läng,
Wans net aufrichti sent^)?
1) HMS 2, 84b. 86b. 87a. 93a. Vergleiche das unten angeführte
Beispiel der Kolmarer Handschrift.
3) Erich Schmidt, Charakteristiken 1, 28.
3) Gl eck, Lieder und Sprüche aus dem Elsenzthale S. 60. Nr. 127.
*) Werle, Almrausch S. 112.
5) Werle, Almrausch S. 446.
97
Mit volkstümlichen unliterarischen Ornndlagen dieser Art
trafen Einwirkungen mittellateinischer Literatur zusammen, die
ihrerseits vielleicht durch das Hohelied und theologische Literatur
mit orientalischer Schönheitsmalerei Bekanntschaft gemacht haben
konnte. Die altgermanische Dichtung scheint hier allerdings über
typische Anfange nicht hinausgekommen zu sein^). Aber die
lateinische Vagantenpoesie kennt schon Schönheitsbeschreibung:
Nature studio
longe venustata
contendit lilio
rugis non crispata
frons nivea;
arcus supercilia
discriminant gemelli.
Omnes amantium
trahit in se visus,
pandens remedium
verecundi risus,
lascivia simplicis
siderea luce micant oceUi.
Ab utriusque liiminis
confinio
moderati libraminis
indicio
naris eminentia
producitur venuste
quadam temperantia,
nee nimis erigitur,
nee premitur iniuste.
AUicit duleibus
verbis et oseulis,
labellulis
eastigate tumentibus
roseo neetareus
odor infusus ori;
pariter eburneus
sedet ordo dentium
par niveo candori.
Certant nivi, mieant lene
pectus, mentum, eolla, gene^.
*) Meyer, Die altgermanischc Poesie S. 112.
3) Carmina Burana S. 130. Vgl. Mones Anzeiger 7, 287, Nr. 23.
Seh er er, D. St. II 445. Zeitschr. f. d. Altert. 18, 127. Germ. Abb. 13, 12.
Enling, Priamel 7
98
Leib, Mund, Zähne, Augen, Kinn, Kehle der Geliebten preist
Heinrich von Morungen^). Wolfram singt:
sus künden si do vlehten
ir munde, ir brüste, ir arm, ir blankiu bein^).
In höfischer Lyrik spielen solche Beschreibungen eine Eolle^).
Neidhart und Tannhäuser steht Walther gegenüber. Ver-
geistigtes Empfinden redet aus seinem Lied (53, 25):
Si wundervoll gemachet wip,
daz mir noch werde ir habedancl
ich setze ir minneclichen lip
vil werde in minen h6hen sanc*).
Er hat die Geliebte im Bade gesehen.
Neuen* Parbenvorrat lieferte der späteren Katalogpöesie die
fein stilisierte Kunst der höfischen Erzähler. Berühmt ist die
Schilderung Engeltrauts ^), die allerdings schon nicht mehr naiv
bleibt^). Lange hat die Nachahmung solcher Schilderungen
nachgewirkt. Suchen wirt liefert ein Paradestück, das sogar in
einen späten Wigamurtext aufgenommen wird^) und als Muster
einem andern Spruchgedicht vorgeschwebt zu haben scheint^).
Mutwillig und humoristisch gerät eine ähnliche Beschreibung im
Mynnen KlefiFerer^). In den Meisterliedern der Kolmarer Hand-
schrift wirkt intime Schönheitsbeschreibung unbewußt komisch,
üesegnen sollen da heute den Dichter, wie er singt ^"), zwei
blanke, runde Arme, ihre zarten Brüstlein, ihr schöner Gang,
») MF 122, 14 ff. 141, 1 f.
2) Lieder 4, 1 f. „Man sieht Wolfram von Eschenbach Beschreibung
in Handlung auflösen." Erich Schmidt, Lessing P 530.
3) Weinhold, Die deutschen Frauen IP 220 ff. Anzeiger 7, 134 ff.
Werner, Lyrik und Lyriker S. 522 ff. QF 56, 78. Grazer Studien zur
deutschen Philologie 5, 107 ff.
'*) Burdach, Reinmar und Walther S. 153. Schönbach, Bei-
träge 2, 55 ff.
5) Engelhardt 2966 f.
6) Wolf f zur Birne XV.
7) QF 35, 29 ff. Germania 34, 438. Das Unrichtige wieder ADB.
37, 779.
®) Meyer und Mooyer, Altdeutsche Dichtimgcn S. 44. Aber die
Hände sind schön weiß wie Semmelmehl.
^) Keller, Erzählungen aus altdeutschen Handschriften S. 123.
1») Bartsch S. 347. Nr. 59, 11.
99
und sogar ihr Büschlein, danach sein Herz gerungen hat. Im
Liederbuch der Hätzlerin ist der übliche minnigliche Überschwang
dieser Richtung schon konventionell geworden, wie er dann in
Görres' Volks- und Meisterlieder übergingt), und in volksmäßiger
Dichtung klingen diese Töne lange nach. In einem der von
Hoffmann sogenannten Gesellschaftslieder lautet die 2. Strophe:
Dein goldgelbs Haar,
Dein Äuglein klar,
Dein Stirne rund,
Dein roter Mund,
Fala la lal
Dein Zähnlein weiß,
Dein Wänglein heiß.
Dein Hälslein zart.
Dein Brüstlein hart,
Gebn mir groß Freud
Zu aller Zeit.
Fala, la la^)!
Zu verknöcherter Katalogisierung gelangen die Schönheits-
stücke seit dem 14. Jahrhundert, wobei die Zahlen zwischen
7 und 72 schwanken -j. Gegen minniglichen Überschwang reagierte
früh bewußt und ebenso übertreibend der Naturalismus der bürgere
liehen Dichtung mit Parodie und Ausdehnung dieser Definitions-
poesie auf ein Gebiet, dem sich literarische Kunst mit Bewußtsein
fern hält*).
1) Hätzlerin S. 37. 55.
2) I- (1860) 29. Nr. 15. Vergleiche Stammbuchverse im Anzeiger f.
K. d. d. V. 1881, 48; zurückzuführen auf ein Priamel des 15. Jahrhunderts.
Auch das Lied ,Lieblich hat sich gesellet'. Bergreihen hg. von John Meier
S. 16. 38. 40. 108. G er V in US IP 495. Liebeslieder bestehen ganz aus Be-
schreibungen: Talvj, Versuch S. 67. 69. — Eustache Deschamps,
Oeuvres 11, 272 f. Vgl. die angeführten Vierzeiler aus Steiermark.
3) Reinhold Köhler, Kleinere Schriften 3, 22 flp. Hans Sachs-
Forschungen S. 34 ff. Kurz zu Fischart 3, 99, 14.
*) Voßler sagt im Anschluß an Bellis Sonette: „Der Transteveriner
ist arm an Ausdrücken und Wendungen. Die wenigen, die er hat, sind
dafür um so gesalzener. Eine große Zahl von Begriffen werden durch Termini
aus dem sexuellen Gebiet metaphorisch bezeichnet. In jedem Satz kann
man sagen sind ca. zwei oder drei schmutzige Worte.** Neue Heidelberger
Jahrbücher 8,166. Kpu7rca'8w 2, 289 ff. Vgl. volkstümliche Rätsel : KpuTirciSta
1, 360 ff. 2, 228 ff. Köhler, Kleinere Schriften 3, 535 ff.
100
Parodie der LiebesdichtuDg ist volksmäßig. Schnaderhüpfel
und Fastnachtspiel üben sie^). Auch parodierende Beschreibung
liefert der alpine Vierzeiler:
Schön kurz und schön dick,
Schön rot untan Gsicht,
Schön hoch uman Magn:
A solchs Deandl muasz i habn'\
Die hier angedeutete Entwicklung hat man sich zu ver-
gegenwärtigen, wenn man die Derbheit des oben mit einem
indischen Spruch verglichenen Priamels als anstößig empfindet;
sie ist verhältnismäßig ehrbar.
So ergibt sich denn, selbst wenn man Einflüsse der alt«
testamentlichen und französischen Dichtung auf die Vagantenpoesie
einschließt, doch für das Deutsche eine vom Indischen jedenfalls
direkt unabhängige Entwicklung des Priamels von weiblicher
Schönheit. Gegen Entlehnung spricht der Zusammenhang mit
nationalen Stammes- und Ortsneckereien, die wie das Spottlied
uralt und wohl überall vorhanden sind^).
Was eigentlich der literarhistorischen Erklärung dient, das
wäre nicht einmal „die nackte Tatsache der Entlehnung fremder
Kulturelemente, sondern die Disposition des Volksgeistes, welche
diesen in bestimmten Zeitpunkten zur fruchtbringenden Aufnahme
solcher ausländischen Einwirkungen geneigt und fähig machte"^).
„India and Persia were magic names to conjuie with; their languages
and litteratures were a book with seven seals to mediaeval Europe" %
Die tatsächlichen Mittelglieder einer (etwa von Indien aus an-
genommenen) Entwicklung des literarischen Motivs sind in unserm
Falle wichtiger und anders geartet, als jenes fingierte Ausgangs-
motiv. So bleibt eine orientalische Hypothese hier völlig unfrucht-
bar, und nur die fruchtbare Theorie ist wahr. Die Annahme von
^) Vcrgl. vorläufig Grasb erger S. 60, das 33. Fastnachtspiel der
Kellerschen Sammlung, Lorenzos de Medici Nencia da Barberino.
3) KpuTTTaSw 4, 97. Nr. 88. Vgl. Nr. 218.
^) Spott schon im Arbeitslied : Bücher, Arbeit und Rhythmus S. 81 flf.
Vgl. Meyer, Deutsche Volkskunde S. 129. 239. 314. 318. 337; bei Natur-
völkern z. B. Waitz-Gerland 5, 2, 93. Talvj, Versuch S. 71 (203).
*) Rohde, Der griechische Roman S. 4. Vgl. R. von Liliencron,
Über den Inhalt der allgemeinen Bildung in der Zeit der Scholastik S. 4.
^j Remy, The influence of India S. 8.
•••/: ••: ••• • ••
• • • ••.••. ••
101
Receptionen sollte nicht so weit gehn, einheimische Ansätze zu
literarischen Entwicklungen zu ignorieren. Der König vom
Odenwald ist von der antiken Gattung der a6o$oi GKoöeaeic ebenso
unabhängig, wie die Bätselfragen der f]dda von der Kunstübung
der Sophisten'). Beim Aufwerfen der Vermutung, daß Hans
Bosenplüt ein Schüler des Humanismus gewesen sei^), vermisst
man die Berücksichtigung des älteren Lobgedichts auf Lübeck^)
und des Panegyricus Meister Ulrichs auf Wien*), bei Behandlung
der katalogartigen Listen in der grotesken Satire Erwägung
früherer Erscheinungen wie bei Eustache Deschamps^).
Selbst überraschende Übereinstimmungen verschiedener Lite-
raturen zeugen oft nicht von Zusammenhang. Auf die Überein-
stimmung des Goetheschen Spruchs:
Kleid eine Säule,
Sie sieht wie ein Präule,
der dem Italienischen nachgebildet ist, mit Havamal 49 hat R. M.
Meyer hingewiesen^). Mit umsichtiger Belesenheit zeigt derselbe
Gelehrte, wie nicht nur sehnsüchtige Klage, sondern auch gleicher
antithetischer Aufbau in ähnlichen Erzeugnissen der altnordischen
und arabischen Dichtung waltet, zum Leidwesen „ableitungsfroher
Analogienjäger" ^). Zufällige Analogien, die sich in Schillers
Kampf mit dem Drachen und einem Spruch Walthers, im
Wolfdietrich und Schillers Bürgschaft finden, hat Müllen ho ff
») Rohde, Der griechische Roman S. 308. 335. 309. Hauff en in
Seufferts Vierteljahrschrift 6, 161 ff.
^ Herr mann, Die Reception des Humanismus in Nürnberg S. 16 ff.
Dagegen Hintze in Sybels historischer Zeitschrift 84, 364 f.
3) Mones Anz. 20, 71.
*) Nagl-Zeidler, Deutsch-Österreichische Literaturgeschichte 1, 395.
Burdach, Bericht über Forschungen zum Ursprung der neuhochdeutschen
Schriftsprache und des deutschen Humanismus. Rerlin 1903. S. 26.
*) Schneegans, Geschichte der grotesken Satire S. 261. Deschamps,
Oeuvres 2, 2. Vergl. Gaston Paris, Villon S. 103 f.
ö) Altgermanische Poesie S. 69.
^) A. a. 0. S. 465. Vergleiche S. 522 f. 524 f. Ein Vers Bhartriharis
(Oldenberg, Die Litteratur des alten Indien S. 224: „Wenn von der
Güsse Macht gebannt" u. s. w.) entspricht Vierzeilern aus Kärnten
(Pogatschnigg und Herrmann l^ 153. Nr. 751. 752).
102
Bugge entgegen gehalten^). Alles zeugt für Kontinuität, nicht
Identität der geistigen Entwicklung 2).
3.
Die allgemeinen Behauptungen und Erwägungen, welche in dem
Eoman einer Wanderung ,der Priamel' von den Ufern des Ganges
an die der Pegnitz gipfeln, nützen herzlich wenig, und um die
tatsächliche Einwirkung orientalischer Gnomik auf die deutsche
Literatur haben sich die eifrigsten Vergleicher eben am wenigsten
bekümmert. Gnomik des Orients hat aber wirklich schon in
älterer Zeit Eingang in die deutsche Literatur gefunden: einmal
in der Blütezeit mittelhochdeutscher Didaktik, dann wieder am
Ausgang des Mittelalters und endlich im 17. Jahrhundert. Alle
diese Fälle beweisen gegen Einfluß indischer Gnomik in Sachen
des Priamels. Es sind das ja freilich immer nur grobe Züge,
die zur Feststellung von Verwandtschaft herangezogen werden;
den leiseren Wellenschlag der Kulturbewegung wahrzunehmen,
wo das bloße Auge nichts Bewegtes zu entdecken glaubt, das
vermag nur, wer gleichmäßig in allen Kulturen zu Hause wäre.
Zum ersten Mal scheint orientalische Gnomik im 12. Jahr-
hundert ihren Weg in die deutsche Literatur gefunden zu haben,
und zwar durch die Disciplina clericalis des Petrus Alphonsi.
Die benutzte Vorlage war seiner Angabe nach arabisch^). Den
Wert dieses Werkes für die Novellistik hat nach Dunlop, Valentin
Schmidt, Benfey, Max Müller zuletzt am ausführlichsten
Landau*) erörtert. Die Quellen des arabischen Originals sind
allerdings noch nicht aufgewiesen, aber die Erwägungen inbetreff
einer hebräischen Quelle verlieren doch durch die präcise Angabe
eines arabischen Originals in der Hauptsache ihren Stützpunkt^).
») DAK 5, 46 f. Über Ubiquität der Motive Böckel, Volkslieder aus
Oberhessen S. LXXXVI. Vgl. auch Comparetti, Der Kalewala S. 249 ff.
2) Meyer, Die altgermanische Poesie S. 537.
3) Patrologia ed. Migne 157, 705 D.
*) Die Quellen des Dekamerone. Zweite Auflage, S. 258 ff.
5) Außer der oben angeführten Stelle ist Patrologia p. 672 B zu be-
achten, wo Petrus sagt: Propterea libellum compegi, partim ex proverbiis
philosophorum et suis castigationibus Arabicis et fabulis et versibus, partim
ex animalium et volucrum siinilitudinibus.
103
Nachwirkungen der Disciplina clericalis zeigen sich in der
Bescheidenheit. Nun lehnte freilich Wilhelm Grimm die Ansicht
ab, daß Freidank den Petrus gekannt habe'). Aber Bezzen-
berger hat ihm mit Recht widersprochen^); nur seine Belege
sind unglücklich und unzureichend^). Es mag hier von all den
andern zahlreichen Stellen der Disciplina, die Bezzenbergers
Kommentar enthält, abgesehen werden; es kommen besonders
folgende in Betracht. Freidank 1,19 '^^ Petrus p. 672 D. 2,14<v>
673 B. 22,16-^,705 0. 31,10'x.702 A. 58,1-^703 B. 81,27^ 676 B.
141,1- 677 D. 145,11 ^ 675 B.*) 178,9 - 705 B. In diesen
Fällen steht Petrus Alphonsi der Bescheidenheit näher als alle
andern verglichenen Autoren oder bietet die einzige Parallele;
ein Zusammenhang, der ja immerhin kein unmittelbarer zu sein
braucht, wird damit wahrscheinlich. Die Möglichkeit, für die
Grimm sich aussprach. Freidank habe in Syrien aus mündlicher
morgenländischer Überlieferung geschöpft, tritt hinter der Wahr-
scheinlichkeit eines literarischen Zusammenhangs zurück. Wenn
Bezzenb erger (S. 42) leugnet, daß Freidank außer dem, was
das alte Testament bietet, ettvas aus dem Orient entlehnt habe,
vergißt er eben, was er zwei Seiten vorher richtig bemerkt hatte.
Er lehnt übrigens besonders direkte Abhängigkeit von Böhtlingks
Indischen Sprüchen und Freitags Arabum proverbia ab.
Unter den Stellen, für welche die Disciplina clericalis als
Quelle in Betracht kommen kann, ist zunächst keine einzige
priamelhafte; und dann von den priamelhafteu arabischen Sprüchen
kein einziger benutzt. Es fehlt an solchen nicht, z. B. Tribus
modis unus indiget alio. Ouicunque benefeceris, in eo major eo
eris; quo non indigueris, par ipsius eris; quo vero indigueris,
minor (p. 676 D). Sequere scorpionem, leonem, draconem, sed
malam feminam non sequeris (p. 681 A)^).
1) Bescheidenheit S. LXXIX ff.
2) S. 40.
3) Die zuerst citierte Stelle 22, 12 ff. ist irrig; er meint 22, 4. 5.
22, 16; und statt 131, 9. 10 hätte er besser Beweisendes anführen können.
*) Eoethe zu Reinmar von Zweter 104 und Anmerkung 291.
^) Ecclesiasticus 25, 23: Commorari leoni et draconi placebit,
quam habitare cum muliere nequam.
104
Erscheint demnach die Einwirkung orientalischer Gnomik
auf das Friamel als solches durch Vermittelung der Disciplina
clericalis ausgeschlossen, so sei dennoch auf die Spur einer Ver-
wandtschaft einer priamelhaften ^) Stelle der Bescheidenheit mit
einer Sentenz des Conde Lucanor hingewiesen, unter Freidanks
Sprüchen behandelt einer den vierfachen Nutzen des Almosens
(39,10), weder klar noch treffend, halbfertig, patristischer Herkunft;
Grimm schied ihn aus.
Dieser Spruch zeigt Verwandtschaft mit zwei Fassungen, die
Landau^) als sehr schön hervorgehoben hat. Die eine Fassung
ist die des Hitopadesa, die andre aus DonJuanManuels Conde
Lucanor. „Die Gabe, die im Bewußtsein, daß man geben soll,
am rechten Orte, zur rechten Zeit und zum rechten Zwecke dem
gegeben wird, der sie nicht vergelten kann, die heißt eine gute
Gabe.^ „Ein rechtes Almosen muß fünf Eigenschaften haben:
Erstens: es soll von ehrlich erworbenem Gut sein. Zweitens: es
soll mit bußfertigem Gemüt gegeben werden. Drittens: es soll
von Wert und dessen Abgang dem Geber empfindlich sein.
Viertens: es soll bei Lebzeiten und Fünftens: um Golteswillen
und nicht aus Prahlerei gegeben werden." Der Hitopadesa aber
blieb auf Indien beschränkt, der Conde Lucanor kann der Ent-
stehungszeit nach nicht mit Freidank in Zusammenhang gebracht
werden. Die Ähnlichkeit der drei Fassungen ist aber auch eine
nur ungefähre, weder Form noch Inhalt decken sich, außerdem
gibt es eine näher stehende patristische Parallele^); es wäre
wohl abenteuerlich darauf hin die Behauptung zu gründen, die
Form des Priamels könne durch ein solches Beispiel den Weg
in die deutsche Gnomik gefunden haben.
Ein zweites Mal ward der deutschen Literatur Gelegenheit
geboten, sich Asiens Gnomik anzueignen, als gegen Ende des
13. Jahrhunderts die lateinische Übersetzung des Pantschatantra
*) Man kann den Ausdruck hier nur mit Vorsicht gebrauchen; denn
gerade die Beispiele von Aufzählungen sind die unsichersten Priamel und
lassen sich größtenteils auf die Predigt zurückführen. Loewer, Patristische
Quellenstudien zu Freidanks Bescheidenheit S. 6.
^) Die Quellen des Dekamerone S. 270.
^ Loewer, Patristische Quellenstudien S. 36,
N
105
durch JohaDnes von Capua erschien^). Doch Einwirkung des
Directorium vitae auf deutsche priamelartige Dichtung ist da
wieder nicht wahrzunehmen. Anders dagegen, als ein Wiegendruck
und die deutsche Bearbeitung des Antonius von Pforr das alte
Werk noch allgemeiner bekannt machte. Freilich hat die Nürn-
berger Priameldichterschule des ausgehenden 15. Jahrhunderts
wieder darauf verzichtet, bei indischer Gnomik Anleihen zu machen.
Aber Hans Sachs bietet ein sehr merkwürdiges Beispiel für die
Art und Weise, wie indische Sprüche in deutscher Einkleidung
auftreten.
Bekanntlich benutzte der vielbelesene Nürnberger Poet mehr-
fach auch das Buch der Beispiele, von Antonius von Pforr
ins Deutsche übersetzt. An der lateinischen Vorlage dieser Über-
setzung hätte man, wie noch jetzt meist geschieht^), nicht zu
zweifeln brauchen. Was man als Spuren des Italienischen ansah,
erklärt sich einfach aus mangelhafter Übersetzung. So ist der
Ablativ Billero zum Nominativ geworden und der judex potestatis
mit Anlehnung an das Mittellatein zum Potestat^). Das uralte
Buch erzählt im 10. Kapitel De Sedera rege, wie der kluge und
treue Beled die Königin Helebat vor dem Zorn des Gatten rettet
und ihn versöhnt. Gerade dieses Kapitel ist an Sentenzen am
reichsten. Der König hatte dem Beled befohlen, Helebat zu
töten; dieser rettet sie und wartet auf Sinnesänderung des Zornigen.
Sie tritt bald ein. Sederas wünscht reuig seine Gemahlin zurück.
Aber der Getreue will sich erst von der Aufrichtigkeit seiner
Reue überzeugen und hält den König ausweichend durch Eecitation
von Sprüchen hin.
Dixit rex: Magnus est meus dolor et tristicia, quia interfeci Helebat.
Alt Beled : Duo sunt, quorum magna est tristicia in hoc mundo et parvum
gaudium: qui dicit non esse post diem mortis nee iudicium nee meritum nee
afflictionem, et qui nunquam egit miscricordiam cum inope.
*)Johannis de Capua Directorium vitae humane alias parabola
antiquorum sapientum. Version latine du livre de Kalilah et Dimnah publice
et annotee par J. Derenbourg. Paris 1889. Bibliotheque de l'ecole des
hautes etudcs, Sciences philologiques et historiques 72e fasc.
3) Goedeke, Grundriß P 366. Holland S. 257 f. Bcnfey hatte
zuerst darauf aufmerksam gemacht.
3) Vergl. Derenbourg S. 241 Anmerkung 3, S. 91. Holland a, a. 0,
Anmerkung 3. Im allgemeinen Derenbourg S. II t
106
Dixit rex: Si vidercm Hclebat, nunquam de aliquo in mundo tristarer.
Ait Belcd: Duo sunt, qui non debcnt tristari de aliquo: qui egit mise<
ricordiam et omni die addit ad i]lara, et qui nunquam peccavit *).
Dixit rex: Factus sum per Helebat desolatus.
Ait Beled: Tria sunt que fiunt desolata, flumen «cilicet in quo non est
aqua, terra non babens regem et mulier non hnbens virum.
Dixit rex: Unde corrigis me hodie?
Ait Beled: Tres corrigendi sunt: qui malum agit contra suum regem, et
vir sciens mandata et ea non observat, et qui agit misericordiam et beneficia
ea non cognoscenti.
Es ist ein geistiges Turnier. Je deutlicher und dringender
die Wünsche des Königs werden, desto länger werden oft die
Sprüche Beleds, ohne ein Eingehen auf die Äußerungen des
Königs erkennen zu lassen. In der Begel ruft ein Stichwort in
des Königs Bede einen Spruch Beleds hervor.
Dixit rex: Si vere et iuste egisses, non interfecisses äelebat.
Dixit Beled: Quatuor sunt, qui agunt iuste et verc: servus qui parans sibi
cibum Optimum et illum appetcns proponit non sibi sed domino suo, et vir qui
una muliere est contcntus, et rex qui querit pro suis factis a suis viris consiliuro,
et qui suam iram compescit violenter.
Dixit rex: Non amplius decet nos tibi adherere.
Dixit Beled: Decem sunt, qui nunquam sibi invicem adhcrent, scilicet nox
et dies, iustus et impius, tenebre et lux, bonum et malum, vita et mors.
Dixit rex: Jam orta est in corde meo inimicicia adversus te, quia inter-
fecisti Helebat.
Ait Beled: Octo sunt, que sibi inimicantur: lupus et canis, murilegus et mus,
nisus et columba, corvus et bubo.
Dixit rex: Sufficere tibi debet quia probasti et temptasti me.
Dixit Beled: In decem probafur res: vir fortis in bello, bos in aratro,
servus in sua dilectione erga homines, intellectus vero et discrecio regis probatur
in eius ire prorogatione, mercator vero in suis negociationibus, socii vero quando
sociorum suorum remittunt offensas, fidelis amicus probatur in temporibus ad-
versitatum amicorum suorum, vir autem religios'is suis elemosinis et eius perse-
verantia in hac vita in maceratione sui corporis et su3 persone afflictione, vir
vero nobilis natura probatur in sue manus largitate omnibus petentibus, pauper
vero probatur recedendo a peccatis et querendo tamen suum victum iuste et
temperate.«
Endlich entdeckt der Fürst dem Sederas die Bettung seiner
. Gemahlin und führt sie ihm wieder zu.
Hans Sachs hat daraus ,ein comedi gemacht, mit 27 personen
zu agieren: König Sedras mit der Königin Helebat und Pillero,
0 S. 259 ff.
107
dem fürsten etc., hat 7 actus.' (Keller-Goetze 16, 144), und
wenn er auch frei mit seiner Vorlage umging, so hat er doch
eine ganze Anzahl indischer Sprüche mit aufgenommen. Alle
sind gleich gebaut: Aufzählung bestimmter Dinge ist ihr Thema.
Um einen Vierzeiler zu erhalten, erweitert Hans Sachs auch
wohl seine Vorlage z. B.
Pillero spricht:
Umb drey ding soll man trawren nicht:
Wer gar ist keiner sünd verpflicht,
Auch der stets übt barmhertzigkeit,
Und der ni kein lug hat geseyt ').
Der lateinische Text des Directorium ist oben angegeben;
die deutsche Vorlage sagt:
,Es sind zwey, die umb nicht truren söUen: wer all tag barmhertzigkeit
erzeugt hat und der nie gesundet^).'
Was Hans Sachs hinzusetzt, ist am wenigsten priamelartig
abgerundet z. B.
Pillero der fürst spricht:
Vier ding sind aller hilffe ohn:
Der obren hat, nicht hören kon;
Der äugen hat, und kan nicht sehen;
Ein mund hat, kan kein wort nicht jehen;
Wer sterben muß und ist allein 3).
Dagegen hat die Vorlage:
,Drü ding sind, die helffloß heißen: ein riins ohn wasser, ein land on
ein herren vnd ein weyb on einen man*).'
Bemerkenswert sind Änderungen, durch die der deutsche
Dichter seine Vorlage nationalisiert. Der Mörder, der sich dem
Brahmas Antlitz schauenden Einsiedler gleichsetzen will, wird
zum Armen, der einem Mächtigen, Eeichen zu gleichen begehrt^).
An einer andern Stelle läßt er aus^j: „ein jungfrouw, die ein
wyb verspottet, die einen eelichen man nam (dann niemans weißt,
ob sy vsserhalb der ee einen man hat oder nemen mag^)." Mit
Ausnahme des dritten Verses gehören folgende Worte Pilleros
ganz dem deutschen Dichter:
Vier ding bewaren sich gar hart:
Wer in seim zom ist unbehut;
0 178, 5. 2) 154^ 19. 3) 179^ i. 4) 154^ 37. 5) 179^ 27. 155, 19.
6) 188, 11 ff. ^) 155, 32.
108
Ein fraß, der doch kein arbeit thut;
Der Schwert, doch man sein lug versteht;
Wer mit eim beltz an regen geht.
Auch ohne die Vorlage zu vergleichen, würde man in dem
schalkhaften letzten Bild den Nürnberger Humor hervorblicken
sehen.
Solche Züge abgerechnet, erinnert diese Sentenzen-Manufaktur
wie die meisten Triaden etwas an die trüben Wasser selbst-
gemachter Weisheit, von denen ein Herausgeber des Frei dank
einmal redet. Selbst wo Hans Sachs frei sich gehen läßt, bleibt
der Ton unbelebt abstrakt, ohne einen Schimmer der drastischen
Lebensfülle des alten Priamels^) z. B.
Nicmatkdt kein glauben setzen sol
AufT ein tückisch, schleichenden hund,
Und an ein vil geschwätzing round,
Und an ein ungetrewen herm,
Und ein, der heymlich wil erfehm,
Ein, der in todtes-nöten leit;
Der keinr helt glaubn, trew und Wahrheit^).
In allen Beispielen war die Struktur des Priamels undeutlich,
immer Aufzählungen. Diese kommen ja nun auch besonders im
späteren Priamel vor, aber aus einheimischer traditioneller Kunst-
übung entwickelt. Noch mehr; Hans Sachs, der durchlauchtigste
deutsche Poet, kennt, das heißt übt das einheimische vulgäre
Improvisationsgedicht des Priamels gar nicht mehr; sondern bei
ihm ist das Priamel, wie auch sonst, wieder bloße Einleitung.
So 22, 533:
Ein kurz priamel zw einem gaistlichen spruech.
Hail und genad wünsch ich euch allen!
Aus sunder gunst und wolge fallen
Pin ich zw euch kumen herein.
Pit, wölt ein klaines stiller sein
Und hören ain kurzes gedieht.
Aus heilliger schrift zw-gericht,
Der sol zw ainer gaistling speis.
Nun hört und mercket auf mit fleis !
*) Vergleiche das Verhältnis des Hans Sachs zum alten Volkslied,
worüber Kopp in Lyons Zeitschrift f. d. d. Unterricht 14, 433 ff. ge-
handelt hat.
2) 184, 9 ff.
109
Dieselbe Bedeutung hat das Wort*) 17, 237, 24: im Schwanck:
Fatzwerck auif etliche handwerck. Er erzählt da voq einem
Sprecher im Wirtshaus, der vor seiner Bede ein ,gut new jar*
>yünscht
Und machet ein seltzam preammeln ;
Und darnach er ohn alles stammeln
Fieng an.
Die dritte Stelle, an der Hans Sachs das Wort gebraucht,
steht schon bei Wendeler^) (Keller-Goetze 7, 208, 385).
Wieder kann von Einwirkung indischer Gnomik auf das
Priamel im Sinne der vergleichenden Theorie keine Bede sein.
Weder die Sprüche Beleds noch Sachsens Übertragungen sind
als Priamel im Sinne der Kunstübung des 15. Jahrhunderts
anzusprechen. Dem volksmäßigen deutschen Improvisationsgedicht,
dem Priamel, stehen sie ganz fremd gegenüber und haben deshalb
auch gar keine Einwirkung auf einheimische Kunstübung gewinnen
können. Die öden Aufzählungen aber werden zu einer trübseligen
Mode, die in Baschs 270 vierteiligen Lehrpunkten den Höhepunkt
erreicht.
Noch mehr tritt diese Fremdartigkeit indischer Gnomik in
dem letzten hier anzuführenden Fall zu Tage. Arnold hatte
in der ,OfiFenen Thür zu dem verborgenen Heidenthum' Nürnberg
1663 bereits 200 Sprüche des Bhartrihari nach Abraham Bogers
holländischer Vorlage übersetzt. Der ,weltberühmte^ Adam
Olearius ließ die Sprüche S. 92 ff. im Anhang seiner Beise-
beschreibung (Hamburg 1696) wieder abdrupken. Nun verstehen
die Teilnehmer der Moscowitischen Beise ganz gut eigne Priamel
zu machen (S. 106), die sogar noch Schillers Aufmerksamkeit auf
sich gezogen haben; aber in den Sprüchen Bhartriharis erkennen
sie nichts dem Ähnliches. Auch hier keine Spur des Zusammen-
hanges.
Am nächsten kommt deutscher volkstümlicher Priamelliteratur
das Sapta9atakam des Uäla^). Obwohl Feinheiten dieser
indischen Vierzeiler darauf hinweisen, daß die Verfasser nichts
*) Es wird doch wohl Infinitiv des Verbums sein.
^) De praeambulis S. 23, dessen Schlüssen gegen Uhl S. 111 bei-
zustimmen sein dürfte.
^) Abhandlungen für die Kunde des Morgenlandes Y3 und VII 4.
Gustav Meyer, Essays 1, 292 ff.
120
zwei, drei, ja noch mehr dergleichen Verse entstehen können.
Indessen läßt sich, abgesehen hiervon, auch sehr wohl annehmen,
daß der zweite Sänger, der unter Umständen dem ersten an
Begabung ebenbürtig sein konnte, bei der Wiederholung des
Verses aus eigenem Antriebe, um dem ersten Sänger nicht nach-
zustehen, die Worte und Bilder seines Kameraden änderte, und
hieraus ließe sich auf eine künstlerische und noch natürlichere
Weise der Reichtum an Bildern in den Parallelversen erklären.**
So Paul in der Einleitung der Kanteletar, S. VIII*).
Uralt sind diese Improvisationen , älter jedenfalls als die
im 12. Jahrhundert erfolgte Einführung des Christentums in
Finnland, geschmückt mit ,unglaublich reicher' Alliteration ^j, die
ihnen freilich nicht erst die Germanen vermittelten^), noch eng
verknüpft mit der musikalischen Grundlage, der sie entwachsen.
Der musikalische Charakter überwiegt in dieser Poesie, wie im
Leben des Kindes das Vegetative. Die Kanteletar zeigen „ein
wenig kompliziertes und von keinem Zwiespalt zerrissenes Seelen-
leben, . . . ernst und still wie die Urwälder und Landseen
Finnlands*)". Ich wähle zwei Beispiele edelster Volkspoesie:
Die Verratene.
Einst, als ich des Wegs gewandelt,
Jener UnglUcksstelle nahte,
Da erzählte schon die Insel,
Rauschten schon am Strand die Wellen,
Weinten die besonnten Wiesen,
Klagten schon die schönen Fluren,
Flüsterten die Frühlingsblumen,
Jammerte der junge Rasen
Um das dort gefallne Mädchen,
Um des armen Kindes Elend 5).
allein.** Comparetti, S. 66 Anmerkung. Vgl. Zeitschrift für deutsches
Altertum. 27, 346. Bücher, Arbeit und Rhythmus S. 276 f.
*) Dazu Comparetti S. 65 f.
3) Paul S. IX.
3) Gegen J. Grimra, Kleinere Schriften 2, 80 ff. erklärte sich Com-
paretti S. 30ff. 265 ff. 272.
*) G. Meyer, Essays 2, 170. Comparetti S. 15,
5) Paul S. 103.
121
Beim Abschied der Braut.
Deine Spur wird bald verschwinden,
Auf dem Eise leicht vergehen,
Sturm und Wind wird deine Schritte,
Schnee des Kleides Spur verwehen ;
Nicht die Mutter hört dein Rufen,
Nicht der Vater deine Seufzer,
Nicht die Schwester deine Klagen,
Nicht der Bruder sieht dein Leiden;
In der neuen Heimat wirst du
Fremdling unter Fremden bleiben*).
Parallelismus der Glieder und Streben nach Einheit des
Gedankens wie der syntaktischen Konstruktion sind unverkennbar;
deutlicher noch in den Mädchenliedern:
Andre Zeiten.
Ach, da kamen andre Zeiten:
Meine Kinderjahre gingen,
Mit den Schwänen schwand die Schönheit,
Mit den Lerchen floh der Liebreiz,
Mit den Finken zog mein Frohsinn,
Mit den Vöglein meine Freude*).
Die Verstoßene.
Eins nur werd ich nie erfahren:
Einer Mutter sanfte Pflege,
Eines Bruders treue Sorgfalt
Und die Liebe einer Schwester.
Hier sehen wir vor unsern Augen die sogenannte analytische
Priamelform ganz äußerlich entstehen. Die synthetische ist
meist ausgeschlossen^), weil der erste Sänger das zusammen-
fassende Thema immer schon angibt. Die analytische Form ist
überaus reich entwickelt; auch hier stellt sich natürlich die Auf-
zählung ein. An gnomischem Inhalt fehlt es nicht: agunt partim
de argumentis severioribus maxime moralibus*). Der traditionelle
Charakter der Gnomik hat hier, wie sonst, der Improvisation
«) a. a. 0. 130.
«) S. 27.
3) In Altmanns Runen finnischer Volkspöesic (Leipzig 1856) erscheint
sie einigemal: S. 27. 72. 107. 140. 131. Über andre den deutschen analoge
Formen wird unten bei Erörterung der Priamelform die Rede sein. ']
*) Porthan bei Burdach 27, 346. Comparetti S. 2,
112
hat, stellte vor allem den ganz bedeutenden Einfluß der Bibel
auf Freidanks Sammelwerk ans Licht. Er hat hier eher noch
zu wenig als zu viel getan; manches ließe sich nachtragen,
z. B. das zu Vers 92, 17 vergessene Vorbild der Salomonischen
Proverbia 12, 16. Aber was die gnomische Poesie der Hebräer
bietet, reicht einerseits nicht aus, um daraus die Gattung des
Priamels abzuleiten, und andrerseits wird eine Prüfung des hier
in Betracht kommenden Materials zeigen, daß die entsprechenden
Vorbilder der Bibel, schon weil man die Form nicht verstand,
formell fast gar nicht eingewirkt haben. Am meisten widersprechen
die Tatsachen der Entstehung des Priamels seiner Herleitung aas
hebräischer Poesie.
Die Gesetzesvorschriften Hesekiels 18, 5 ff. sind, wenn man
sie mit germanischen ßechtsformeln vergleicht, von ärmlicher
Trockenheit. Sehr treffend sind im Anfang des 12. Kapitels
von dem Ecclesiastes die bösen Tage in kunstvoller Periode
ausgemalt. Wer Gewicht darauf legt, mag sie mit" der Periode
eines analytischen Priamels vergleichen.
Memento Creatoris tui in diebus iuventutis tuae,
antequam veniat tempus afHictionis , et appropinquent anni, de quibus
dicas: Non mihi placent,
antequam tenebrescat sol, et lumen, et luna, et stellae, et revertantur
nubes post pluviam:
quando commovebuntur custodes domus, et nutabunt viri fortissimi>
et otiosae erunt molentes in minuto numero,
et tenebrescent videntes per foramina:
et claudent ostia in platea, in humilitate vocis molentis,
et consurgent ad vocem volucris, et obsurdescent omnes filiae carmi-
nis u. s. w.
Aber meines Wissens hat das Niemand in deutscher Priamel-
dichtung nachgeahmt. Die Ausführungen Freidanks über das
Ende der Dinge (46, 5. 60, 9. 133, 27). kann man doch wohl
hiermit nicht in Zusammenhang bringen. Auch die hebräische
Spruchpoesie behandelt Zusammengehöriges (wie Proverbia 26, 3),
Passendes (wie Ecclesiastes 3, 1 ff.), warnt vor dem Weibe ohne
Zucht (fatua, Proverb. 11, 22.), vor Bürgschaft (daselbst 11, 15),
vor zänkischen Frauen (21, 9. 25, 24), vor Geiz (Ecclesiastes 6, 1 ff),
und gefällt sich in Aufzählungen wie Proverbia 6, 16 flf. 30, 15 ff.
113
Liber Sapientiae 7, 17 ff. 14, 25 ff. 17, 17fi'.^); aber in der
deutschen priamelhaften Gnomik sind diese Stellen entweder gar
nicht benutzt, oder, wenn es geschehen, die Form bis auf einen
Fall geändert. Dieser eine Fall aber bietet nur geringe Gewähr
für den wirklich priamelhaften Charakter des deutschen Spruches.
Auch die spätere jüdisch-arabische Literatur scheint ohne
Einfluß auf deutsche Dichtung gewesen zu sein^).
Prüfen wir, anstatt uns in Allgemeinheiten zu ergehen, die
deutsche priamelhafte Gnomik bis auf Freidank, indem wir dabei
die Abhängigkeit von der Bibel feststellen. Eine Untersuchung
hat nämlich nur dann einige Aussicht auf Erfolg, wenn die
Gnomik der älteren Zeit ins Auge gefaßt wird. Gegen Ende
des Mittelalters schieben sich zwischen die Bibel und deutsche
Gnomik so unberechenbar viele Zwischenglieder, daß der Schluß
auf wirkliche Benutzung der heiligen Schrift meist alle Sicherheit
verliert. Von Wahrung der metrischen und strophischen Form
hebräischer Poesie kann schon in der Vulgata eigentlich gar keine
Bede mehr sein; die Bibel hat immer inhaltlich, nicht formell
die mittelalterliche Dichtung befruchtet. Gelegentliche stilistische
Einwirkung ist bei tatsächlicher Übertragung und Verarbeitung
natürlich nicht ausgeschlossen, ühland sagt mit Becht, Luther
habe selbst die Psalmen zu Volksliedern gestimmt^); dabei ver-
flüchtigt sich alle orientalische Poetik. Es läßt sich nicht vermeiden,
hier zum Beweis gleich einiges vorwegzunehmen, was später
ausführlicher zu begründen ist.
Wo Notker, Wernher von Elmendorf, Heinrich von
Melk priamelartige Form verwenden, tun sie es im Widerspruch
mit ihren theologisch-biblischen Vorlagen, das heißt bei Wernher
*) Vergl. die oben aus indischer Gnomik angeführten Beispiele des
Directorium vitae humanae.
') Aufzählungen liebt wie der Talmud auch Santob de Carrion (um
1350) Stein S. 84: Mischle Cachamim Nr. 96.
Drei hat mein Mitleid sich auserkoren:
Den Edlen, der sein Ansehen verloren,
Den Armen, der in Reichtum geboren,
Den Weisen in Gesellschaft der Thoren.
Vergl. S. 82. 81. 79 und zu S. 84 Fritze, Indische Sprüche S. G6.
Nr. 305.
3) Schriften 3, 10.
Enling, Prlamel 8
114
und Heinrich versagt überhaupt die Vorlage für diese Stellen.
Ebensowenig sind diejenigen gnomischen Strophen auf die Bibel
zurückzuführen, welche in der priamelhaften Spruchdichtung des
ältesten Minnesanges erscheinen. Dagegen hat Freidanks gelehrte
Bildung auch in priamelhafter Dichtung wiederholt auf die Bibel
zurückgegriffen. Vers 94, 1 und 128, 6 benutzt er nur den
Inhalt, nicht die Form; selbständig verfährt er auch 22, 12;
65, 5; 66, 13; 78, 17; 107, 2 und 127, 22; nur 69, 5 über-
setzt er genauer. Aber von allen ist dieser Spruch am wenigsten
priamelhaft und begegnet sich in der Form, wie später zu zeigen,
mit volksmäßiger Gepflogenheit bei Aufzählungen. Für die
meisten Priamelsprüche der Bescheidenheit kommt die Bibel gar
nicht in Frage. Das Verfahren Hugos von Trimberg bestätigt
dieses Resultat. Zur Unmöglichkeit wird die angenommene Her-
leitung des Friamels aus der Bibel durch die Tatsache ihres
volksmäßigen Ursprungs. Die Priamelform wird sich als typische
volksmäßige Improvisationsform ausweisen, die in den verschie-
densten Erscheinungen primitiver und halbprimitiver Poesie vor-
kommt, nicht nur in Deutschland oder im Orient, sondern fast
überall. Auf die priamelhafte deutsche Gnomik hat die hebräisch-
biblische Spruchdichtung keinen größerer Einfluß ausgeübt, als
auf deutsche Gnomik überhaupt. So muß die Annahme, daß
insbesondere aus lateinischen Bibelsprüchen der Vulgata das
deutsche Priamel entstanden sei, abgelehnt werden.
5.
Die entstehende volkssprachliche Literatur der Lyrik und
Didaktik konnte sich von der gleichzeitig im 12. Jahrhundert
blühenden und angesehenen mittellateinischen Dichtung eigent-
lich nichts aneignen. Die Gelegenheitsdichtung zum Beispiel des
Hildebert von Tours ^) oder des Marbod ist durchweg reine
Formsache, greisenhaft abgelebt, spitzfindig spielerisch, rhetorisch-
klügelnd, in oft halsbrecherischen metrischen Kunststücken sich
*) Histoire litteraire de la France 11, 387. Grob er s Grundriß der
romanischen Philologie II* 381 ff. Heinzel, Heinrich von Melk S. 49.
Vgl. aus mittelgriechischer Literatur etwa die Gedichte des Christophoros
Mitjlenaios hg. von Kurtz. Leipzig 1903.
115
übende BeflexioDspoesie schlimmster Art: Gedichte auf einen
Hermaphroditen*), auf Ammon und Thamar, über Geld, Weiber,
Glücksrad, auf eine Geißel, auf Tiere, auf Gegenstände der Bibel
und der scholastischen Literatur, Inschriften, Grabschriften,
Epigran^me, Sentenzen, Gebete, Briefe, Bätsei, Hymnen: ohne
originalen Geist, ohne Freiheit, ohne Natürlichkeit. Was dem-
gegenüber an Gnomik im Volke umlief, war ganz anders geartet.
Gewiß ist in der Bescheidenheit wie im Benner und Narrenschifl'
viel Gelehrt- scholastisches, viel der kirchlichen Kultur des Völker-
chaos Entlehntes, viel Schablonenhaftes und Trockenes: aber der
Grundton ist von volkstümlicher, wenn auch oft barocker Origi-
nalität, derb anschaulich, deutsch. Wäre das Priamel bloße Form,
dann hätten wir auch mittellateinische ,Praeambulisten' genug.
Es mag an einigen Beispielen deutlich gemacht werden, daß das
nicht der Fall ist. Ein wortspielender Vierzeiler Marbods
empfiehlt die doctrina:
Doctrinae commendatio.
Cum sine doctrina nil proficiat medicina,
Nee sine doctrina tendantur in aequora lina,
Nee sine doctrina portum petat ulla carina:
Audi doctrinam, si vis vitare ruinam^).
Nun gibt es z. B. zahllose Schnaderhüpfel des Typus A, die
zu der Annahme verführen könnten, es läge hier dieselbe Form
vor; aber das Unterscheidende besteht darin, daß der gelehrte
Marbod eben nur nach dem Becept der Bepetitio gearbeitet hat,
das er De ornamentis verborum § 1 gegeben: Bepetitio est, cum
continentur atque eodem verbo in rebus similibus et diversi
principia sumuntur; hoc modo ....
Femina justitiam produxit, femina culpam.
Femina vitalem dedit ortum, femina mortem.
Femina peccavit, peccatum femina lavil').
Ahnlich ist folgender Vierzeiler Hildeberts gebaut:
Quod bono male et malo bene proveniat.
Est aliquando bene, bene ne gravibus superetur.
^) Lessing nennt es in den Zerstreuten Anmerkungen über das
Epigramm ein sehr berühmtes, bewundertes Werk, dessen Verfasserschaft
vielumstritten (!).
3) Patrologia (Migne) 171, 1684. Nr. XLIX.
3) Patrologia 171, i687.
8*
116
Est male quod maculas lavet adversisquc probctur.
Est aliquando malo bene quo gravius feriatur.
Est male quo redeat velut hie, quoque jam patialur^).
Nur ist durch gleichzeitige Anwenduag der Gontentio die
Künstelei noch gesteigert. Gontentio est, erklärt Marbod De
ornamentis verborum §5, cum ex contrariis rebus oratio conficitur^);
ein Spiel des witzigen Scharfsinnes, das proven9alische und fran-
zösische Dichter vom 12. Jahrhundert bis ins 15. mit Vorliebe
übten. Noch Gharles d'Orleäns stellte selbst ein Thema dazu:
Je meurs de soif aupres de la fontaine, ließ viele Dichter
konkurrieren und ihre Lösungen 1456 in einem Bande vereinigen.
Fran9ois Villen war unter den Beisteuernden'). Als rhetorische
Schulübung, nicht als Priamel sind demnach Vierzeiler zu be-
urteilen wie der Hildeberts De oppositis:
Turbat hiems florem, nox lucem, larva decorem,
Ariditas rorem, mors vitam, corvus olorem,
Tristities risum, labor otia, Styx paradisum,
Noctua pavonem, lupus agnum, Davus Adonem^J.
Aufzählung, Repetitio und Gontentio verbindet Hildebert in
dem Vierzeiler De quatuor bonis et quatuor malis:
Spernere mundum, spernere scse, spernere nuUum,
Spernere sc sperni: quatuor haec bona sunt.
Quaerere fraudem, quaerere pompam, quaerere laudem,
Quaerere se quaeri: quatuor haec mala sunt^).
Auch bloße Aufzählungen sind beliebt^). Fast sinnlose
Spielereien, wie sie Minne- und Meistergesang, später die galante
Lyrik übten, pflegt Marbod:
Nugae poeticae.
Altus mons. firmus pons. libera frons. vitreus fons.
Arbor nux. sacra crux. leo trux. bona lux. vigilans dux.
Candida nix. nigra pix. homo frix. aqua Styx. volucris strix.
Fertile rus. corruptio pus. et amica luto sus.
Longum crus. curvat grus. rodit mus. redolet thus.
») Fatrologia 171, 1436. Nr. CXXI.
') 171, 1689.
3) Gaston Paris S. 59 f.
*) Fatrologia 171, 1446. Nr. XII.
5) 1437. Nr. CXXIV.
6) z. B. 1280. Nr. III, VII. 1436. Nr. CXXII.
117
Est mordax dens, estque memor mens, est patriae gens,
Urbis plebs, virtus spes, omnia res. graditur pes.
Cogit vis. turbat lis, in tribus aequivocat glis.
Ditat dos, vernat flos. stillat ros, acuit cos.
Uxor fratris glos, mugit bos, cuncta trahit mos.
Dat sors, aufert mors, resonat vox, furta tegit nox.
Jus carnis, vis rectoris, et est jus juris utrumque *).
Jakob Gats läßt im Spiegel der alten und neuen Zeit den
zurückkehrenden Jüngling seine Landsleute mit Sprüchen be-
schenken, Sinnsprüchen von zwei Silben, von zwei Wörtern, von
drei und vier Wörtern; z. B.^).
Sinn-Sprtiche von zwei Silben.
List
mist.
Zanck
Stanck.
Leidt
Neid.
Neid
Streit.
Meidt
Neid.
Raht
Staat.
Thut
gut.
Sinn-Sprüche von zwei Wörtern.
Zucht Frucht
Morgen Sorgen
Metzen verletzen.
Herren versperren u. s. w.
In einer mittellateinischen Handschrift des 13. Jahrhunderts
von St. Omer findet sich der Vierzeiler:
Eva \ / pietate \ / fert tristia
Virgo >^\ / ^^ non prole v. \ /^ dat gaudia -^
«. ^yparensCC , >)carens\<C , ,.
Frima / \ sed amore / \ mortem deditv. l-sn
Sancta / \ sed feile / \ tulit abditam
Trotz alledem darf man auch diese Literatur nicht ganz aus
den Augen lassen; hat doch z. B. Hildebert von Tours in einem an
seinen Enkel gerichteten Poem das Motiv zu einem vom 14. Jahr-
hundert an vielvariierten Priamel erhalten.
») 1685. Nr. LVIII.
^) S. 137 der Hamburger Bearbeitung von 1711 (Sinnreicher Wercke
und Gedichte Dritter Theil).
^) Notices et extraits des manuscrits de la bibliotheque nationale et
»utres bibliotheques (Paris 1884) 31, 1, 53. vgl. S. 91.
118
Ad nepotem.
Forma vivcDdi praesto est tibi: Pauca loquaris»
Plurimam fac sit utrisque comes modus, utile, rectum;
Sobrius a mensis, a lecto surge pudicus.
Obsequiis instes, eo pro te praemia poscant. %
Ut decet et prodest et amabis et oderis idem.
Stans casum timeas, speres prostratus, et illum.
Quem colis insignem, miserum, abjectumque tuere *).
Wenn bald in der Priamelüberliefening Lateinisches und
Deutsches ununterbrochen neben einander hergehen, so wird
dabei die deutsche Produktion am wichtigsten ; die mittellateinische
liefert ab und zu einen sentenziösen Einschlags entbehrt aber
sonst meist der Originalität.
6.
Es ist wunderlich, daß die auf principiell vergleichendem
Standpunkt stehenden Gelehrten so achtlos an der finnischen
Poesie vorübergegangen sind, trotzdem fast jedes Gedicht der
Eanteletar im Sinne jener Methode bessere Beispiele „der PriameP
geboten hätte, als das anderswo sonst aufgera£fte Material. Die
Poesie des begabten finnischen Volkes fordert in der Tat auch
vom Standpunkt der Entwicklungsgeschichte poetischer Formen
ungewöhnliches Interesse heraus. Was sich aus finnischer Dichtung
für den viel umstrittenen Ursprung der großen nationalen
Epopöen ergibt, hat Domenico Comparetti zusammenzufassen
gesucht^). Die Entstehung poetischer Formen, auch solcher, die
dem Priamel täuschend ähnlich sehen, und doch nichts mit ihm
als solchem zu tun haben, läßt sich nirgends so wie hier so-
zusagen mit Händen greifen. Der vielbewanderte B. M. Meyer
hat auch diesen Wert der Eanteletar erkannt und sie in origineller
Weise für die Geschichte ,der altgermanischen Priamel' zu ver-
wenden versucht.
>) 1407. Nr. LIX. Vgl. HMS 3, 419a XL Kolm. Hs. Nr. 40. Keller
Schwanke Nr. 54. Hätzlerin 2, 61. Germania 1888, 162. Benner 18064 ff.
Dem Gedicht über Tageseinteilung Patrologia 171, 1724. Nr. XXX ent-
sprechen Vorschriften wie Kellers Schwanke Nr. 53.
*) Der Kalewala oder die traditionelle Poesie der Finnen. Deutsche
Yom Verf. autorisierte und durchgesehene Ausgabe. Halle 1892. Anz. f.
d. A. 19, 132 ff.
119
Wenn wir unser Lied beginnen,
Uns zum Singen vorbereiten.
Setzen wir uns auf den Stein dort,
Nehmen Platz zu beiden Seiten,
Oder setzen uns im Schatten
Auf die weichen Rasenmatten,
Prüfen leise unsre Stimmen,
Bis der rechte Ton gefunden.
Lösen unsern Liederknäuel,
Wenn der Knoten aufgebunden;
Legen dann nach alter Sitte
Unsre Hände in einander,
Wiegen singend auf und nieder.
Singen unsre besten Lieder,
Uns den Abend zu verkürzen.
Uns am Tage zu zerstreuen.
Um das Mittagsmahl zu würzen.
Uns am Morgen zu erfreuen.
So beschreiben die ßunensänger selbst ihr Lied^): „Nach
Lönnrots und Ahlqvists übereinstimmenden Mitteilungen werden
die Runen von zwei Sängern vorgetragen; sie sitzen einander
gegenüber, reichen sich die Hände, und unter stetem Vor- und
Rückwärtsbeugen des Oberkörpers beginnt der Gesang so, daß
der Hauptsänger, der begabteste, nach einer einfachen, her-
kömmlichen Melodie den ersten Vers singt, der vom zweiten
Sänger wiederholt wird, vielleicht um dem Kameraden Zeit für den
nächsten Gedanken zu lassen; findet der Hauptsänger während der
Wiederholung die Fortsetzung nicht, oder will er auf den Gedanken
mehr Nachdruck legen, so gibt er denselben im nächsten Verse
in einer andern Wendung oder in einem neuen, und so entsteht
der Parallelvers ^) ; es liegt auf der Hand, daß auf diese Weise
*) Paul, Kanteletar, die Volkslyrik der Finnen, Helsingfors 1882. S. 12.
^) Auch beim Arbeitsgesang ließ sich die Entstehung paralleler Reihen
beobachten, und zwar aus der Wiederkehr und Abfolge des Arbeitsprocesses.
Einen ähnlichen Brauch wie bei den Finnen erwähnt Comparetti bei den
Samojeden. „Dem samojedischen Schamanen (Tadibe) assistirt bei seiner
Verrichtung ein anderer minderwertiger Zauberer; der erste beginnt mit
dem Schlagen der Zaubertrommel und singt einige Worte mit ängstlicher
düsterer Melodie, dann fällt plötzlich der andere ein, und es singen beide,
gleich den finnischen Runensängern gemeinsam die gleichen Worte; dann
schweigt der erste, und der zweite wiederholt das vom ersten Gesungene
120
zwei, drei, ja noch mehr dergleichen Verse entstehen können.
Indessen läßt sich, abgesehen hiervon, auch sehr wohl annehmen,
daß der zweite Sänger, der unter Umständen dem ersten an
Begabung ebenbürtig sein konnte, bei der Wiederholung des
Verses aus eigenem Antriebe, um dem ersten Sänger nicht nach-
zustehen, die Worte und Bilder seines Kameraden änderte, und
hieraus ließe sich auf eine künstlerische und noch natürlichere
Weise der Reichtum an Bildern in den Parallelversen erklären.**
So Paul in der Einleitung der Kanteletar, S. Vin^).
Uralt sind diese Improvisationen , älter jedenfalls als die
im 12. Jahrhundert erfolgte Einführung des Christentums in
Finnland, geschmückt mit ,unglaublich reicher' Alliteration^), die
ihnen freilich nicht erst die Germanen vermittelten^), noch eng
verknüpft mit der musikalischen Grundlage, der sie entwachsen.
Der musikalische Charakter überwiegt in dieser Poesie, wie im
Leben des Kindes das Vegetative. Die Kanteletar zeigen „ein
wenig kompliziertes und von keinem Zwiespalt zerrissenes Seelen-
leben, . . . ernst und still wie die Urwälder und Landseen
Finnlands*)". Ich wähle zwei Beispiele edelster Volkspoesie:
Die Verratene.
Einst, als ich des Wegs gewandelt,
Jener UnglUcksstelle nahte,
Da erzählte schon die Insel,
Rauschten schon am Strand die Wellen,
Weinten die besonnten Wiesen,
Klagten schon die schönen Fluren,
Flüsterten die Frühlingsblumen,
Jammerte der junge Rasen
Um das dort gefallne Mädchen,
Um des armen Kindes Elend ^).
allein." Comparetti, S. 66 Anmerkung. Vgl. Zeitschrift für deutsches
Altertum. 27, 346. Bücher, Arbeit und Rhythmus S. 276 f.
*) Dazu Comparetti S. 65 f.
3) Paul S. IX.
3) Gegen J. Grimm, Kleinere Schriften 2, 80 ff. erklärte sich Com-
paretti S. 30ff. 265 ff. 272.
*) G. Meyer, Essays 2, 170. Comparetti S. 15,
5) Paul S. 103,
121
Beim Abschied der Braut.
Deine Spur wird bald verschwinden,
Auf dem Eise leicht vergehen,
Sturm und Wind wird deine Schritte,
Schnee des Kleides Spur verwehen ;
Nicht die Mutter hört dein Rufen,
Nicht der Vater deine Seufzer,
Nicht die Schwester deine Klagen,
Nicht der Bruder sieht dein Leiden;
In der neuen Heimat wirst du
Fremdling unter Fremden bleiben*).
Parallelismus der Glieder und Streben nach Einheit des
Gedankens wie der syntaktischen Konstruktion sind unverkennbar;
deutlicher noch in den Mädchenliedern:
Andre Zeiten.
Ach, da kamen andre Zeiten:
Meine Kinderjahre gingen,
Mit den Schwänen schwand die Schönheit,
Mit den Lerchen floh der Liebreiz,
Mit den Finken zog mein Frohsinn,
Mit den Vöglein meine Freude ").
Die Verstoßene.
Eins nur werd ich nie erfahren:
Einer Mutter sanfte Pflege,
Eines Bruders treue Sorgfalt
Und die Liebe einer Schwester.
Hier sehen wir vor unsern Augen die sogenannte analytische
Priamelforra ganz äußerlich entstehen. Die synthetische ist
meist ausgeschlossen^), weil der erste Sänger das zusammen-
fassende Thema immer schon angibt. Die analytische Form ist
überaus reich entwickelt; auch hier stellt sich natürlich die Auf-
zählung ein. An gnomischem Inhalt fehlt es nicht: agunt partim
de argumentis severioribus maxime moralibus*). Der traditionelle
Charakter der Gnomik hat hier, wie sonst, der Improvisation
») a. a. 0. 130.
») S. 27.
3) In Altmanns Runen finnischer Volkspöesie (Leipzig 1856) erscheint
sie einigemal: S. 27. 72. 107. 140. 131. Über andre den deutschen analoge
Formen wird unten bei Erörterung der Priamelform die Rede sein, ^
*) Porthan bei Burdach 27, 346. Comparetti S. 2.
122
die wesentlichste Hilfe und bald einen eisernen Bestand allzeit
bereiten Materials gesichert').
Der Erfahrene.
Habe alles schon vor Jahren
Reichlich in der Welt erfahren,
Nur drei Dinge ausgenommen 3) :
Zweimal auf die Welt zu kommen,
Um ein junges Weib zu werben,
Und als Schwiegersohn zu sterben^).
Drei böse Dinge.
Männern dröhn drei böse Dinge,
Drei sinds, die den Tod ihm bringen:
Erst ein Boot mit leckem Boden,
Dann ein widerspenstig Füllen,
Drittens eine böse Hausfrau^).
Auch die Klimax^ stellt sich ein:
Zum Abschied an den Bräutigam.
Nur ein Wort noch laßt mich sprechen.
Gönnt ein Wörtchen mir noch heute
An den Bräutgam mir zur Seite:
Freu dich nicht zu deiner Jungfrau,
Nicht zu sehr, ich will dich bitten.
Freu dich nicht am ersten Tage,
Nicht am zweiten; noch am dritten;
Ruhm dein neues Roß erst morgen.
Deine Frau im zweiten Jahre,
Erst im dritten deinen Schwager,
Und dich selber nie im Leben ^).
Ich füge gleich bei der für unsere späteren Erörterungen
sich ergebenden Wichtigkeit der Stelle, die Wiederholung in
einem Wiegenliede ®) hinzu:
Ach, so manche arme Mutter
Sprach vor Zeiten schon und dachte:
«) Vgl. Bücher S. 304.
3) Man ersieht aus diesem Beispiel^ das sich mit Prov. 30, 15. 16. 18. 19.
Freidank 69, 5 ff. 128, 6 ff. berührt, wieder, wie dieselben Formen unab-
hängig von einander entstehen.
3) Paul S. 293.
*) a. a. 0. S. 307. Vgl. S. 50. 112. 121.
6) a. a. 0. S. 143.
«) a. a. 0. S. 165.
oder:
123
Rühm dein Roß nicht vor dem Morgen,
Nicht den Sohn, bevor er Mann ist,
Nicht die Tochter vor der Ehe,
Und dich selbst nicht vor dem Tode.
An herrlichen Bildern steigert sich der Ausdruck; z. B.
Stimmungen.
So ist des Bedrückten Stimmung,
So des Traurigen Gedanke:
Wie die Herbstnacht trüb und finster,
Wie des Winters düstre Tage.
Trüber noch ist meine Seele,
Düstrer noch als Nacht und Winter.
Düster schleicht der Wolf im Dickicht,
Düstrer noch Schleich ich im Walde;
Dunkel ist des Fuchses Fährte,
Dunkler noch sind meine Pfade u. s. w. *).
Auch in andern Zügen hat die finnische Poesie Entwicklungen
aufzuweisen, wie sie selbständig in der deutschen Priameldichtung
herausgebildet sind. Dahin gehört die Häufung paralleler Gegen-
sätze^), die Beihen mit ,ohne'3), Motive der Lügendichtung*), des
Wunsches^), der Definitionspoesie ^).
Auch diese Improvisationsdichtung wächst sich zu kleinen
Bildchen aus, die eine Welt für sich ausmachen. Schon die oben
zitierten Stellen und Überschriften zeigen das, und der typische
Trunkenbold erscheint hier wie im Bigveda. Sie bietet gelegent-
lich wie das griechische Skolion oder das Epigramm^) Ausführung
einer Gnome. Freilich fehlt strophische Gliederung®). Aber trotz
») a. a. 0. S. 265. Vergl. S. 285.
3) a. a. 0. S. 129. 32.
3) „Einen Hof, der ohne Hunde,
Eine Hütte ohne Katze,
Eine Wohnung ohne Krähen,
Und ein Fenster ohne Kinder!" a. a. 0. S. 255. 256.
*) a. a. 0. S. 22. 37. 83. 95. 180.
*) a. a. 0. S. 185.
») a. a. 0. S. 61. 62.
^) Beitzenstein, Epigramm und Skolion S. 21. 105.
®) Sogar ein Seitenstück zu den Weingrüßen und die Warnung vor
Bürgermeistern, Richtern, Advokaten, Schreibern und Pfaffen ist vorhanden.
S. 275. 342.
124
aller dieser Berührungspunkte sind Kanteletar und deutsche
Priamel in ihrem Charakter, ihrer individuellen Entstehung und
Ausbildung himmelweit von einander verschiedene Dinge. Jedes
Literaturobjekt trägt doch in sich selbst die Bedingungen seiner
Existenz: der indische Vierzeiler, das griechische Epigramm, das
Skolion, die Bune.
Es wurde bereits erwähnt, daß man die Kanteletar für die
Geschichte einer angenommenen altgermanischen Priamel
zu verwerten versucht hat. Daß es schon ein indogermanisches
Priamel gegeben habe, diese Ansicht müssen wir ablehnen, wenn
wir den historischen Begriff des Priamels festhalten. Dagegen
zeugt der Mangel fast aller Voraussetzungen und das Fehlen
des Priamels als Gattung bis gegen Efide des Mittelalters. Dagegen
entscheidet der Umstand, daß in den verschiedenen Abzweigungen
der indogermanischen Sprachen und Literaturen, mit Ausnahme
der deutschen, das Priamel fehlt. Wäre es indogermanisch, so
müßten es alle haben. Auch in der deutschen Literatur hat es
sich erst entwickelt, gegeben ist es auch da nicht von Anfang
an. Oegen das Hinausschieben des Priamels als Kunstgattung
in vorgeschichtliche und urgeschichtliche Zeiten spricht endlich
folgende Erwägung. Priamel und Epigramm sind Erzeugnisse
einer Subjektivität, die überall erst sehr spät literarischen Aus-
druck gewinnt. Überall ist epigrammatische Kunstdichtung an
die Ausbildung einer individuell-subjektiven Denkweise und an
verhältnismäßig hoch gesteigerte, reife Geisteskultur geknüpft.
Das lehren Simonides, Martial, Bhartrihari, Bosenplüt,
Marot, Owen*). Ein indogermanisches Priamel wäre ohne
*) Dasselbe Resultat gewinnt auch die philosophische Deduktion, die
das (in jenen Dichtungsgattungen meist enthaltene) Witzige und Komische
als die subjektivste Form des Schönen erweist. Vis eher, Ästhetik I 346.
Indem Valentin das Drama als Gattung ausscheidet, sucht er (Zs. f. vgl.
Lg. N. F. 5, 45) festzustellen, daß zuerst als besondere Gattung die epische
erscheint, daß allmählich die lyrische neben sie tritt, daß endlich die
reflektierende Gattung einen ebenbürtigen Platz erobert. Dabei ist dann
allerdings daran zu erinnern, daß es auch nicht-differenzierte, primitive vor-
literarische und unliterarische Dichtung gibt. Im allgemeinen Bücher
S. 299 ff. Wallaschek, Anfänge der Tonkunst S. 242. Elster, Über
die Elemente der Poesie und den Begriff des Dramatischen. Marburg 1903.
125
Beispiel und historisch unbegreiflich. Ein indogermanisches Prianiel
gab es also nicht. Vielleicht aber schon ein urgermanisches?
E. M. Meyer hat den Versuch gemacht, das Alter ,einer ger-
manischen PriameP zu bestimmen. Er will sie in die ersten
Jahrhunderte unserer Zeitrechnung setzen, als die Germanen mit
den Finnen in Berührung traten^). Zwei oben mitgeteilte Lieder
der Kanteletar nämlich, der Abschied von dem Bräutigam und
das Wiegenlied gleichen teilweise einer Strophe der Uavamal,
die vielfach als Priamel betrachtet ist. Untersuchen wir die
Ähnlichkeit. Gemeint sind die Verse:
Ruhm dein neues Roß erst morgen,
Deine Frau im zweiten Jahre,
Erst im dritten deinen Schwager
Und dich selber nie im Leben'}.
Ruhm dein Roß nicht vor dem Morgen,
Nicht den Sohn, bevor er Mann ist,
Nicht die Tochter vor der Ehe,
Und dich selbst nie vor dem Tode^).
Die verglichene Strophe der Havamal 79 lautet:
At kueldi skal dag leyfa,
kono, er brend er,
mdeki, er reyndr er,
mey, er gefin er,
is, er yfir k/e^mr,
Ql er drukkit er.
(Detter und Heinrel 1, 16. 2, 113 f.)
Es deckt sich zunächst das Motiv: Man lobe nichts, bis es
die Probe bestanden hat. Daß Motive sich gleichen können,
ohne Abhängigkeit zu begründen, ist Tatsache^). Im Altnordischen
wird ohne, im Finnischen mit Steigerung aufgezählt. Dann ent-
sprechen sich im zweiten Vers^) der Kanteletar Zeile 3 und
Havamel 79, 4 genau, Zeile 3 entfernt 79, 2.
*) Die altgermanische Poesie S. 434. 517.
3) Paul S. 143.
8) Paul S. 165.
*) QP 10, 30. Meyer S. 533.
*) Wenn man, wie Meyer, aus dem Liede einen strophischen Vierzeiler
aushebt; einen solchen gab es freilich im Finnischen kaum. Gustay
Meyer, Essays 1, 384. Comparetti S. 33 ff. 272.
126
Beicht das aus, um eine so wichtige Tatsache festzustelleu ?
Kann man schließen, das Priamel sei in urgermanischer Zeit zu
den Finnen gelangt?
Ich möchte, wie Comparetti, diese Fragen aus folgenden
Gründen verneinen. Eine urgermanische Gnome des Inhalts, man solle
das Mädchen nicht vor der Ehe loben, ist unbedenklich zuzugeben.
Daß sie den Finnen mit manchem Anderen, was sie den Germanen
verdanken, in vorhistorischer Zeit zugekommen sein könnte, der
Nachweis dieser Möglichkeit ist Meyers Verdienst^). Ob aber
die Häufung der Fälle in jener Gnome schon urgermanische feste
Formel war, läßt die völlige Verschiedenheit der im Finnischen
und Altnordischen gewählten Beispiele mindestens zweifelhaft
erscheinen. Dagegen spricht der Wechsel der Form; im Alt-
nordischen Aufzählung, im Finnischen Klimax. Auch im Mhd.
hat der betreffende Spruch keine Priamelform ^). Selbständige
Erweiterung der alten Gnome ist doch ebenso gut möglich. Den
weiteren Schluß, die Germanen hätten den Finnen in ältester
Zeit die Gattung des Priamels überliefert, muß man ablehnen;
die Existenz der Gattung kann durch ein mehr oder minder
zufälliges Beispiel der Klimax im Finnischen nicht bewiesen werden,
die priamelhaften Formen der altgermauischen Poesie konstituieren,
wie wir bald sehen werden, keine poetische Gattung, und die
allgemeinen historischen Voraussetzungen für das Vorhandensein
einer epigrammatischen Dichtung xaV i^o/i^v fehlen gänzlich.
Endlich ist zu beachten, daß das gleiche Motiv international zu
sein scheint. Auch indisch ist es, was Meyer entgangen, vorhanden.
Böhtlingk 3, 127: Man lobt eine Speise, wenn sie verdaut ist,
eine Frau, wenn ihre Jugend dahin ist, einen Helden, wenn er
eine Schlacht gewonnen hat, einen Büßer, wenn er sein Gelübde
zu Ende geführt hat. Der Schluß auf Abhängigkeit der genannten
Fassungen von der indischen wäre verfehlt; die Gemeinsamkeit
des Motivs ist unzweifelhaft
*) Freilich warnt Comparetti S. 291 davor, diese Ähnlichkeiten auf
prähistorisehe Berührungen beider Völker zurückzuführen: „auf welchem
Wege die gnomische Formel durch mündliche Überlieferung zu den Finnen
gelangte, und zu welcher Zeit es geschah, läßt sich nicht bestimmen.'^
Der Kalewala S. 292.
3) Freidank 95, 18—19.
127
7.
Mit der größten Sicherheit ist über den Zusammenhang
romanischer Literatur und deutscher Priameldichtung geurteilt.
Daß es auch ,eine italienische, französische, normannische u. s. w.
Priamel' gegeben, galt als eben so unumstößliche Wahrheit, wie
die fabelhafte Existenz einer keltischen, arabischen oder chinesischen
Priamel. Man wußte ganz genau, daß ,die Priamel* im 15. Jah-
hundert aus Italien nach Frankreich gelangte;' nach Italien hatten
sie die deutschen Meistersänger verpflanzt. Vor dem 15. Jahr-
hundert gab es keine Spur einer Priamel in Frankreich; wenn
einmal in dem Arundel-Manuscript Nr. 220 die Form auftaucht,
so kam sie natürlich aus dem Dänischen. Die Dänen hatten sie
den Deutschen nachgeahmt, die Deutschen der Hibel und so fort.
Es ist der Boman der Priamel, den Bergmann geschrieben
hat. Die Geschichte des Priamels ist weit weniger interessant,
sie wandelt nicht unter Palmen, nicht unter den Gestirnen Ara-
biens, Syriens, Chinas hat aber dafür einen Vorzug, der Wahrheit
näher zu kommen.
Von den romanischen Literaturen konnte in älterer Zeit wohl
fast nur die Frankreichs von Einfluß auf deutsche Gnomik
sein, weniger die Italiens, noch weniger die spanische. Frankreichs
ältere Literatur ist reich an Entwicklungen, welche der unseres
Priamels in Deutschland parallel laufen, ohne damit identisch
zu sein.
Man hat auch hier zwischen unliterarischer volkstümlicher
Gnomik und wirklicher Literatur einen unterschied zu machen.
In dieser hat die hier in Betracht kommende Entwicklung eine
von der deutschen ganz abweichende Gestalt angenommen; in
jener sind ähnliche Ansätze, wie fast überall, reichlich vorhanden.
Die einfachen volkstümlichen Improvisationsformen, aus denen
sich das Priamel entwickelt, fehlen auch im Französischen nicht.
Wer nur eine der französischen Sprichwörtersammlungen des
16. oder 17. Jahrhunderts in der Hand gehabt hat, für den bedarf
das gar keines Beweises. Es sind alle Formen, die für das
deutsche Priamel Wichtigkeit gewonnen haben, entwickelt ^). Noch
') Bei der Erläuterung der Priamelfonn ist auch französisches be-
rücksichtigt. Ein picardisches Provcrbe des 13. Jahrhunderts lautet:
128
mehr. Was auf der Basis solcher gemeiDsamen primitiven Grand-
lagen der eigentlichen Literatur zustrebt, dafür bildet der rede-
gewandte Bomane schon früh yiel reichere Formen aus, als sie
in deutscher Literatur aufzuweisen sind; und das ist bei dem
unterschied des künstlerischen Charakters beider Völker das
Natürliche^). Die Enuegs, Litaneien und einige verwandte Er-
scheinungen sind uns schon begegnet. Auf Stellen der Troubadours
hatte Sachs aufmerksam gemacht^); es gibt mehr der Art').
Auch auf das Spanische war dort verwiesen. Ein nicht ver-
merktes glossenartiges ^) Beispiel Baltasars de Alcäzar, von
Paul Heyse übersetzt, möge veranschaulichen, eine wie hoch
entwickelte Kunst hier vorliegt, wie das einfache deutsche Priamel
damit gar keinen Vergleich aushält.
Wenn ich dreierlei besäße,
Wttrd ich schier in Glück versinken:
• Dich, o schöne Ines, Schinken,
Liebesäpfelchen mit Käse.
Soweit mag ein volkstümlicher Vierzeiler zu Orunde liegen;
dann wird er in feinste Dialektik aufgelöst.
Diese Ines ist fürwahr,
Die mir raubte den Verstand,
Daß ich gar abscheulich fand
Alles, was nicht Ines war.
Und in düsterer Ascese
Wollte mir kein Sternlein blinken.
Bis ich jüngst geriet an Schinken,
Liebesäpfelchen und Käse.
Tres-grans envies dire os:
Si sont de II kiens a I os,
Et de II povres a I hüls;
Et de plus dire je ne puls
Ne plus grandes nuls hon ne vit
Fors de 11 femmes a I vit.
KpuTTüöf^ta 3, 344. Sind Vers 4 und 5 späterer Zusatz? Auf die Form
wird eben in der Überlieferung — das sicherste Anzeichen für das Fehlen
der Gattung — kein Gewicht gelegt.
*) Jeanroy, Les origines de la poesie lyrique en France au moyen
age S. 363 ff.
«) Herrigs Archiv 15, 375.
3) z. B. Mahn, Die Werke der Troubadours 1, 1. 2. 54. u. s. w.
^) Auch an die Cancion ist zu erinnern.
129
Ines freilich hat gesiegt,
Doch bald hab ich zweifeln müssen,
Was von diesen drei Genüssen
Mir zuerst am Herzen liegt.
So verlockt mich nun der Böse
Jetzt zur Rechten, jetzt zur Linken,
Bald zu Ines, bald zu Schinken,
Bald zu Äpfelchen mit Käse.
Wenn die Maid von Reizen spricht.
Lobt der Schinken sich geschwind;
Käs und Liebesäpflein sind
Ein urheimatlich Gericht
Nicht die feinste Hypothese
Macht der Wage Zünglein sinken:
Gleich an Wert sind Ines, Schinken,
Licbesäpfelchen und Käse.
Aber so viel bringt mir ein
Diese neue Leidenschaft;
Ines darf so launenhaft
Und so spröde nimmer sein.
Denn der Trost, den ich erlese,
Tut sie nicht nach meinen Winken,
Ist ein herzhaft Stückchen Schinken,
Liebesäpfelchen und Käse^).
Auch WO die Verbindung kürzer ist, welche von romanischer
Literatur zu deutscher hinüberzuleiten scheint, versagt die Ver-
gleichung; so wenn man den durchgereimten deutschen Vierzeiler
aus der französischen Tirade oder Laisse ableiten wollte. Dem
einfachen deutschen Priamel entgegen, schreitet romanische Dichtung,
wo sie wirklich priamelhaft wird, zu langen Spruchreihen fort.
Ki nul bien ne scet ne nul volt aprendre,
Ki mult acreit et n'ad dunt rendre,
Ki tant dune ke rien ne retent,
Ki tut promet et puis ne dune nient,
Ki tant parole ke nule ne l'escute,
Ki tant manace ke nul ne l'dute,
Ki tant jure ke nul ne li crait,
Ki demande quanque il n^ait,
Ki ä fole enemi sun cunseil cunte,
Ki por autrui amer sei-meimes met a munte,
*) Geibel und Heyse, Spanisches Liederbuch. Zweite Auflage S. 53 f.
Nigra, Canti popolari piemontesi S. 578. Nr. 85.
Ealing, Priamel 9
130
Ki rien ad en burs et tut bargaine,
Ki ä scient tut pert et rien ne guaine,
Ki tuz het et nul gueres li aime,
Ki plus fet en un jur ke plus ne poet la semayne,
Ki por estrange enchace le soen prive demaine,
Ki a tuz creit e nul ne le poet creer,
Ki trop se entremet de chose dunt il n'a ke fere,
Ki en tens de hone peis desire la guere,
Ki altres blame dunt il meime est cupable,
Ki se fi en chnsc ke n'est pas estable,
Ki faus e fei e fol escute et trop le contoye,
Ki ä sun seignur lige trop se desroye,
Ki fous est et plus fol se fet,
Ki trop s'en jo'ist de son raesfet,
Ki n'ad ki li sert et il meimes ne volt,
Ki trop se esmaye quant fere ne le cstot,
Ki ben poet eslir et se prent al pir,
Ki tuz quide vcincre par estut et par mesdir,
Ki pur autre son bien desaudrc,
Ki tant s'avaunt ke nul ne l'alue,
Ki bien ne volt fere ne altre le lesez,
Ki quide kc ben seit quanquez li pleisez,
Ki mult em prent et nent ne achevc,
Ki saunz drait e resun sun ami greve,
Ki trop fet de mal et nent se repent,
Ki bien ad fait e puis se repent,
Ki cestes folies aprent, trente-sis sens aprent.
Ki ben les tendrcit en maint liu ame serra,
Par coe wus pri sur tote riens:
Lcssez les mals, fctes les biens,
Ne seez pas envious ne plains de ire,
Ne james a vostre voile
Ne wous lesscz vaincre orgoile,
Fetes bien pur mielz aver;
Si freez sen e saver ').
Eine andre allmählich erweiterte^) Liste priamelhaft aus-
gemalter Dinge wird als ,proverbes' wiedergegeben.
Few de fere,
Raspe de eavve,
') Jubln al, Nouveau rccueil de contes, dits, fabliaux des Xllle,
XIV e et XV e sieclcs II 372 ff.
2) So ist auch die bekannteste Stelle der Havamal entstanden. Andre
spätere französische Listen bleiben ebenfalls in Aufzählung stecken. Herrigs
Archiv 43, 75. Bergmann S. 34.
I3f
Gasteu de aveigne,
Enclyn de moyne,
Promesse de esquyer,
Enbracie de chivaler,
Serment de ribaud,
Lerme de noneyne,
Mensonge d'erbeyr,
Rechynne de anne,
Abbay de chyn,
Huy de wiUeyn,
Maunger de norice,
Acoyscement de enfant,
Councile de apostoyle,
Pleyt de mariage,
Parlement de roy,
Assemble de borjois,
Turbe de willeyns,
Toule de garsouns,
Noise de ffeme,
Grete de gelyns,
Marteleys de ffeverys,
Buleyterie de bouleneers,
Trebucye de chareterys,
Anee raas,
Elle de lous,
Crucye de toneyr,
Avarisse de proveyr,
Coveytisse de inoyns blauns,
Envye de noyrs,
Melle de ribaus,
Descors de chapitels,
Mensonge de pereceous,
Desleutes de pledours,
Orgoyl de templer,
Bobbant de ospiteler,
Touz ceuz ne valent an dener ^).
Jacopone da Todi verbindet in einem langen aus vier-
zeiligen, einreimigen Alexandriner-Strophen bestehenden Gedicht
— es ist das 28. der von Schlüter und Storck übersetzten^)
*) Jubinal II 375 f. Englische Beispiele bleiben an Yerszahl dahinter
zurück: W. Carew Hazlitt, ßemains of the carly populär poetrj of
England 3, 40 f.
^) Ausgewählte Dichtungen Jacopones da Todi. Münster 18G4. S. 98 ff.
9»
132
— Sprichwörter und pri«imelhafte Redensarten. Volkstümliche
Dichter vereinigen sicilianische Sprichwörter und Sprichwort-
Materialien in Stanzen'). Die Form der Durchführung ist, selbst wo
sie priamelähnlich wird, frei^). um ein urteil zu ermöglichen, ein
*"" ' 'J'intu, cui servi ad un Pairuni ingratu,
Cecu, cui campa sempri irrisolutu,
Guai pri cui lassa chiddu, cht c'e datu,
Stultu, cui cerca risposta d'un mutu,
Infami, cui ä lu mali stä ostinatu,
Meseru, cui non ha riparu, o scutu,
Scuntenti, cui d'Amuri e travagghiatu,
Tintu, cui cadi pri chiamari ajutu ^).
Namenlose Canti populari katalogisieren sprichwortartiges
ethnographisches Material.
V6i donna beddar curri a Siragusa,
Si la v6i brutta, curri a Terranova,
Va a Rusulini si la voi lagnusa«
E a Spaccafurnu si la cerchi a prova*).
Su' tutti beddi ]i donni rumani,
Principi e cavaleri li Francisi,
Sciacquati e allegri li Napulitani,
Nobili e ricchi su' li Missinisi,
Capi di regnu li Palermitani,
Cori cuntenti su' li Catanisi,
Ricchi di pisci li Cifalutani,
D'acqui a di caccia, su' li Lintinisi;
Cui voli pani 'ntra li Girgintani,
Cui voli pasta' ntra li Licatisi,
Dinari li dumanna a Jacitani,
Ogghiu e summaccu nni li Tirminisi;
Pri sulfuru, frumentu, vini e lani,
Viniti di Sicilia a li paisi^).
Eine bestimmte literarische Form oder Gattung hat sich
aus solchen Sprüchen in romanischer Literatur nicht ergeben;
sie laufen in die Prosa*) aus. Und zwar wahrscheinlich schon
>) Pitre, Proverbi Siciliani 4, 283 ff.
«) z. B. S. 283 ff. Nr. 1. 3. 21. 42. S. 312, Kr. 13.
^) Veneziano Nr. 1.
*) Pitre 4, 326. Nr. 13.
5) Pitre 4, 322. Nr. 1.
ß) Montaiglon, Recueil de poosies fran^^oises des XV« et XVIe siecles
3, 9G. 5, 117.
133
deshalb niclit, weil die Bomanen besonders zwei Literaturformen
bereits besaßen, welche für die Aufnahme eines derartigen Inhalts
und zu ähnlichen Zwecken vollkommen ausreichend waren: Ballade ')
und Sonett. Allerdings modificierte sich mit diesen Formen
auch der Gehalt der Sprüche, es entstand etwas Eigenartiges,
dem Deutschland nichts als ganz späte Nachahmungen an die
Seite stellen konnte. Der Refrain der Ballade') lud zu pointierter
Zusammenfassung ein. Früher musikalisch, wurde er bald rhetorisch-
poetisches üniversalmittel zum Abschluß einer Gedankenreihe.
Als Repräsentant der Ballade möge der erste französische Dichter
seiner Zeit, Eustache Deschamps gelten; seine Balladen be-
laufen sich auf rund 1200. Obwohl die Form enge Grenzen
hat, ist von diesem gelehrten Dichter wohl alles, was überhaupt
in den Gesichtskreis des damaligen Menschen trat, in jene Form
gegossen: Liebeserklärungen, Totenklagen, Abschied^ Preis, Tadel,
Rüge, Beschreibungen, Schlachtberichte, Geburtstags- und Neujahrs-
wünsche, Polemik, Lehre, Sentenzen, Aufzählungen aller Art,
Dialoge, politische Leitartikel und Proklamationen und noch vieles
Andere. Die poetischen Künsteleien versteigen sich bis zu albernen
Geschmacklosigkeiten; so müssen in einer Ballade einmal alle
Verse mit einem A anfangen^). Die persönlichsten Dinge werden
in der typischen Form abgehandelt, z. B. der Entschluß, keine
Bücher mehr zu verleihen*). Trotzdem gibt es nichts, was ge-
wissen deutschen Priameln näher käme als manche Strophe von
Deschamps, wenn man sie aus ihrem Zusammenhange heraus-
lösen dürfte; z. B.
Plaintes contre le siecle.
Je voy le temps Octovien
Que toute paix fut reformee,
Je voy amer le commun bien,
Je voy justice estre gardee,
Je voy Saincte Eglise essaucee,
Chastete en religion,
Bonnes euvres, devocion,
Charite, foy, droit jugement
*) Jeanroy, Les origincs S. 404 ff.
*) Thurau, Der Refrain in der französischen Chanson. Berlin 1901.
S. 318 ff.
') Oeuvres completes de Eustache Deschamps III S. 276.
*) n 103.
134
Faire et t'enir sans fiction.
— Dit il voir? — Par ma foy, il ment^).
Man erkennt zugleich die meist überlegene stilistische Kunst
des Franzosen. Aber dasselbe dramatische Stilmittel wiederholt
sich viermal in regelrechter Ballade und ermüdet deshalb^).
Die sogenannte Fragepriamel übt Deschamps in der Ballade
mit Meisterschaft.
Qüi fait la science acquerir?
Qui fait chevalerie aler?
Qui fait marchandise courir?
Qui fait conclusion d'amer?
Qui fait vaisseaulx courir par mer?
Qui fait paix et guerre entre gent?
Qui fait le prince renommer?
Tout se fait par force d'argent ^), .
Oder:
Quant se pourra tout reformer?
Quant sera paix et vraie amour?
Quant verray je Tun l'autre amer^
Quant verray je parfaicte honnour?
Quant avra congnoissance tour,
Verite, loy, pite saison?
Quant sera justice en raison,
Que les mauvais pugnis seront?
Quant avra Roys juste maison?
Quant les saiges gouverneront *).
Er versifiziert Gesundheitsregeln wie Eosenplüt.
D'abregement de vie.
Le trop disner et tost dormir apres,
Souper de nuit, suir le mestier fres.
Sanz appetit vin boire a Iresgrans tres,
Couchier en bas, estre fei et engres:
Tuent pluseurs que la mort suit de pres.
De continuer sa sante.
Lever matin et prandre esbatement,
Entendre au sien et vivre sobrement,
Courroux fuir, souper legierement,
») VII 251. Vgl. III 5.
2) Vgl. Die allgemeinen Moralisationen V 167. 276. 278. 286. II 154.
Montaiglon, Beceuil 5, 319.
3) VIII 75.
*) VIIX 77. Vgl. in 182. XI 15.
135
Gesir en hault, donnir escharsement
Loing du mengier, soy tenir nettement
L'omme enrichit, et si vit longuement ^).
Oder es werden 6 Krankheitssymptome aufgezählt^). In
strenger Balladenform erwägt er Gründe der Epidemie, nach
dem Schema:
L'air corrompu, la terre venimeuse,
Les Corps infects en cymetiere, et mors
En my les cbamps, en guerre dolereuse,
Cbambres coyes ou est li amas ors
D'infections, de puours de dehors
Qu'om fait aux champs, es villes, es chasteaulx
D'ordures grans, de fians par monceaulx,
D'immondices qu'om art, dont c'est folie,
Du mauvais air corrompu, de pourceaulx,
Font en mains lieux causer l'epidemie').
Dann kommen die Heilmittel dagegen an die Beihe; hier
ist die Aufzählung analytisch.
Qui veult fuir la persecucion
Et le peril d'epidemie avoir,
Vivre le fault u. s. w.
mit dem Befrain:
Se vous voulez vie avoir longuement^).
Gewiß eine fürchterliche Poesie: aber schlimmer ist eine
Ballade über die Bücher der Bibel, die in unglaublicher Trocken-
heit aneinander gereiht werden^). Endlich möge man vergleichen,
wie sich in Deschamps' Balladen eins der vcrbrcitetsten Priamel-
themen darstellt: des choses dont il faut se garder ^).
Die Form der Aneinanderreihung ist meist synthetisch, oft
analytisch, bisweilen beides. Für den letzten Fall noch ein Beispiel ^)-
Huit choses doit homs desirier
Et acquerrir de son pouoir:
Science, pour en bien user,
Chevauce, boneur, largesce avoir,
Humilite, faire devoir
Par tout ou il sera tenus;
') VIII 145. 2) Yii 51. 3) VII 38. *) VII 40.
^) II 2. Über ähnliche etwas längere lateinische Versificationen derart
Notices et extraits 31, 1, 59. Gas ton Paris, FranQois Villen S. 103 und
far das griechisch-römische Altertum : S kutsch, Aus Vergils Frühzeit S. 52 ff.
«) VI 131. 7) VI 171, 1.
136
Que Verite soit ses escus,
Et Pitie ou eile cherra;
Fuie vice, ensye vertus:
Dieu et le monde Tamera.
Wie ein originell überraschender und steigernder Gedanke
den Abschluß der Ballade liefern kann, zeigt Villon*).
Ballade de menus propos.
Je congnois bien mouches en let;
Je congnois ä la robe Thomtne;
Je congnois le beau temps du let;
Je congnois au pommier la pomme;
Je congnois l'arbre ä veoir la gomme;
Je congnois quand tout est de mesme:
Je congnois qui bcsongne ou chomme;
Je congnois tout, fors que moy mesme.
Auch das Bondeau wird priamelhaft, z. B. Dcschamps'
Spottgedicht auf Böhmen:
Poulz, puces, puour et pourceaulx
Est de Behaingne la nature,
Pain, poisson salle et froidure,
Poivre noir, choulz pourriz, poreaulx,
Char enfumee, noire et dure;
Poulz, puces, puour et pourceaulx.
Vint gens mangier en deux plateaux,
Boire servoise amere et sure,
Mal couchier, noir, paille et ordure,
Poulz, puces, puour et pourceaulx
Est de Behaigne la nature,
Pain, poisson salle et froidure^).
Dem Befrain der Ballade steht der Befrain des vielbesprochenen
deutschen Bohnenliedes insofern nahe, als er auch hier zu
Beihenbildung Anlaß gibt. Die 4. und 5. Strophe (ühland Nr. 236)
zeugen davon.
Daß diese Erscheinungen trotz ähnlichen Inhalts mit der
äußeren und inneren Form des Priamels nicht organisch zusammen-
hängen, liegt auf der Hand. Zu dem gefeierten Morel steht Bosen-
plüt und die deutsche Priameldichtung, so viel ich sehe, in keiner
*) Oeuvres de Fran^ois Villon p. p. Longnon, P. 1892 S. 136.
Gas ton Paris, Fran(jois Villon S. 81.
2) VII 90. Deutschland stellt er ein übles Zeugis aus: Envoier moy par
tout le monde, Fors sur le pays d'Alemaigne. VII 59.
137
Verbindung. Der gelehrte und künstlerisch hochgebildete Franzose
konnte für die engbegrenzte lokale Kunst ßosenplüts auch kein
Muster und Vorbild abgeben. Dagegen steht bei allen durch-
greifenden Gegensätzen der originelle Fran9ois Villon mit dem
Nürnberger Gelegenheitsdichter auf einer Stufe zeitgeschichtlicher
und psychologischer Entwicklung, und in Italien wird uns ein
ähnlicher Mann in Burchiello begegnen. Die Zeit war reif für
solchen Individualismus, dessen einzelne Erscheinungen keine
specielle Kunsttradition verband.
Seltener als in der Ballade gewinnen vereinzelte Formen
des Sonettes den Schein priamelhafter Poesie. Bergmanns
Fantasien über den Zusammenhang des deutschen Priamels mit
dem fingierten italienischen sind ganz unhaltbar. Bereits
Jacopone da Todi baut die besten volksmäßigen Priamel-
vierzeiler, die wir später wohl zur Konstatierung der Form in Italien
benutzen dürften^). Bergmanns sogenanntes Priamelsonett kommt
schon bei Petrarca vor. Wie oft die Ballade, füllt sich das
Sonett gelegentlich mit priamelhaftem Gehalt, und bisweilen
ergibt sich eine syntaktisch-rhetorische Form, die ans Priamel
erinnert. Darum sind Sonette Petrarcas aber noch keine Priamel,
ebenso wenig als die eben betrachteten Balladen. Von Petrarca
führe ich das 79. Sonett an:
Quella fenestra, ove Tun sol si vede
Quando a lui place, e Taltro in su la nona;
E quella, dove Taere freddo suona
Ne' brevi giorni, quando borea '1 fiede;
E'l sasso, ove a' gran di pensosa siede
Madonna, e sola seco si ragiona,
Con quanti luoghi sua bella persona
Copri mai d'ombra o disegnö col piede;
E'l fiero passo, ove m'aggiunse Amore;
E la nova stagion, che l'anno in anno
Mi rinfresca in quel di 1' antiche piaghe;
E'l volto e le parole, che mi stanno
Altamente confitte in mezzo '1 core;
Fanno le luci mie pianger vaghe').
^) Vergl. die Münstersche Übersetzung S. 36 ff.
') Le Rime di Francesco Petrarca restituite da Giovanni Mestica
Firenze 1896. S. 144.
138
Felix Liebrecht hatte Bergmann ein Sonett Barchiellos
mitgeteilt, das nun in der Schrift La priamele S. 31 ohne Citat
nur mit Berufung auf Liebrecht französisch wiedergegeben ist.
Ich kenne es aus der Londoner Ausgabe^), wo es lautet:
•
Non son tanti babbion nel Mantovono,
Ne salci, ne ranochi in Ferrarese;
Ne tante barbe in Ungheria Paese,
Ne tanta poveraglia e in Milanu;
Ne piü superbia hanno i Franciosi in vano,
Ne piü sentenze in Dante non s'intese;
Ne piü Pedanti stanno per le spese,
Ne tanto sangue mangia un Catalano:
Ne tante bestie vanno a una fiera,
Ne piü quartucci d'acqua in fönte Gajo;
Ne a i Servi miracoli di cera;
Ne piü denti si guasta un calzolajo,
Ne in piü occhi e sparsa una panziera,
Ne tante forche merita sin Mugnajo :
Ne tanti sgorbj fa l'anno un Notajo,
Ne sono in Arno tanti pesciolini:
Quant' e in Vinegia zazzere, e cammini.
Was Bergmann an Erläuterungen aus der italienischen Literatur-
geschichte hinzufügt, ist nur mit Vorsiclit aufzunehmen, und trotz
seiner allerdings sehr elementaren Bemerkungen über die bur-
chielleske Dichtweise ^) hat er doch nicht bemerkt, daß auch jenes
Sonett einfach aus dem Styl alla burchia hervorgewachsen ist,
ohne sich an eine aus Deutschland importierte Form anzulehnen.
Man ist gewohnt, auf die Ansätze zum burchiellesken Stil schon
bei Sacchetti hinzuweisen; die Kleinkunst der Cacci, Terzinen,
Sonette, Madrigale, Gliommari, Frottolen u. s. w. begünstigte
die Neigung zu improvisierender redefertiger Dialektik. Das
liederliche Talent des Domenico di Giovanni verlieh der Ge-
pflogenheit, absichtlich die verschiedensten Dinge wortspielend,
ohne Sinn und Verstand zusammenzuwürfeln, die eigentliche
Ausbildung und literarische Geltung. Er machte Schule. Seine
*) Sonetti del Burchiello del Bellincioni e d'altri pocti Fiorentini
alla burchiellesca. In Londra (Lucca) 1757 S. 90.
2) Philipp Monnier, Le quattrocento. Paris 1901. 2,261 flP. Curzio
M a z z i , n Burchiello, saggio di stiidi sulla siia vita e sulla sua poesia. H
Propugnatore X 1, 204 ff. 376 ff. IX 2, 321 ff. Thode, Michelangelo 1, 178 f.
139
Erklärer haben einen schweren Stand, weil die Grenze zwischen
absichtlicher Zusammenhanglosigkeit und wirklichen Bezügen sich
nicht immer erkennen läßt. Burchiello mischt auch Latein und
Italienisch.
Quem quaritis vos, vel vellere in toto
Festinaverunt viri Salomone,
Viderunt omnes Pluto, e Ateone
Cum magna societate, sine moto.
Et clamaverunt omnes poto, poto
Ingressus est filius Agamemnone,
Secundum ordo fecit Assalone
Sibi Lachesis, Atropos, vel Cldto.
Itaque nomen Cesare potentes
Quaeris vexillum quomodo interßcerc
Et oculi, oculonim ejus videntes.
Volo precipue sacerdote armigere
Sufficit mihi quamvis diligentes
Vos omnes, qui vultis mihi intelligcre.
Et ego volo dicere,
Ch'e' Lucci, i Barbagianni, e le Marmegge
Vorrebbono ogni di far nuova legge *).
Gewöhnlich ist der Eingang des Sonettes alla burchia, aufs
Geratewohl.
Sugo di Taffetä di Camesecca,
E Lusignuoli, e sabbati Inghilesi,
E un Bimolle acuto, e tre tornesi
Usciti allota, allota della Zecca^.
So geht es auch wohl ein halbes oder ganzes Sonett fort,
wie in dem angeführten Beispiel, das die Erwartung durch einen
ganz geringfügigen Nachsatz täuscht. Bedenkt man nun dazu,
welche gelehrten Kenntnisse dieser Florentiner besitzt, so erkennt
man wieder die große Kluft, welche seine Kunst von deutscher
Priameldichtung des beginnenden 15. Jahrhunderts trennt. Beide
waren zu verschieden, um auf einander wirken zu können. Der
spöttisch angelegte Bomane, der den Druck des Erhabenen nicht
lange aushält, findet mit den ihm zusagenden Produkten des
Burlesken bei Deutschen wenig Verständnis, was der gute Morhof
ausdrücklich konstatiert, voll Haß gegen diese excrementa Pegasi,
welche die Italiener') zu ihrer ewigen Schande erstlich auf die
») Sonetti del Burchiello (1757) S. 11. ^) S. 15.
^) Lehrreich Vitagliano, Storia della poesia estemporaDea. Roma 1905.
122
die wesentlichste Hilfe und bald einen eisernen Bestand allzeit
bereiten Materials gesichert').
Der Erfahrene.
Habe alles schon vor Jahren
Reichlich in der Welt erfahren,
Nur drei Dinge ausgenommen^):
Zweimal auf die Welt zu kommen,
Um ein junges Weib zu werben,
Und als Schwiegersohn zu sterben 3).
Drei böse Dinge.
Männern dröhn drei böse Dinge,
Drei sinds, die den Tod ihm bringen:
Erst ein Boot mit leckem Boden,
Dann ein widerspenstig Füllen,
Drittens eine böse Hausfrau*).
Auch die Klimax^ stellt sich ein:
Zum Abschied an den Bräutigam.
Nur ein Wort noch laßt mich sprechen.
Gönnt ein Wörtchen mir noch heute
An den Bräutgam mir zur Seite:
Freu dich nicht zu deiner Jungfrau,
Nicht zu sehr, ich will dich bitten.
Freu dich nicht am ersten Tage,
Nicht am zweiten; noch am dritten;
Rühm dein neues Roß erst morgen.
Deine Frau im zweiten Jahre,
Erst im dritten deinen Schwager,
Und dich selber nie im Leben*).
Ich füge gleich bei der für unsere späteren Erörterungen
sich ergebenden Wichtigkeit der Stelle, die Wiederholung in
einem Wiegenliede®) hinzu:
Ach, so manche arme Mutter
Sprach vor Zeiten schon und dachte :
0 Vgl. Bücher S. 304.
2) Man ersieht aus diesem Beispiel^ das sich mit Prov. 30, 15. 16. 18. 19.
Freidank 69, 5 ff. 128, 6 ff. berührt, wieder, wie dieselben Formen unab-
hängig von einander entstehen.
3) Paul S. 293.
*) a. a. 0. S. 307. Vgl. S. 50. 112. 121.
6) a. a. 0. S. 143.
6) a. a. 0. S. 165.
oder:
123
Rühm dein Roß nicht vor dem Morgen,
Nicht den Sohn, bevor er Mann ist,
Nicht die Tochter vor der Ehe,
Und dich selbst nicht vor dem Tode.
An herrlichen Bildern steigert sich der Ausdruck; z. B.
Stimmungen.
So ist des Bedruckten Stimmung,
So des Traurigen Gedanke:
Wie die Herbstnacht trüb und finster.
Wie des Winters düstre Tage.
Trüber noch ist meine Seele,
Düstrer noch als Nacht und Winter.
Düster schleicht der Wolf im Dickicht,
Düstrer noch Schleich ich im Walde;
Dunkel ist des Fuchses Fährte,
Dunkler noch sind meine Pfade u. s. w. *).
Auch in andern Zügen hat die finnische Poesie Entwicklungen
aufzuweisen, wie sie selbständig in der deutschen Priameldichtung
herausgebildet sind. Dahin gehört die Häufung paralleler Gegen-
sätze^), die Beihen mit jOhne'^), Motive der Lügendichtung*), des
Wunsches^), der Definitionspoesie ^).
Auch diese Improvisationsdichtung wächst sich zu kleinen
Bildchen aus, die eine Welt für sich ausmachen. Schon die oben
zitierten Stellen und Überschriften zeigen das, und der typische
Trunkenbold erscheint hier wie im Bigveda. Sie bietet gelegent-
lich wie das griechische Skolion oder das Epigramm^) Ausführung
einer Gnome. Freilich fehlt strophische Gliederung^). Aber trotz
1) a. a. 0. S. 265. Vergl. S. 285.
3) a. a. 0. S. 129. 32.
3) „Einen Hof, der ohne Hunde,
Eine Hütte ohne Katze,
Eine Wohnung ohne Krähen,
Und ein Fenster ohne Kinder!" a. a. 0. S. 255. 256.
*) a. a. 0. S. 22. 37. 83. 95. 180.
*) a. a. 0. S. 185.
«) a. a. 0. S. 61. 62.
^) Reitzenstein, Epigramm und Skolion S. 21. 105.
®) Sogar ein Seitenstück zu den Weingrüßen und die Warnung vor
Bürgermeistern, Richtern, Advokaten, Schreibern und Pfaffen ist vorhanden.
S. 275. 842.
124
aller dieser BerührüDgspunkte sind Kanteletar und deutsche
Priamel in ihrem Charakter, ihrer individuellen Entstehung und
Ausbildung himmelweit von einander verschiedene Dinge. Jedes
Literaturobjekt trägt doch in sich selbst die Bedingungen seiner
Existenz: der indische Vierzeiler, das griechische Epigramm, das
Skolion, die Bune.
Es wurde bereits erwähnt, daß man die Kanteletar für die
Geschichte einer angenommenen altgermanischen Priamel
zu verwerten versucht hat. Daß es schon ein indogermanisches
Priamel gegeben habe, diese Ansicht müssen wir ablehnen, wenn
wir den historischen Begriff des Priamels festhalten. Dagegen
zeugt der Mangel fast aller Voraussetzungen und das Fehlen
des Priamels als Gattung bis gegen Ende des Mittelalters. Dagegen
entscheidet der Umstand, daß in den verschiedenen Abzweigungen
der indogermanischen Sprachen und Literaturen, mit Ausnahme
der deutschen, das Priamel fehlt. Wäre es indogermanisch, so
müßten es alle haben. Auch in der deutschen Literatur hat es
sich erst entwickelt, gegeben ist es auch da nicht von Anfang
an. Gegen das Hinausschieben des Priamels als Kunstgattung
in vorgeschichtliche und urgeschichtliche Zeiten spricht endlich
folgende Erwägung. Priamel und Epigramm sind Erzeugnisse
einer Subjektivität, die überall erst sehr spät literarischen Aus-
druck gewinnt. Überall ist epigrammatische Kunstdichtung an
die Ausbildung einer individuell-subjektiven Denkweise und an
verhältnismäßig hoch gesteigerte, reife Geisteskultur geknüpft.
Das lehren Simonides, Martial, Bhartrihari, Rosenplüt,
Marot, Owen^). Ein indogermanisches Priamel wäre ohne
*) Dasselbe Resultat gewinnt auch die philosophische Deduktion, die
das (in jenen Dichtungsgattungen meist enthaltene) Witzige und Komische
als die subjektivste Form des Schönen erweist. Vis eher, Ästhetik I 346.
Indem Valentin das Drama als Gattung ausscheidet, sucht er (Zs. f. vgl.
Lg. N. F. 5, 45) festzustellen, daß zuerst als besondere Gattung die epische
erscheint, daß allmählich die lyrische neben sie tritt, daß endlich die
reflektierende Gattung einen ebenbürtigen Platz erobert. Dabei ist dann
allerdings daran zu erinnern, daß es auch nicht-differenzierte, primitive vor-
literarische und unliterarische Dichtung gibt. Im allgemeinen Bücher
S. 299 ff. Wallaschek, Anfänge der Tonkunst S. 242. Elster, Über
die Elemente der Poesie und den Begriff des Dramatischen. Marburg 1903.
125
Beispiel und historisch unbegreiflich. Ein indogermanisches Friamel
gab es also nicht. Vielleicht aber schon ein urgermanisches?
ß. M. Meyer hat den Versuch gemacht, das Alter ,einer ger-
manischen Friamel' zu bestimmen. Er will sie in die ersten
Jahrhunderte unserer Zeitrechnung setzen, als die Qermanen mit
den Finnen in Berührung traten^). Zwei oben mitgeteilte Lieder
der Kanteletar nämlich, der Abschied von dem Bräutigam und
das Wiegenlied gleichen teilweise einer Strophe der Havamal,
die vielfach als Friamel betrachtet ist. Untersuchen wir die
Ähnlichkeit. Gemeint sind die Verse:
Rühm dein neues Roß erst morgen,
Deine Frau im zweiten Jahre,
Erst im dritten deinen Schwager
Und dich selber nie im Leben ^}.
Ruhm dein Roß nicht vor dem Morgen,
Nicht den Sohn, bevor er Mann ist,
Nicht die Tochter vor der Ehe,
Und dich selbst nie vor dem Tode^).
Die verglichene Strophe der Havamal 79 lautet:
At kueldi skal dag leyfa,
kono, er brend er,
mseki, er reyndr er,
mey, er gefin er,
IS, er yfir k/e^mr,
Ql er drukkit er.
(Detter und Heinzel 1, 16. 2, 113 f.)
Es deckt sich zunächst das Motiv: Man lobe nichts, bis es
die Frohe bestanden hat. DaJß Motive sich gleichen können,
ohne Abhängigkeit zu begründen, ist Tatsache*). Im Altnordischen
wird ohne, im Finnischen mit Steigerung aufgezählt. Dann ent-
sprechen sich im zweiten Vers^) der Kanteletar Zeile 3 und
Havamel 79, 4 genau, Zeile 3 entfernt 79, 2.
*) Die altgermanische Poesie S. 434. 517.
3) Paul S. 143.
3) Paul S. 165.
*) QF 10, 30. Meyer S. 533.
*) Wenn man, wie Meyer, aus dem Liede einen strophischen Vierzeiler
aushebt; einen solchen gab es freilich im Finnischen kaum. Gustay
Meyer, Essays 1, 384. Comparetti S. 33 ff. 272.
126
Beicht das aus, um eine so wichtige Tatsache festzustelleu ?
Kann man schließen, das Priamel sei in urgermanischer Zeit zu
den Finnen gelangt?
Ich möchte, wie Comparetti, diese Fragen aus folgenden
Gründen verneinen. Eine urgermanische Gnome des Inhalts, man solle
das Mädchen nicht vor der Ehe lohen, ist unbedenklich zuzugeben.
Daß sie den Finnen mit manchem Anderen, was sie den Germanen
verdanken, in vorhistorischer Zeit zugekommen sein könnte, der
Nachweis dieser Möglichkeit ist Meyers Verdienst^). Ob aber
die Häufung der Fälle in jener Gnome schon urgermanische feste
Formel war, läßt die völlige Verschiedenheit der im Finnischen
und Altnordischen gewählten Beispiele mindestens zweifelhaft
erscheinen. Dagegen spricht der Wechsel der Form; im Alt-
nordischen Aufzählung, im Finnischen Klimax. Auch im Mhd.
hat der betreffende Spruch keine Priamelform ^). Selbständige
Erweiterung der alten Gnome ist doch ebenso gut möglich. Den
weiteren Schluß, die Germanen hätten den Finnen in ältester
Zeit die Gattung des Priamels überliefert, muß man ablehnen;
die Existenz der Gattung kann durch ein mehr oder minder
zufälliges Beispiel der Klimax im Finnischen nicht bewiesen werden,
die priamelhaften Formen der altgermanischen Poesie konstituieren,
wie wir bald sehen werden, keine poetische Gattung, und die
allgemeinen historischen Voraussetzungen für das Vorhandensein
einer epigrammatischen Dichtung xat Ho^r^y fehlen gänzlich.
Endlich ist zu beachten, daß das gleiche Motiv international zu
sein scheint. Auch indisch ist es, was Meyer entgangen, vorhanden.
Böhtlingk 3, 127: Man lobt eine Speise, wenn sie verdaut ist,
eine Frau, wenn ihre Jugend dahin ist, einen Helden, wenn er
eine Schlacht gewonnen hat, einen Büßer, wenn er sein Gelübde
zu Ende geführt hat. Der Schluß auf Abhängigkeit der genannten
Fassungen von der indischen wäre verfehlt; die Gemeinsamkeit
des Motivs ist unzweifelhaft.
*) Freilich warnt Comparetti S. 291 davor, diese Ähnlichkeiten auf
prähistorisehe Berührungen beider Völker zurückzuführen: „auf welchem
Wege die gnomische Formel durch mündliche Überlieferung zu den Finnen
gelangte, und zu welcher Zeit es geschah, läßt sich nicht bestimmen."
Der Kalewala S. 292.
2) Freidank 95, 18—19.
127
7.
Mit der größten Sicherheit ist über den Ziisammenhang
romanischer Literatur und deutscher Priameldichtung geurteilt.
Daß es auch ,eine italienische, französische, normannische u. s. w.
Priamel' gegeben, galt als eben so unumstößliche Wahrheit, wie
die fabelhafte Existenz einer keltischen, arabischen oder chinesischen
Priamel. Man wußte ganz genau, daß ,die Priamel* im 15. Jah-
hundert aus Italien nach Frankreich gelangte;' nach Italien hatten
sie die deutschen Meistersänger verpflanzt. Vor dem 15. Jahr-
hundert gab es keine Spur einer Priamel in Frankreich; wenn
einmal in dem Arundel-Manuscript Nr. 220 die Form auftaucht,
so kam sie natürlich aus dem Dänischen. Die Dänen hatten sie
den Deutschen nachgeahmt, die Deutschen der Bibel und so fort.
£s ist der Boman der Priamel, den Bergmann geschrieben
hat. Die Geschichte des Priamels ist weit weniger interessant,
sie wandelt nicht unter Palmen, nicht unter den Qestirnen Ara-
biens, Syriens, Chinas hat aber dafür einen Vorzug, der Wahrheit
näher zu kommen.
Von den romanischen Literaturen konnte in älterer Zeit wohl
fast nur die Frankreichs von Einfluß auf deutsche Gnomik
sein, weniger die Italiens, noch weniger die spanische. Frankreichs
ältere Literatur ist reich an Entwicklungen, welche der unseres
Priamels in Deutschland parallel laufen, ohne damit identisch
zu sein.
Man hat auch hier zwischen unliterarischer volkstümlicher
Gnomik und wirklicher Literatur einen Unterschied zu machen.
In dieser hat die hier in Betracht kommende Entwicklung eine
von der deutschen ganz abweichende Gestalt angenommen; in
jener sind ähnliche Ansätze, wie fast überall, reichlich vorhanden.
Die jeinfachen volkstümlichen Improvisationsformen, aus denen
sich das Priamel entwickelt, fehlen auch im Französischen nicht.
Wer nur eine der französischen Sprichwörtersammlungen des
16. oder 17. Jahrhunderts in der Hand gehabt hat, für den bedarf
das gar keines Beweises. Es sind alle Formen, die für das
deutsche Priamel Wichtigkeit gewonnen haben, entwickelt *). Noch
*) Bei der Erläuterung der Priamelform ist auch französisches be-
rücksichtigt. Ein picardisches Proverbe des 13. Jahrhunderts lautet:
128
mehr. Was auf der Basis solcher gemeinsamen primitiven Grund-
lagen der eigentlichen Literatur zustrebt, dafür bildet der rede-
gewandte Bomane schon früh viel reichere Formen aus, als sie
in deutscher Literatur aufzuweisen sind; und das ist bei dem
Unterschied des künstlerischen Charakters beider Völker das
Natürliche^). Die Ennegs, Litaneien und einige verwandte Er-
scheinungen sind uns schon begegnet. Auf Stellen der Troubadours
hatte Sachs aufmerksam gemacht^); es gibt mehr der Art^).
Auch auf das Spanische war dort verwiesen. Ein nicht ver-
merktes glossenartiges ^) Beispiel Baltasars de Alcäzar, von
Paul Heyse übersetzt, möge veranschaulichen, eine wie hoch
entwickelte Kunst hier vorliegt, wie das einfache deutsche Priamel
damit gar keinen Vergleich aushält.
Wenn ich dreierlei besäße,
WUrd ich schier in GlUck versinken:
• Dich, o schöne Ines, Schinken,
Liebesäpfelchen mit Käse.
Soweit mag ein volkstümlicher Vierzeiler zu Grunde liegen;
dann wird er in feinste Dialektik aufgelöst.
Diese Ines ist fUrwahr,
Die mir raubte den Verstand,
Daß ich gar abscheulich fand
Alles, was nicht Ines war.
Und in düsterer Ascese
Wollte mir kein Sternlein blinken,
Bis ich jungst geriet an Schinken,
Liebesäpfelchen und Käse.
Tres-grans envies dire os:
Si sont de II kiens a I os,
Et de II povres a I huis;
Et de plus dire je ne puis
Ne plus grandes nuls hon ne vit
Fors de II femmes a I vit.
KpuTTTGiSta 3, 344. Sind Vers 4 und 5 späterer Zusatz? Auf die Form
wird eben in der Überlieferung — das sicherste Anzeichen für das Fehlen
der Gattung — kein Gewicht gelegt.
*) Jeanroy, Les origines de la poesie lyrique en France au moyen
äge S. 363 ff.
») Herr ig 8 Archiv 15, 375.
3) z. B. Mahn, Die Werke der Troubadours 1, 1. 2. 54. u. s. w.
^) Auch an die Cancion ist zu erinnern.
129
Ines freilich hat gesiegt,
Doch bald hab ich zweifeln müssen,
Was von diesen drei Genüssen
Mir zuerst am Herzen liegt.
So verlockt mich nun der Böse
Jetzt zur Rechten, jetzt zur Linken,
Bald zu Ines, bald zu Schinken,
Bald zu Äpfelchen mit Käse.
Wenn die Maid von Reizen spricht,
Lobt der Schinken sich geschwind;
Käs und Liebesäpflein sind
Ein urheimatlich Gericht
Nicht die feinste Hypothese
Macht der Wage Zünglein sinken:
Gleich an Wert sind Ines, Schinken,
Licbesäpfelchen und Käse.
Aber so viel bringt mir ein
Diese neue Leidenschaft;
Ines darf so launenhaft
Und so spröde nimmer sein.
Denn der Trost, den ich erlese,
Tut sie nicht nach meinen Winken,
Ist ein herzhaft Stückchen Schinken,
Liebesäpfelchen und Käse^).
Auch WO die Verbindung kürzer ist, welche von romanischer
Literatur zu deutscher hinüberzuleiten scheint, versagt die Ver-
gleich ung; so wenn man den durchgereimten deutschen Vierzeiler
aus der französischen Tirade oder Laisse ableiten wollte. Dem
einfachen deutschen Priamel entgegen, schreitet romanische Dichtung,
wo sie wirklich priamelhaft wird, zu langen Spruchreihen fort.
Ki nul bien ne scet ne nul volt aprendre,
Ki mult acreit et n'ad dunt rendre,
Ki tant dune ke rien ne retent,
Ki tut promet et puis ne dune nient,
Ki tant parole ke nule ne l'escute,
Ki tant manace ke nul ne l'dute,
Ki tant jure ke nul ne li crait,
Ki demande quanque il n^ait,
Ki ä fole enemi sun cunseil cunte,
Ki por autrui amer sei-meimes met ä munte,
*) Gcibel und Heyse, Spanisches Liederbuch. Zweite Auflage S. 53 f.
Nigra, Canti popolari piemontesi S. 578. Nr. 85.
Ettling, Priamel 9
140
Bahn gebracht^). Wo deutsche Sonette zu prianielhafter Haitang
zu neigen scheinen, wie der monströse 41. Liebeskuß Quirin
Kuhlnianns*), ist das deutsche Priamel ebensowenig die Grund-
lage gewesen wie bei den' Italicnern. Eine Gattung der Sonett-
priamel hat es glücklicherweise nie gegeben. Auf spätere Erzeug-
nisse romanischer Literaturen einzugeben, ist nicht erforderlich,
weil sie auf die Ausbildung des deutschen Priamels nicht ein-
gewirkt haben. Die selbständige Entwicklung des Priamels in
Deutschhmd läßt, in lückenloser Abfolge ihrer Phasen verlaufend,
fremder Einwirkung auf die innere Form keinen Kaum. Hält
die Beurteilung fremder Literaturerzeugnisse, wie billig, den
unterschied bloßer Stilform und literarischer Gattung fest, so
kann es nicht zweifelhaft sein, daß Priameldichtung im eigent-
lichen Sinne auch in den andern europäischen Literaturen fehlt ^).
8.
Von solchen Anschauungen aus ist eine mechanische Ver-
gleichung fremder Sprüche zunächst abzulehnen. Wo gelegentliche
Einwirkungen zu erkennen waren, ist auch hier davon Gebrauch
gemacht; einer principiellen Erörterung bedarf es nicht mehr.
Auf die verwandten Erzeugnisse germanischer Literaturen ist
später gebührend Bücksicht genommen.
Es heißt den ausländischen Erzeugnissen Gewalt antun, wenn
man sie mit dem Maßstab des deutschen Priamels mißt; für
Alles mehr oder weniger Ähnliche die Bezeichnung des Priamels
zu erzwingen, wäre auch ganz unhistorisch. So dient hier die
vergleichende Methode, völlig im Gegensalz zu den bisherigen
Anschauungen, recht eigentlich dazu, die Verschiedenheit des
Priamels von den verglichenen Literaturprodukten zu erkennen.
Das Nürnberger Priamel hebt sich in seiner Einfachheit und
seinen Lebensbedingungen scharf ab von den künstlicheren ro-
manischen Formen des Mittelalters und der forcierten Geist-
reichigkeit der gleichzeitigen Italiener ; es ist weder orientalischer
*) Schneegans, (icschichto der grotesken Satire S. 33 f. Über den
Vorsprung der Franzosen gegenüber den Deutschen in der Vorliebe fürs
Lächerliche: Herder 2, 46 f. (Suphan).
3) Welti S. 238. Vgl. dieUoppelperiode von Üryphius: WeltiS. 239.
3) Gaston Paris, Revue critique 1868, Nr. 39. S. 194.
141
Herkunft noch allen Indogerraanen gemein: der Versuch, ein
urgermanisches Priamel zu erweisen, ist gescheitert. Scherer
meinte, das Priamel sei der germanischen Literatur eigentümlich: wir
werden noch über ihn hinauszugehen iiaben, indem wir in seiner
Behauptung an Stelle der germanischen Literatur die deutsche
setzen. Das wird sich, um es vorweg zu nehmen, aus späterer
Untersuchung ergeben. Vielleicht bin ich schon in der Wider-
legung der bis jetzt geübton vergleichenden Methode zu ausführlich
gewesen; auf Alles, was aus diesem oder jenem Gesichtspunkt
einmal als Priamel angesprochen ist, braucht man wohl nicht
einzugehen. Endlich noch eins. Die polemischen Bemerkungen
über fremde Literatur vermögen den einzelnen Erzeugnissen nicht
entfernt gerecht zu werden, können und sollen nicht erschöpfen;
hier galt es nur, den dicksten Firnis zu entfernen, mit dem
bisherige Forschung die wirklichen Züge des Gesamtbildes der
Priamellileratur entstellt hat.
V.
Theorien zur Entstehung und Vorgeschichte
des Priamels.
Der Begriff von Entstehen ist uns ganz und
gar versagt, daher wir, wenn wir etwas werden
sehen, denken, daß es schon da gewesen sei.
Goethe.
1. Theorien über Entstehung der Form befriedigen nicht. 2. Insbesondere
ist das Priamel nicht ohne weiteres aus der Häufung entstanden.
1.
Bevor wir die ersten Spuren des Priamels aufsuchen können,
ist eine kurze Prüfung der bisherigen Theorien seiner Entstehung
und Vorgeschichte erforderlich. Die Betrachtung hat sich bisher
durchweg wieder auf die äußere Form des Priamels, und zwar
des synthetischen beschränkt.
Das wirkliche Priarael ist wie alles Natürlich-Individuelle
zugleich Form und Inhalt. Die Entwicklung beider getrennt zu
betrachten, wäre unrichtig, weil weder eine vorher bestehende
Form sich den Inhalt, noch dieser sich die Form geschafifen haben
kann. Es entwickelt sich beides nicht nebeneinander, sondern
ineinander. „Natur hat weder Kern noch Schale, Alles ist sie
mit einem Male''. Man hat sich auch hier wohl die Sache zu
leicht gemacht. Rosenkranz meinte^); „Der Spruch stellt die
Sache einfach hin und begnügt sich mit einer schlichten Ein-
kleidung. Werden aber mehre Subjekte nach einander aufgeführt
und werden dieselben schließlich (?) durch ein urteil zusammen-
geknüpft, so entsteht die Priamel. — Die Priamel läuft also auf
eine Pointe hinaus." Man hört neben dem Philosophen nur
Herder und Eschenburg. Die von Rosenkranz^) zuversichtlich
^) Geschichte der deutschen Poesie im Mittelalter S. 568.
3) A. a. 0.
143
zu OuDsteo dos Priamels beantwortete Frage, ob Lehrgedicht
oder Priamel die Priorität zu beanspruchen habe, hat keinen
tieferen Sinn als die Frage nach der Priorität von Ei oder Henne.
Theoretisch läßt sich nichts dagegen einwenden, wenn man als
Entwicklungsreihe Sprichwort, Priamel, Lehrgedicht ansetzt; in
Wirklichkeit liegt die Sache nicht so einfach. Die musivische
Znsammensetzung der Bescheidenheit rechtfertigt kaum den strengen
Begriff des Lehrgedichts, und das Priamel fällt ebenso vielfach
aus dem Bahmeu der didaktischen Kategorie heraus. Noch
Schönbach hat jüngst^) das Priamel als Mittelglied dieser
Entwicklung behandelt^). Eine ex post ausgedachte Theorie,
wie die (hier als Beispiel für viele zitierte) B. M. Werners
über Spruch, Gnome, Epigramm, Bätsei und PriameF), bleibt
für die geschichtliche Untersuchung unfruchtbar. Wenn ein
anderer Theoretiker der Poetik von der „Ausartung des Epigramms
in den einfachen Sinn- und Denkspruch'' r-edet, so wird man
sich schwerlich von einer solchen Entwicklung eine historisch
glaubhafte Vorstellung machen können. „Durch alle Theorie
der Kunst versperrt man sich den Weg . . .; ein schädlicheres
Nichts als sie ist nicht erfunden worden** sagt Goethe.
W. Wackernagel hatte einmal das Priamel aus dem
Sätsel hergeleitet, ein anderes mal mit den im späteren Mittelalter
so beliebten Blutenlesen aus dem Freidank in Verbindung gebracht
und hierin seine ersten Wurzeln gesehen*); solcher Batlosigkeit
gegenüber — für etwas anderes kann man derartige Hypothesen
doch kaum halten — glaubte B. M. Meyer in Übereinstimmung
mit Scherer feststellen zu können, daß die Priamelform in der
altgermanischen Figur der Häufung ihren natürlichen und sichern
») Walther« S. 159.
«) Behauptungen wie die von W. Grimm bekämpfte: mit dem Lehr-
gedicht beginne die Poesie, bedürfen wohl keiner Widerlegung; soviel ist
daran richtig, daß die einfache Gnome uralt sein muß. Auch W. Grimm
scheint einer zu äußerlichen Chronologie das Wort zu reden, wenn er die
Entstehung des Lehrgedichtes erst nach dem Verfall des Epos ansetzt.
Sieht Usener in der religiösen Lyrik bei allen Völkern die erste Stufe der
Poesie, während Wallas che k mit Nachdruck das Drama voranstellt, so ver-
stehen beide unter Poesie eben nicht dasselbe.
3) Lyrik und Lyriker S. 181. 188.
*) Poetik 3 S. 212. KL Schriften 2, 389.
144
Hoden besitze^). Konnte Meyers Annahme eines urgermanischen
und finnischen Priamels als Dichtungsgattung nicht überzeugen,
so hat doch spätere Forschung nur zu ihrem Schaden Meyers
sonstige Ergebnisse absichtlich oder unabsichtlich ignoriert. Meyer
unterscheidet aber auch zwischen Form und Gattung nicht; er
spricht kurzweg von der Priamel.
Der Hauptreiz aller Poesie ist Einheit im Wechsel^); die
Versuche, die Häufung technisch zu regeln, führen unmittelbar
zur Entwicklung der Priamelform: so stellt sich Meyer die
Genesis vor. Geschehen diese Versuche mit bestimmt verfolgter
Absicht, dann hätte wieder die grimmig befehdete Teleologie den
Platz der Kausalität^) eingenommen; bestehen sie in absichtslosem
Experimentieren, dann wäre alles das auch hiergegen vorzubringen,
was z. ß. gegen die Spieltheorie von Groos gilt. Das einfachste
Bindeglied verleiht der Form die nötige Einheitlichkeit. Zahlen
sind allerdings nur das dürftigste Surogat dafür und wertlos ohne
einen gemeinsamen Begriff, der die Bindung herstellt. Dient die
Aufzählung nicht epigrammatischem Zweck, so gehört sie gar
nicht hierher. Zunächst prägt die Anapher den einzelnen Gliedern
den Stempel der Einheitlichkeit auf. Schon die altgermanische
Poesie hat den anaphorischen Dreizeiler ausgebildet, eine Vorstufe
der Priamelform; z. B. Havamal 74.
Deyr fe,
deyia frcendr,
deyr sialfr it sama^).
Der Entdecker des Dreizeilers hat schon auf die Ähnlichkeit
mit dem Paroemiacus hingewiesen und den Dreizeiler die Hälfte
der LjoöTahättsstrophe, als urgermanisch angesprochen^). Setzen
sich dann Parallelverse an und kommt bestimmte Oekonomie der
Einzelheiten hinzu, so erhält man ein Schema des Priamels*);
allerdings dieses nicht selbst; denn zu einer bestimmten Kunst-
*) Altgermanische Poesie S. 435. Seh er er, Deutsche Studien I 347.
8) Meyer S. 237.
3) Meumann in den Philosophischen Studien 10 (1894), 255: „Eine
teleologische Erklärung stellt sich überall da ein, wo wir um den Nachweis
des kausalen Zusammenhanges in Verlegenheit sind."
*) Meyer S. 316. 514. Detter und Heinzel 2, 112.
5) Meyer S. 322. 514.
ß) Meyer S. 435.
145
gattung gehört auch mindestens ein bestimmter adäquater Inhalt,
der hier noch durchaus fehlt; z. B. Hyndlulied 31 :
Eru uQluuT allar
frä Uipolfi,
uitkar allir
frä Uilmeipi,
seipberendr
frä SuarthQfpa,
iQtnar aUir
frä Ymi Icomnir*).
Die Anordi\ung des Satzes ist nur zufällig synthetisch.
Meyer faßt nun das Priamel als eine Art Aufblasung des
anaphorischen Dreizeilers ^). „Bei diesem wird an ein Paar
symmetrisch gebauter Verse gleich die Abschlußzeile gefügt, bei
der Priamel werden erst noch die Vorbereitungszeilen vervielfältigt.
Ganz ähnlich steht in der Oeschichte der Dichtungsformen die
italienische Terzine zum Bitornell oder das persische OhaseF)
zum Bubai: Anfang und Schluß bleiben unverändert, der Hauptteil
aber wird vervielfältigt. Und zwar hat dieser Kunstgriff des
Ausspinnens bei der Priamel die einfachste Form, weil das ver-
vielfachte Glied ein einfacher Satz und Vers ist: a/ a/ ab wird
a/a: a: a . . . ./ ^b. Es wird gleichsam das Dach in die Höhe
gehoben und das Haus um mehrere Stockwerke erhöht, während
Fundament und Dach ihre alte Gestalt bewahren*)''. So an-
schaulich dieses Bild wirkt, so ist es doch insofern etwas schief,
als die Vorstellungen von unverändertem Fundament und Dach den
Gedanken nahe legen, daß ein organischer innerer Zusammenhang
zwischen den einzelnen eingefügten Gliedern nicht vorhanden zu
sein brauche, und gerade das ist für das eigentliche Priamel
das Charakteristische. Außerdom paßt wieder die ganze Theorie
nur für die eine Hauptform des synthetischen Priamels, erschöpft
also die Sache keineswegs. Wahrscheinlich irrt man, wollte man
gegebenen Falls sich wirklich die Entstehung eines Priamels so
denken, als wenn ein fester Ausgangs- und Endpunkt von An-
fang an in der Vorstellung des Dichters festgelegt wäre, wie
0 Detter und Heinzel 1, 182.
3) S. 435 f.
3) V. Biedermann, Zs. f. vergl. Lg. 9, 230 ff.
*) Meyer S. 435 f.
Bttling, Priamel 10
146
im Grundriß des Hauses Fundament und Dach. Ohne Zweifel
ist nach Analogie alles künstlerischen Schaffens zunächst nur das
reine Wohlgefallen an irgend einer charakteristischen Form oder
Wendung beim Dichter der Keim des späteren Werkes; diese
Wendung braucht gar nicht einmal das Orundmotiv zu sein, das
bildet sich erst' später bei genauer Überlegung und Abwägung
aller Einzelheiten. Auch hier haben wir uns — und das unter-
scheidet das altdeutsche Priamel vom Aperfu und modernem
Epigramm^) — die naive Freude an der Fülle der Einzelheiten
als die Grundlage des Gedichtchens vorzustellen; die Zuspitzung
ist Nebensache.
Mit diesen Einschränkungen mag das Bild Meyers seine
Berechtigung haben und den äußerlichsten Schematismus eines
synthetischen Priamels deutlich machen; mehr aber nicht. Im
Grunde hatte sich Wendeler die Entwicklung ebenso gedacht-).
Mit der Ansetzung eines möglichen Schemas erklären wir freilich
nun nicht die Entwicklung selbst, das Agens, die innere treibende
Kraft. Es gilt gegen B. M. Meyer dasselbe Bedenken, das wir
gegen v. Biedermanns Zählmethode bei der Theorie über die
Entstehung des Viertakters aussprechen müssen. Wie sich durch
Auszählen der Satzbestimmungen noch kein Viertakter und durch
Addition von Wortteilen noch kein Ehythmus ergibt, so macht
die Multiplikation einzelner synthetischer Glieder noch kein
synthetisches Priamel. In allen drei Fällen dürfen wir uns mit
solchen äußerlichen Erklärungen wohl nicht zufrieden geben.
„Es können die Einzelformen der Dichtung nicht durch die
Methode äußerer Beobachtung und Vergleichung in ihren inneren
Antrieben erklärt und unter allgemeingültige Begeln gebracht
werden. Ein tiefer psychologischer Grundunterschied, Aussprache
des eigenen bewegten Inneren und Hingabe an das Gegenständliche
geht von den primären Gebilden der Poesie aufwärts^)."
^) „Der schlechteste (Epigrammatist), meint Lessing, nimmt nie die
Feder, ein Epigramm niederzuschreiben, ohne den Aufschluß vorher so gut
und kurz gerundet zu haben, als es ihm möglich ist. Oft hat er Nichts
voraus bedacht, als diesen einzigen Aufschluß, der daher auch nicht selten
eben Das ist, was der Dietrich unter den Schlüsseln ist; ein Werkzeug,
welches eben so gut hundert verschiedene Schlösser eröffnen kann als eines.^
3) De praeambulis S. 32 f.
^ Dilthey, Die Einbildungskraft des Dichters S. 336.
147
2.
Inwiefern wurzelt das Priamel in der Häufung^)? Ist es
daraus abzuleiten?
Goethe läßt die Sprache schon an und für sich produktiv
sein, und zwar in doppelter Sichtung: poetisch produktiv, insofern
sie der Einbildungskraft, rhetorisch, insofern sie dem Gedanken
entgegenkommt. (Noten und Abhandlungen zum westöstlichen
Divan: Orientalische Poesie, ürelemente.) Dürften wir heute
noch eine solche Hypostase des SprachbegrifTes gelten lassen, so
träfen wir die sprachliche Kunst in der ersten Bichtung an
der Arbeit, wenn sie „Lebensbezüge" rein intuitiv ausspricht
und wenn sie in mehr oder weniger freiem Spiel schöpferischer
Produktivität zum Zweck der gesteigerten Erlebbarkeit dem Princip
der Wiederholung^) folgt und der Variation, dem Paralle-
lismus und der Häufung huldigt. Aber wenn wir die Ein-
schränkung machen, daß die Sprache nicht zugleich Kunst und
Künstler, Objekt und Subjekt sein kann, dürfen wir uns Goethes
Führung anvertrauen; machen wir den Unterschied zwischen
Poetisch und Bhetorisch, scheiden wir rein rhetorische sprachliche
Mittel vorläufig aus.
Bei den Anfängen der Poesie spielt bekanntlich die Wieder-
holung, „die Seele des Volksliedes" eine entscheidende Bolle.
Als Beduplikation gibt tsie der Sprache der Kinder und der
Wilden ein eigenes Gepräge '), der Beiz von Bhythmus und Beim
beruht auf Wiederholung, Wiederholung ist das Tragwerk der
») Siehe oben S. 143.
^)Woldemar von Biedermann, Zur vergleichenden Geschichte
der poetischen Formen, Zs. f. vergl. Lg. N. F. 2, 418 ff. 9, 224 ff. Goethe-
Forschungen 3, 235 ff. R. M. Meyer QF 58, 68 ff. Etwas einseitig und
äußerlich Norden, Kunstprosa 2, 813 ff. Unsystematiseh im allgemeinen,
sehr lehrreich für das Estnische Kallas, Die Wiederholungslieder der Est-
nischen Volkspoesie S. 3 ff; übrigens sind die sogenannten Wiederholungs-
lieder eine dem Deutschen fremde Specialität. Gummere scheidet im
5. Kapitel seiner Beginnin gs of Poetry ohne durchschlagenden Grund incremen-
tal repetition und cumulative repetition und führt alle diese Erscheinungen
sehr gezwungen auf den angenommenen „socialen^ Ursprung der Poesie
zurück.
3) Tylor, Anfänge der Cultur 1,217. Groos, Spiele der Menschen S. 40.
10'
148
ganzen primitiven Poesie geworden^). „Beim erstmaligen Anhören
. . . . sind wir rein auffassend und uns innerlich adaptierend
tätig, bei der Wiederholung ist die Arbeit der Auffassung vorbei,
und wir können uns, nachdem dte aneignende Aufmerksamkeit
entlastet ist, dem Genuß hingeben. Es ist dabei einerseits die
Lustqualität, die allem Bekannten anhaftet, welche in Kraft tritt,
und negativ kommt für die Entwicklung der Gefühlswirkung ....
der bekannte Antagonismus zwischen Aufmerksamkeit und Gefühl
in Betracht. Auf diesem Princip der Wiederholung beruhen ganz
besonders die einfachen . . . Mittel der ältesten Poesie.^ Beine
Wiederholung ist nicht ausgeschlossen, Variation aber stellt sich
als negatives Komplement schon von Anfang an ein^). Diese
Wiederholung ist zunächst ziemlich sinn- und planlos^); dann
tritt als regelndes Moment „Bewegung" hinzu. Mit den gleichen
Bewegungen werden Wiederholungen des Arbeitsgesanges, mit
wiederkehrenden Figuren des Tanzes die gleichen Melismen ver-
bunden. Mechanische Wiederholung stellt eine Vorstufe des
Parallelismus dar*), die Häufung beruht auf Parallelismus,
den sie erweitert. Beim Heizen des Kalkofens schieben Bauern
Palästinas abwechselnd Dornen in das Feuerloch und singen dabei,
einer stimmt an, ein zweiter respondiert ^). Eegenlieder werden
von Bauernmädchen bei Betlehem mit häufiger Wiederholung
jeder Zeile ohne Vorsängerin zusammen gesungen®).
In Merg Ajun sah Dalman einen Tanz mit Bewegungen,
die dem Inhalt der gesungenen Textworte entsprachen. Alle
Anwesenden sangen den Befrain mit.
So pflückt man Weißdorn, o Mutter so 1
so geht die Kokette, o Mutter sol
*) Groos, a.a.O. S. 41. 46. 158. Meumann, Philosophische Studien
10, 298. Wallaschek, Anfäoge der Tonkunst S. 24. 27. 31.
2) Nicht erst als „assertion of art, of progress, of the individual,"
wie Gummere S. 209 meint, während er für die Wiederholung „socialen"
Ursprung annehmen will. „Iteration is the spontaneous expression of
emotion (?) and begins in the strong."
^) Letourneau, L'evolution litteraire dans les diverses races humaines.
Paris 1894. S. 29.
*) PoUe zu Drosihns Kinderreimen S. 32 f.
*) Dalman, Palästinischer Diwan S. 56.
«) Dalman S. 58.
149
SO ladet er seine Gäste, o Mutter so!
so schlachtet er lein Schaf, o Mutter so!
so gehen die Mädchen, o Mutter so!
so gehen die alten Frauen, o Mutter so!
so gehen die Meere, o Mutter so!
so schwimmt man in den Flüssen, o Mutter so^}.
Wiederholung and Variation liegt als entwickelndes Princip
ebenso dem kleinsten musikalischen Satz und den meisten poetischen
Gebilden zu Grunde-), wie sie für wichtige Erscheinungen hoch-
entwickelter Kunst das normierende Gesetz abgegeben hat; sie
führt notwendig zu der in dem Parallelismus des Stils ausreifenden
Kunst ^). Man wiederholt und variiert nicht mehr allein äußerlich
das Sprachmaterial, sondern den Sinn^). Variation und Paralle-
lismus entsprechen dem Bedürfnis der Poesie nach lebendiger
Entfaltung, dieser bezeichnet positiv, was jene negativ ausdrückt,
beide beherrschen besonders alle noch nicht höher ausgebildete
Dichtung, durchaus noch die finnische, estnische, lappische und
litauische, die primitivste improvisierende Volkspoesie fast aller
Nationen. In manchen Literaturen ist der Parallelismus vielfach
auf niederer Stufe stehen geblieben. Bei den Ägyptern scheint
er kaum durchgedrungen (vielleicht schon verwischt) zu sein; in
einer Periode des Überganges begriffen zeigt sich akkadische und
altchinesische Literatur^).
Schon sehr früh macht sich neben dem eigentlich ,poetischen'
der , rhetorische' Gesichtspunkt geltend und führt zu einer
Fülle von Entwicklungsformen, zu bewußter Tautologie, Hervor-
hebung, Doppelung, zu Zwillingsformeln und Parallelversen. Als
formales Mittel der Entwicklung dient hier in germanischer
Literatur auch der schon der älteren Entwicklung angehörige
*) Dal in an, »Palästinischer Diwan S. 272. Ähnliches im Kinderlicd
und Einderspiel.
') Vogt und Koch, Geschichte der deutschen Litteratur P 6.
3) Ein durchgeistigter Parallelismus beherrscht mehr oder weniger die
ganze mittelhochdeutsche poetische Technik und hat hei dem yoUendetcn
Stilkünstler Konrad von Würzhurg eine noch lange maßgebende Ausbildung
erhalten.
*) V. Biedermann 3, 244 ff.
5) V. Biedermann Zs. f. vergl. Lg. 2, 427. 9, 228.
150
Beim'); bestimmten rhetorischen Zwecken dienen zugleich die
Anapher, die synonymische und etymologische Gedankenverbindung,
die Antithese, die Klimax. In höher entwickelter Dichtung tritt
so neben den fast automatischen Variationstrieb die vom Subjekt
beabsichtigte, bewußt geübte, zweckvolle Variation, die ein
Grundzug gerade der germanischeu Dichtung geworden ist^). Das
leidenschaftliche Naturell des Germanen liebt die Accente^). Die
altgermanische Dichtung ist so sehr von dem leidenschafblichen
Streben nach Variation durchdrungen, daß man im Hinblick auf
die Heiti von Varationswut hat reden*) und ihr wesentlich die
Schuld daran hat zuschreiben dürfen, daß die altgermanische
Sprache fast keine echtepische Ausgestaltung, wie die griechische,
gewinnen konnte.
Formelle und inhaltliche Variation führt wieder zur Häufung,
die seit Alters in germanischer Dichtung den breitesten Baum
einnimmt^). Während die Häufung wie die andern ihr vielleicht
vorausliegenden poetischen Erscheinungen im Arbeitslied noch
vorwiegend mechanischen, im Kinderreim und verwandten Spruch-
arten im Grunde automatischen, im Finnischen musikalischen
Ursprungs und Charakters ist, wird sie in altgermanischer Dichtung
bald Träger des Gedankens zum Zweck der Darstellung des
Charakteristischen. Hier Logismus, dort Mechanismus.
Auf den verschiedensten Gebieten sprachlicher Ausdrucks-
weise machen sich Parallelismus, Variation und Häufung geltend.
Der Parallelismus zeitigt unzählige Zwillingsformeln, die von
ältester germanischer Zeit bis heute lebenskräftig geblieben sind®).
1) R. M. Meyer, Altgerm. Poesie S. 328; vergleiche das Ritomell, das
Qaodlibet, den Leberreim. y. Biedermann 2, 430 leitet wie Groos den
. Reim aus der Wiederholung ab. über den entwickelnden Reim in außer-
germanischer Dichtung Biedermann a. a. 0. 9, 228. Goethe-Forschungen
3, 247. Norden, Kunstprosa 2, 810 ff. Zu eng faßt diese Erscheinungen
Vierkandt, Naturvölker und Kulturvölker S. 317.
3) Heinz el QF 10, 50.
3) Seh er er, Vorträge und Aufsätze S. 16. Vogt, Geschichte der
eutschen Literatur S. 6.
*) Meyer S. 117.
5) Meyer S. 434. 506.
ß) Meyer S. 240 ff. Meyer schreibt dem dreifachen Stabreim einen
hervorragenden Anteil an der Ausbildung der Zwillingsformeln zu S. 244 f-
151
In der altdeutschen Syntax zeigt sich das gleiche Streben nach
Parallelismus, wenn parataktische Satzverbindungen und parallel
geordnete Glieder bevorzugt werden^). Auch die Bede und
besonders die Predigt gibt sich dieser Neigung gefangen und
geht bis zu maßlosen Häufungen^). In Nr. XKX der Denkmäler^),
von Scherer mit der Predigt in einleuchtenden Zusammenhang
gesetzt, werden Himmel und Hölle geschildert (59 flf. 81 flf. 87 flf. 99 flf.).
Die berühmte dann folgende Beschreibung der Hölle in 74 Versen,
immer dasselbe Stilmittel gebrauchend, schüttet ,die Schrecken
des Strafortes, als ob die Fantasie gepeitscht werden sollte, in
geschlossenen Massen heftig über den Zuhörer aus' (116 flf.)*)«
Diese Fülle schier unerschöpflichen Beichtums unserer Sprache
nötigte selbst W. Wackemagel ein Wort überraschter Bewunderung
ab. In der Erinnerung (892 flf.) «werden die Schrecken der Hölle
ähnlich gehäuft. Es wäre wahrscheinlich irrig, wollte man in
solchen fast formelhaften Schilderungen der Hölle und des
Himmels nur biblisch- theologische Einwirkungen^) sehen; alt-
formelhafte' Volkslieder, Beschreiungssprüche, Segen und
Volksreime enthalten das Häufungsmotiv, Bechtsformeln ver-
fahren ebenso. Der letzte Vers des Volksliedes Feinslieb im.
Grabe lautet:
Ei du mein herzaUerlicbster Schatz,
Mach auf dein tiefes Grab,
Du hörst kein Glöcklein läuten,
Du hörst kein Vöglein pfeifen,
Du siehst weder Sonn noch Mond^).
*) Scherer, Vorträge und Aufsätze S. 86.
*) Vergl. Norden, Kunstprosa 1, 161. 2, 619. Einen andern Zug im
Exordium der Predigt, die Vorliebe für Anapher und Klimax, hat Ehris
mann im Anzeiger für deutsches Altertum 25, 167 in Zusammenhang mit
dem Priamel gebracht, aber daran m. E. zu weit gehende Schlußfolgerungen
geknüpft. Extemporierende Rede führt von selbst zur Anapher und Klimax.
3) MSD XXX. QF. 12, 27. Über den poetischen Charakter Stein-
meyer 2, 162 ff.
*) Erich Schmidt, Charakteristiken 2, 62.
^) Albrecht Biete rieh, Nekyia. Leipzig 1893 nimmt doch wohl
etwas einseitig für solche christliche Vorstellungen griechischen Ur-
sprung an.
^) Birlinger und Crecelius , Wunderhorn 2, 234. Uhland,
Schriften 4, 7 f.
1
152
Ein altbnlgarischer Beschreiungsspruch malt den unheim-
lichen Ort,
wo die Sonne nicht wärmt*),
wo der Wind nicht weht,
wo der Hahn nicht kräht,
wo der Hund nicht bellt,
wo das Schaf nicht blökt,
wo die Ziege nicht springt').
Im Hütersegen auf dem Boßfelde über Hallein wird geiade
so die Hölle beschrieben:
wo kein Hahn net kräht
und kein Mahder mäht,
wo kein Vöglein singt
und kein Glöcklein klingt^).
Wettersprüche aus Kärnten zeigen dieselben alten Formeln;
zunächst ein Kinderspruch an die Sonne aus dem MöUthal:
Sunne schein, schein,
Treib die Wolkn von Dein
Hin afn Gatterspitz,
Wo Peter und Paule sitrt,
Wo ka Hüne kräht,
Wo ka Mader mat,
Wo ka Ochse lUet
Und ko Plueme blUet^).
Ein andrer Spruch richtet sich gegen Wetterhexen:
Ziech hin, ziech hin
In die wilde Romanei,
Wo ka Handl krat.
Wo ka Mader mat.
Wo ka PlUeml blUet,
Wo ka Rindl lüet.
0 MF 28, 22. Wilmanns, Walther S. 34.
') Zeitschrift für Volkskunde 8, 337. Weinhold hat da reiche
Varianten hinzugefügt. Vergl. Weinhold, Die altdeutschen Verwünschungs-
formeln S. 676.
') Zeitschrift für Volkskunde a. a. 0. Über das Alter von Segen-
sprüchen Weimarisches Jahrbuch 3, 253 f. Ein modemer Hütespruch bei
Z schalig, Bilder und Klänge aus der Eochlitzer Pflege. Leipzig und
Dresden 1903. S. 89.
*) Pogatschnigg und Herrmann 2, 20. Dazu Böhme, Kinder-
lied S. 205. Nr. 966.
153
Im Gurkthal lautet ein Wetterspruch:
Geh hin, geh hin,
Wo ka Hüne krat,
Wo ka Mader mat,
Wo ka Stier nit geht,
Wo ka Kind geborn wet,
Dortn kannst di auslarn*).
Predigt und Dichtung haben in gleicher Weise von volks-
tümlichem Vermöpen gezehrt. Hartmann verdankt in seiner
Rede vom Glouven viel dem ausgebildeten Stil der Häufung^),
mehr noch die späteren Sermones nulli parcentes, Thomasin von
Circlaria, Hugo von Trimberg und die locker gefügte Auf-
zählungskunst des ausgehenden Mittelalters, bis die groteske
Satire Fischarts das Kunstmittel mit absichtlicher Übertreibung
würzt, zur höchsten Ausbildung steigert und zugleich für die
höhere Literatur vernichtet. Zu wahrhaft poetischer Wirkung
gelangt die Häufung in Rechtsformeln, die von KoegeP)
vielleicht überschätzt sind. Amrumer Volksreime schwelgen
noch heute in Häufungen; z. B.
ärebare, lungsnäre,
wan skel wi tu Rippen far?
wan a raag rippet,
wan a berri piipet,
wan a heewer skeran waardt,
wan at biarn heran waardt,
wan a stian drawt,
wan a feeder sankt,
wan an ruad'en apel tu strun driiwen körnt,
do skal ärebare lungsnare-r sallew Üütj am swem*).
^) a. a. 0. 21. Vergl. noch Wimderhorn HI 16. Meinert, Alte
deutsche Volkslieder in der Mundart des Kuhländchens S. 13 mit vielen
Varianten. Auch das Himmelreich wird ähnlich formelhaft geschildert:
Bö ekel, Deutsche Volkslieder aus Oberhessen S. XVIII f.
2) V. d. Leyen S. 70.
3) Lg. I> 242 ff. Dazu Siibs in der Zs. für deutsche Philologie 1896.
S. 405 ff. und in Pauls Grundriß IP 526 ff.
*) Haupts Zeitschrift 8, 374. Dazu Niederdeutsches bei Wegen er,
Volkstümliche Lieder S. 88 ff. Böhme, Kinderlied S. 163 f. und Andree,
Braunschweiger Volkskunde S. 339.
154
Frühlingsnähe bringt der 12. März, der Gregroriustag, zum
Bewußtsein.
Greegööri :
plugh uun eerd an bööre,
an at faader skööre,
a hingster fan a stäl,
an a skel fdn a wäl,
an a ual wüffen fan a aank,
ial' er uun a sköödang,
gers uun a sprööd,
fask uun a flood,
fögler uun a logt,
do spring ,arken uun a bogt').
In Verbindung mit bedeutungsvoll gewählten^) Zahlen wird
die Häufung im Zauberspruch und Segen verwandt. In
Besprechungsformeln für das Blutstillen erscheinen im Yogtlande
gern drei Rosen, in Thüringen drei Frauen^). Neun Engel
sollen den Wanderer in einer dem 14. Jahrhundert angehörenden
Fassung des Beisesegens behüten:
dri min waldin,
dri mich behalden,
dri mich beschirmin^).
Zwölf Engel, die zu je zweien aufgeführt werden, erscheinen
ebenso im Kindergebet ^).
Ich will heint schlafen gen,
zwölf engel mit mir gen,
zwen zun haupten,
zwen zun Seiten
zwen zun füssen,
zwen die mich decken,
zwen die mich wecken,
zwen die mich weisen
zu dem himmlischen paradeise. Amen.
») A. a. 0. S. 370.
2) Bö ekel, Volkslieder S. Ol f. Meyer, Altgerm. Poesie S. 90.
Heim, Incantamenta S. 542 f.
3) Dung er, Rundas S. 269 f. Weimar. Jahrbuch 3, 254 ff. Zeitschrift
für hochdeutsche Mundarten 1, 34 ff . Heim S. 545. Martin Müller,
Über die Stilform der ad. Zaubersprüche. Kiel. Dissertation 1901. S. 58. 75.
*) Haupts Zs. 29, 348.
5) Koegel Lg. P, 160 nach Wackernagcl Lb.^ 1510. Zs. f. vergl.
]Lg. n. F. 5, 470 f. Zs. f. Volkskunde 9, 356.
155
„Beim Leben meines Vaters,^ schwört das Mädchen in
Dalmans Palästinischem Diwan ^), „ich gehe nicht hinauf ohne
acht Dienerinnen,
zwei wegen der Mode,
zwei wegen des Zimmers,
zwei meine Knöpfe zu lösen,
zwei für das Himmelbett.«
So wird die Häufung seit Alters durch vorangestellte Zahlen
geregelt, meist zu praktischem Zweck der Aufzählung. Häufig
sind in altgermanischer Poesie die Aufzählungen mit drei
Gliedern, seltener mit elf, sechs, zehn und zwölf Gliedern. Bis
zu 18 Gliedern bringen es Havamal 144, 1-162, P). Inwiefern
Zahlen dem Priamel gemäß sind, wird sich später zeigen^).
ünversiegbarkeit überströmenden Gefühls bildet die Häufung
als unentbehrliche poetische Form im Wunsch und Segen aus*).
Die ältesten Fluch- und Verwünschungsformeln teilen die Er-
scheinung der Häufung mit den jüngsten volksmäßigen Liebes-
wünschen. Der Beichtum dieser Entwicklung ist gar nicht zu
^) S. 257. Das formale Motiv hat dieses Gedicht mit dem sogenannten
Eindergebet gemein; es wäre also, um Beuschels Untersuchung im
Euphorion 9, 273 ff. zu erweitern, jenes allgemeine Motiv ins Auge zu fassen.
') Meyer S. 86 f. Schon Meyer hat hier Bergmann und Wendeler
zurückgewiesen, die in solchen Aufzählungen um jeden Preis Priamel sehen
wollten. Bei unserer noch enger gefaßten Bestimmung des Priamels ist es
nicht nötig, darauf einzugehen. Die Aufzählungen stellen das stärkste
Kontingent zu den fälschlich sogenannten Priameln des Auslandes. In
welcher Sprache sollte wohl dergleichen fehlen?
3) Aufzählungen lieht die altnordische Poesie sehr; ich zitiere noch
besonders Völuspa 23, 13 — 19. Vafprüpnismal 21, 29. Grimnismal 3 ff.
Havamal 69, weil Wendeler diese Stellen irrig unter dem Gesichtspunkt
von Priameln hat auffassen wollen. De praeambulis S. 51 ff. Meyer
S. 45. Theodor Hampe spricht in den Mitteilungen des Vereins für
die Geschichte der Stadt Nürnberg 12, 94 von einer merkwürdigen Vorliebe
der mittelalterlichen Menschen für lange Aufzählungen, „namentlich die
Volksepen bieten zahlreiche Beispiele dafür." Insofern diese Vorliebe echt
volksmäßig ist und dem mechanischen Charakter der Volkspoesie entspricht,
kann man das gelten lassen; aber sie ist ebenso wenig specifisch mittel-
alterlich als gerade der Volkspoesie eigen. Eosenplüt, Eustachc
Deschamps, Villon, Dunbar pflegen sie gleichmäßig. Den Folgerungen,
die Hampe daraus für die Entstehung des Fastnachtsspiels gezogen hat,
kann ich mich nicht anschließen.
*) ühland, Schriften 3, 243 ff. Weimaxisches Jahi'buch 2, 75 ff.
156
erschöpfeo, Gruß und Segen, Liebesbrief und Neujahrswunsch,
alle volkstümliche Poesie sind davon durchwachsen und durchtränkt.
Nicht nur das Gefühl, sondern auch üppig wuchernde Fantasie
häuft Beihen auf Reihen, Mögliches und Unmögliches, im Einder-
reim, im Quodlibetischen Spruchgedicht, im Lügenspruch, in den
Eingängen epischer Gedichte, die Scherer zweifelnd aus der
Poesie der Fahrenden herleitet, an die Wendel er eine verunglückte
Herleitung des Namens Priamel geknüpft hat'). Wie der reißende
Gebirgsbach nach seinem Eintritt in die Ebene sich verbreitert
und oft endlose Gelände füllt, so scheint das von Haus aus
leidenschaftliche Naturell des Deutschen im Verlauf der ge-
schichtlichen Entwicklung stark die Bichtung zu weitester Ent-
faltung in die Breite genommen zu haben. Die ausgeprägte
Vorliebe für die Häufung verliert oft die leidenschaftlichen Accente
und geht in bequem-beschauliche Breite über; etwas Sinniges,
Anschauliches, Formlos- Liebenswürdiges, Traulich-Intimes, oft aber
auch Bealistisch-Derbes bezeichnet diese Wendung. Ihr ent-
spricht das Zusammenstellen von Sprüchen und Spruchreihen
ohne entscheidenden Zusammenhangt). Diese Form der Zusammen-
stellung nähert sich der des Quodlibets^), ohne, wie dieses ganz
auf Zusammenhang zu verzichten. Wie wenig die Bemühungen,
solche Zusammenhänge herzustellen, im einzelnen Falle erreichten,
zeigt Freidanks Bescheidenheit, die jetzt aber das Vorbild für
ähnliche Werke fast zusammenhangloser Komposition abgaben,
den Benner, das NarreuschifT.
Nicht anders als unter dem Gesichtspunkt dieser Erscheinung
der Häufung dürften auch zahlreiche Stellen der altgermanischen
Dichtung zu beurteilen sein, die man bisher mit größerer oder
geringerer Bestimmtheit als Priamel ansehen wollte*).
») Göttinger Beiträge 2, 17.
3) Zarncke, CatoS. 121. Scherer, DStI 346 f. Detter undHeinzcl,
Edda 2,92 zu Havanial 27, 1—6. Paul, Über die ursprüngliche Anordnung
von Freidanks Bescheidenheit I 11 ff. Gervinus über das Variationen
liebende deutsche Sprichwort: 11^ 24. 317.
3) Auch Oswald von Wolkcnstein verbindet im 121. Gedicht
quodlibetisch Preidank-Sprnche.
*) Wendel er De praembulis S. 55. Uhland, Schriften zur Gesch.
der Dichtung und Sage 2, 526. Auch hier ist zu betonen, daß Anglisten
nicht darauf verfallen sind, in die Auffassung altenglischer Gnomik den
157
Dahin gehören angelsächsische Denksprüche der Cotton-
Handschrift (Grein — Wülcker I 339) Vers. 14 — 54. In breiter,
lockerer Form häufen sich die Bestimmungen, beginnend:
5eon5ne a:pelin5 sceolan 5ode 5esidas
byldan to beaduwe and to beah5ife.
Ellen sceal on eorle, ecj sceal wi<T helme
bilde 5ebidan. Hafuc sceal on jlofe
wilde 5ewunian, wulf sceal on bearowe,
earra anba5a, eofor sceal on holte
toOroaesenes trum.
Auch mit den Versen 50—54 tritt kein Abschluß ein, sondern
die Bestimmungen mit ,sceal' setzen sich fort^). unbefangene
Prüfung kann ten Brink nur beipflichten, wenn er sagt: „Die
ursprüngliche Form dieser Spruchdichtungen scheint die, daß der
Dichter eine Anzahl einzelner Erfahrungs- oder Heischesätze
ohne anderes Band als die zufällige, oft von der Alliteration
bestimmte Abfolge der Gedanken zusammenfügt. Den Umfang
des Ganzen mochte dabei die Rücksicht auf den mündlichen
Vortrag und die Geduld der Zuhörer abgrenzen.** (Geschichte
der Englischen Literatur I 81.) Ähnlich gebaut sind die 3 Sprüche
der Havamal 79—81. In andern Versen der Cotton-Handschrift
(Vers 5—12) und der Exeter-Hs. (Vers 126 flf.) waltet nur
Parallelismus, wie Vers 5 — 12^).
Ebensowenig ist in gehäuften Gliedern Sigrdrifomal (Detter
und Heinzel 1, 114) Vers 14 — 17 das Priamelschema zu er-
kennen ^).
fremden Gesichtspunkt einer ganz anders gearteten ausländischen Kunst-
gattung hineinzutragen. Was Heinzel im Anz. 10, 233 priamelartig nennt,
fällt vollkommen unter die oben angedeuteten Gesichtspunkte. Über den
Charakter der ags. Spruchdichtung Zs. f. d. Altertum 31, 54 ff.
») Dieselbe Häufung mit ,sceal' Exeter-Handschrift 22 ff. 61 ff. 72 ff.
118 ff. 130 ff. 139 ff. 153 ff. 203 ff. und in den von Heinzel a. a. 0. bei-
gebrachten Stellen: Der Menschen Geschicke 21 ff. 12 ff. 69 ff. (Grein-
Wülkerni 148ff.) Ähnlich Cynewulfs Grist 664 ff. Julian a 468 ff. u. a.
') Wendeler will S. 55 Cotton 5 ff. eine mesophorische Priamel sehen.
Ich mache darauf aufmerksam, daß die sog. mesophorischen Priameln hei
Rosenplnt fehlen; zu den Priameln im eigentlichen Sinn durften sie nicht
zu rechnen sein. Meist aber trifft in solchen Fällen Klimax zu.
3) Wendeler S. 53.
158
a biargi stop
mep brimis eggiar,
hafpi ser ä hQfpi hiälm;
pä maelti Mims hQfup
froplikt ip fyrsta orp
ok sagpi sanna stafi.
a skildi kuap ristnar,
pcim er stendr fyr skinanda gopi,
ä eyra Aruakrs,
ok ä Alsuinnz hofi,
a pui hueli, er snyz
undir reip Rungnis,
a Sleipnis tQnnom
ok a slepa fiQtrom,
a biarnar hrammi
ok a Braga tungo,
ä Ulfs klom
ok ä amar nefi u. s. w.
Einfache Häufung von Prädikaten und Objekten tritt Völuspa 7
(Detter und Heinzel 1, 2) auf^):
r
Hittoz sesir
ä Ipauelli,
peir er hQrg ok hof
hätimbropo.
afla iQgpo,
aup sinfpopo,
tangir skopo
ok toi g/e^rpo.
All diesen Erscheinungen in meist schul- und kunstmäßigen
Dichtungen fehlt außer der Tektonik des Priamels sein eigent-
licher Charakter, wie er sich in Entstehung und Zweck ausprägt.
Echter Volksdichtung ist doktrinäre Eindringlichkeit entgegen.
Was sich der Winsbeke in der Häufung direkter Vorschriften
gestattet, verschmäht die Bescheidenheit Freidanks ^).
Allerdings ist auch aus den Spruchreihen der Exeter-Hand-
Schrift ein Ansatz zur Priamelform zu erweisen. Wenn es Vers
162 flf. heißt: ^ , a y. a:
Wsrieas mon and wonnydi5,
setrenmod and unjetreow:
paes ne symeÖT 5od,
^) Wendel er S. 51 sieht hier: praeambulorum analyticorum vestigia.
2) Bezzenberger S. 32.
159
so haben wir in der Form des Dreizeilers einen abgerundeten
gnomischen Inhalt, der sich nach Art der Definitionspoesie wie
der gewöhnlichen Prosarede in parallele Bestimmungen auflöst,
um alsdann wieder energisch einheitlich zusammengefaßt zu werden:
Elemente der späteren priamelhaften Sentenz, aber auch nicht
mehr als Elemente. Denn die Zufälligkeit dieser Form wird durch
das Fehlen früherer, gleichzeitiger und späterer Belege zur Ge-
wißheit.
Etwas günstiger, als in der angelsächsischen Litteratur, lagen
die Bedingungen zu formeller Entwicklung der Gnomik in dieser
Richtung für die altnordische Poesie. LjööTahättr wie Kviöfuhättr,
einzeln oder aneinander gereiht, boten die bequeme Form für den
gnomischen Inhalt; der aus sechs Kurzzeilen komponierte LjöiVahättr
waltet in der Gnomik vor, während die längere Strophe des
EviOTuhättr mit ihren volleren Zeilen besser für den Fluß des
epischen Berichtes paßte ^). Trotzdem spielt der Kvi^uhättr als
Fomyrdislag (v6[jloc dpxaVxoc) auch in der Gnomik eine Rolle. Die
altnordische Spruchpoesie hält Wein hold, soweit sie literarisch
fixiert ist, für mehr künstlich, als volksmäßig, so daß er sie eher
mit der Poesie Thomasins von Zirklaere als mit der Freidanks
vergleichen konnte^). Daneben floß aber hier wie überall der
breite. Strom volkstümlicher Gnomik, die meist in der Pflege des
pulr war; aber wenn auch die anderswo bezeugten Formen der
einfachen Gnome, wie das apologische Sprichwort^), schon im
Altnordischen vorhanden sind: kompliziertere stehende Formen
scheinen doch von dieser volksmäßigen Gnomik nicht hervorgebracht
zu sein. Während Müllenhoff noch in ausgedehntem Maße mit
der Annahme einer altnordischen Priameldichtung operierte, deren
Erzeugnisse er in Interpolationen wiedererkennen wollte, schränkte
R. M. Meyer nach vorsichtiger Umschau die Geschichte der ,alt-
1) Weinhold, Altnordisches Leben S. 326. Q F. 58, 75, Müllenhoff,
DAK5, 298.366. „Der LiöiTahättr herrscht in der eigentlichen Gnomik d. h.
von der Gnomik schon die Priamel und noch mehr die bloße Memorialpoesie
abgerechnet", über Wechsel der metrischen Formen Mogk, Norwegisch-
isl&ndische Litteratur § 20, Grundriß IV 577.
») Weinhold, An. Leben S. 326.
*) Weinhold, (An. Leben S. 326) nennt die apologischen Sprich-
wörter kaum ganz zutreffend Reste alter Schwanke, deren Moral geblieben ist.
160
germanischen Priamer durch die Bemerkung ein, daß der Dichter
die altgermanische Häufung nur ausnahmsweise zu Priamel oder
Klimax auszubilden wage '). Machen wir den unerläßlichen Unter-
schied zwischen Priamelform und literarischer Gattung und er-
setzen wir im letzten Satz das Wort Priamel durch priamelartige
Form^), so wäre der Sachverhalt richtig bezeichnet. Wir haben
den Bestand poetischer Produktion, die hier noch in Betracht
kommt ^), zu überblicken.
Von vornherein kann keine Rede davon sein, daß einer dör
Improvisationstypen in der erhaltenen altnordischen Dichtung
bereits ausgebildet vorläge, und um die Annahme einer Priamel-
dichtung als literarischer Gattung steht es noch viel mißlicher*).
Man ist auch hier früher^) mit der Bezeichnung zu freigebig
gewesen.
In den Spruchreihen der Havamal hat Müllenhoflf mit ein-
dringendem Scharfsinn eine dreifache Schicht von Interpolationen
aufgedeckt, die er meist als Priameln anspricht^). Betrachten
wir sie einzeln. An die Trinkregel am Schluß der Loddfafnismal
(Havamal 133,5 — 15) ist eine Erweiterung mit puiat geknüpft,
wie im späteren Rosenplütschen Fastnachtspiel wohl ein Priamel
mit ' wenn ' den Abschluß bildet. Die Verse sind nicht von Ver-
derbnis frei ^) ; daran sei gleich die Bemerkung geknüpft, daß alle
Beispiele, die hier als Priamelversuche zu besprechen sind, keine
geschlossene Form zeigen. Das beweist mindestens, daß die
Schreiber kein Verständnis für die von neueren Gelelirten diesen
*) Altgerm. Poesie S. 527.
^) Detter und Heinzel reden 2, 119 nur von der Figur der Priamel,
führen aber das Stichwort Priamel im Register unter den Rubriken Rhetorik,
Poetik und Literaturhistorisches an.
^) Besonders macht sich hier das Fehlen einer Monographie über die
an. Gnomik fühlbar.
*) Bergmann, Des Hehren Sprüche S. 197: „Ein Beweis, daß man im
Norden die Priamel nicht als einheimische, gebräuchliche Dichtungsform
kannte, liegt darin, daß sie nirgends als solche von den norrönischen Lite-
raten angeführt wird".
s) Detter und Heinzel reden nur einmal zu Hav. 83— 86 von Priamel.
6) DAK. 5, 277. Zur Beurteilung der vorgenannten Interpolationen
Mogk § 33 ff.
7) DAK 5, 268. Anmerk.
161
Versen zugeschriebene Form besaßen, und liefert schon ein Be-
denken gegen die Annahme einer volksmäßig- literarischen Gattung.
Wäre sie vorhanden gewesen, muß man doch schließen, so hätten
auch die Schreiber sie nicht immer verkannt. Loddfäfnir rät:
huars pü Ql drekkir,
kiös pü per iarpar megin,
puiat iQrp tekr uip Qlpri,
enn eldr uip sottom,
eik uip abbindi,
ax uip üQlkyngi,
hQU uip hyrogi —
heiptom skal mäna kuepja —
beiti uip bits6ttom,
enn uip bQlui rdnar;
fold skal uip fl6pi taka*).
Das ist nichts anderes als ein ausgeweiteter Vergleich, den
der Interpolator an die Aufforderung, an der Erde zu riechen,
in regellosen Gliedern anreiht. Den Versen fehlt der innere und
äußere Bau des Priamels^).
Drei Kvid'uhättr-Langzeilen schließen sich in den Versen 127,5 ff.
desselben Gedichtes an, in denen vor drei Dingen gewarnt wird:
uaran bip . ek pik uera,
ok eigi ofuaran:
uer pu uip Ql uarastr
ok uip annars kono
ok uip pat ip pripia,
at piöfar ne leiki.
Eine dürftige Aufzählung, deren Einführung keinerlei be-
sondere kunstmäßige Absicht erkennen läßt^). In bescheidenen
Grenzen hält sich die Steigerung in der an. Spruchpoesie. Wie
Achill in der Unterwelt das elendeste Leben dem Tode vorzieht,
spricht sich in schöner Klimax die an. Dichtung über den Wert
des Lebens (Havamal 70) aus:
Haltr ripr hrossi,
hiQrp rekr handaruanr,
daufr uegr ok dugir;
») Dazu Detter und Heinzel 2, 136 ff.
^) Schon Bergmann gab S. 203 im Gegensatz zu Wendeler S. 52
diese Verse als Spruch, nicht als Priamel wieder.
») DAK 5, 268.
Enling, Priamel 11
162
blindr er betri,
etin brendr se,
nytr mangi näs.
und, wie J.; Grimm seine Bede auf Schiller, schließen
zwei andere Sprüche, im Grunde wahrscheinlich ein weit ver-
breitetes altgermanisches Sprichwort'):
Deyr fe,
deyia frsendr,
deyia siälfr it sama ;
enn orztirr
deyr aldregi,
hueim er ser gopan getr.
Deyr fe,
deyia frsendr,
deyr siälfr it sama;
ek ueit einn,
at aldri deyr,
domr um daupan huern.
Diese glückliche antithetische Klimax erinnert trotz einer
gewissen herben formlosen Dürftigkeit schon an das Beste, was
der Improvisation später in dieser Art gelungen ist^). Die
wichtigsten Priamelformen sind aber die synthetische und ana-
lytische. Sind etwa diese in den Hamaval vorgebildet?
Schon bei Behandlung der Spruchdichtung der Cotton- und
Exeter-Handschrift begegnete uns die Häufung der Beihen mit
,sceal'; auch drei Sprüche der Havamal (79—81) wurden bereits
in diesem Zusammenhange erwähnt. Einer von ihnen verdient
der strengen Besponsion wegen den formlosen ags. Spruchreihen
gegenüber hervorgehoben zu werden, der Spruch, dessen Inhalt
seinem Alter nach als zum Teil urgermanisch nachgewiesen ist
und in den finnischen Kanteletar seine Entsprechung gefunden
hat. Im Finnischen hatte sich die Klimax daran geheftet; im
Altnordischen fehlt die Steigerung, das verbindende Glied ist
nur das in der ersten Zeile Erscheinende ,skar. Ob das aber
») DAK 5, 259. 280. Meyer, Altgenn. Poesie S. 57. 452. 457. 459.
517. Die Steigerung wie andere rhetorische, syntaktische und sonstige
Eigenheiten sind im Kommentar von Detter und Heinzel ausgezeichnet
berücksichtigt und nach dem reichen Register bequem zu übersehen.
2) Detter und Heinzel 2, 114 zu 74. 75.
163
hinreicht, um sie, wie Wendel er tut, als analytische Priameln
zu bezeichnen, ist im Hinblick auf den allgemeinen Charakter
dieser Konstruktion mehr als zweifelhaft^), und wenn Müllenhoff
selbst in Vers 90 (seiner Zählung) ein Priamel sah^), so diente
gerade dieser Spruch Wendeler dazu, den unterschied zwischen
gehäuften Vergleichen und wirklichem Priamel zu erläutern^).
Noch viel mehr verschwimmende und zerfließende Struktur haben
zwei andere Sprüche, die auch mit Unrecht hierher gezogen
sind^). Es fehlen also sichere Beispiele analytischer Priamelform,
und es inüßte aus der oft zitierten großen Spruchreihe Havamal
83—86 der eigentliche Beweis für ,die an. Priamel' geführt
werden. Jener Zeit, als Jakob Qrimm noch gegen Bühs voll
Begeisterung zu Felde zog, entstammt auch sein Ausspruch über
diese Verse: sie seien die ältesten und erhabensten Priameln,
Odin selbst habe sie in dem göttlichen Havamal gesungen^).
83 Brestanda boga,
brennanda loga,
ginanda ülfi,
galandi kräko,
rytanda suini,
r6tlausom uipi,
uaxanda uägi,
uellanda katli,
84 Fliuganda tleini,
fallandi bäro,
isi einnsbttom,
ormi hringlegnom,
brupar beproälom
epa brotno suerpi,
biarnar leiki
epa barni konungs,
^) Wir fanden eine Unmenge ags. Beispiele ; die Bergpredigt des Heliand
verwendet sie wie Hartmanns Rede vom Glouwen 1728 ff. Ähnlich schon
mit vorangestelltem Bindeglied im Rigveda. Kaegi, Der Rigveda^ S. 44.
Vergl. das schöne Skolion über die 4 besten Dinge S. 166; und etwa Gottfr*
Keller, Ged. 1, 51, 3. Das sind doch keine Priamel.
8) DAK 5, 262.
3) De praeambulis S. 52. Anm. 1.
^) DAK 5, 277. Es ist nicht ganz klar, ob M. den letzten Spruch
als Priamel aufgefaßt hat.
5) Kl. Schriften 6, 103.
164
85 Siükom kal6.
siälfräpa prseli,
uQlo nilmseli,
ual nyfeldom,
akri ärsänom —
trüi engi mapr,
n6 til snemma syni*
uepr raspr akri,
enn uit syni:
hsett er peira huärt
86 Bröpurbana sinom,
pott ä brauto mdetii
hüsi hälfbrunno,
hesti alskiotom —
pä er ior 6nytr,
ef einn fötr brotnar —
uerpit mapr sua tryggr,
at pesso trui Qllo.
Eine Papierbandschrift fügt 85, 4 noch hinzn:
heiprikum himni,
hlseianda herra,
hunda helti
ok harmi sksekin.
Den Interpolations- Charakter dieser Verse hat Müllenhoff ')
erwiesen; Vers 87 (der Müllenhoffschen Zählung) im LjödTahäitr
gehört der vierten Schicht der schriftlichen Interpolation und
Erweiterung des ursprünglichen Werkes an, die Verse der späten
Papierhandschriften gar einer fünften^). Jedenfalls liegt kein
einheitliches Gedicht vor, und die Bemüliungen der früheren
Herausgeber und Übersetzer, Einheitlichkeit hineinzubringen, sind
nicht ohne Bedenken ^). Es ist das alte echt priamelartige Thema ^):
») DAK 5, 262 fif. 277 f.
') Müllenhoff 5, 277: ^Vielleicht aber wird mancher jetzt noch
weiter gehn und lieber, als wir S. 263. 264 vermuteten, annehmen, daß
derjenige, der das erste, große Spruchgedicht und das erste Odinsbeispiel
durch 79 verband (S. 261) und jenes Stück wahrscheinlich zuerst stärker
interpolierte (S. 264), diese Stücke auch zuerst aus der mündlichen Tradition
auf den festeren Boden der Literatur verpflanzt haf
3) Detter und Heinzel, deren Text hier wiedergegeben, sind konser-
vativ verfahren.
*) Meyer S. 456. Detter und Heinzel 2, 117 f.
165
wovor man sich zu hüten habe; die Form hat sich noch nicht
gefestigt; regellose Häufung erzeugt wie in den früher be-
sprochenen afr. und englischen Beihen parallele Glieder. „In
der regellosen Häufung scheint sich fast das taciteische Bild
einer Volksversammlung abzuspiegeln; lässig rückt ein Ausdruck
nach dem andern an; wenn schon längst zur Sache geschritten
werden könnte, kommt noch einer verspätet nachgehinkt; und
lange Satzreihen werden so cunctatione coeuntium verbrauchte).^
Daß Häufung von Sprichwörtern oder sonstigem gnomischen
Material, wie es im Lügenspruch, in der abenteuerlichen Bede,
bei Angelo Policiano, im Minnegesang, in der galanten Lyrik
u. s. w. seinen Niederschlag gefunden hat, ebenso wenig Priamel
bildet, ist im L Kapitel gezeigt worden. Die Häufung führt an
sich eben noch nicht zum Priamel, dagegen meist zu Parallel-
erscheinungen rhetorisch-literarischen Charakters; sie liefert nicht
einmal das eigentliche Tragwerk des Priamels. Um der primitiven
Volkskunst des Priamels uns zu nähern, müssen wir tiefer, zu
fast automatischer Betätigung herabsteigen, zur Betätigung dessen,
woraus alle Poesie entstanden ist: der Improvisation.
*) Meyer S. 528.
VI.
Der Priamelvierzeiler.
Den Stoff sieht jedermann vor ilcli.
den Gekalt findet nnr der, der etwas daxa
zn tan bat, and die Form ist ein Ge-
heimnis den meisten. Goethe.
Übersicht:
1. Allgemeines. — 2. Vorformen: Einzeller bis Elfzeiler. Die «abgekürzten
Priameln«. Vierzeiler und Priamelvierzeiler. — 3. Typen des Priamelvierzeilcrs.
— 4. Seine Verwendung in der Volkspoesie: in Zauberformeln, Segen, Wunsch
u. s. w. — 5. Seine geschichtliche Entwicklung bis zum 16. Jh. : unliterarisches
Vorleben bis zum 12. Jh.; er wird im 13. Jh. volksliterarisch selbständig. Vom
Renner bis ins 15. Jh.: Bltite des volksmäßigen Priamelvierzeilcrs. Vertiefung,
Komik, Genrebild. Er erhält den letzten Schliff im Nürnberger Fastnachtspiel ;
seine ungeheure Verbreitung.
Wenn wir als Ausgangspunkt für die konkrete Gestaltung
des Priamels den Improvisationsvierzeiler nehmen, so wagen wir
dabei insofern nicht viel, als durch ausdrückliches Zeugnis des
Priamelspruchbuchs N und anderer guter Handschriften der Priamel-
vierzeiler als Minimum eines Priamelgebildes auch seine volle
historische Beglaubigung erhält; aber man könnte fragen, ob es
nicht noch primitivere Formen gäbe.
1.
Die Einzelformen der Dichtung in ihren inneren Antrieben
von den einfachsten Gebilden bis zum höchsten Kunstwerk hinauf
zu erklären (eine in der Tat ideale Forderung), scheint nirgends
so notwendig, als wenn es sich um die Anfänge der Gnomik^)
^) Wenn hier auch das Priamel zur Gnomik gerechnet wird, so ist
aber doch yon den Begriffsbestimmungen poetischer Scholastik vollständig
167
handelt; und diese fallen vielfach mit den Anfängen der Poesie^)
selbst zusammen. Nach einer Periode vorwiegend abstrahierender
und philosophisch-ästhetischer Verstiegenheiten ist man dazu über-
gegangen, die Entstehungsfrage immer nüchterner zu formulieren.
Eingedenk der Mahnung, daß die eifrige Frage nach Ursachen oft
„von großer Schädlichkeit^ sei, begnügte man sich ferner damit,
nicht dem absoluten, sondern dem relativen Ursprung nachzu-
forschen; man gab die allgemeinen Vermutungen auf und fragte
lieber: wo liegt der ürsprünglichkeit am nächsten stehende Poesie
vor? wie ist sie beschaffen? Dabei durfte nicht mit Aristoteles
vor bloßer Improvisation Halt gemacht werden, sondern man zog
auch in vergleichendem Verfahren niedrigere Formen der Poesie
heran ^). Schon W. Schlegel schwebt die Idee einer Natur-
geschichte der Dichtkunst vor^); Scherer forderte eine Naturge-
schichte der Lyrik, des Dramas, der Fabel u. s. w.^); Bruchmann
versuchte eine Naturlehre der Dichtung. Braucht man auch nicht
mit Letourneau bis zu den Lautäußerungen des „Affenmenschen''
herabzusteigen, so darf doch nichts, was zur sogenannten Volks-
poesie im weitesten Sinne des Wortes gehört, dem ernstlich
Fragenden fremd bleiben. Herder sah die Volksdichtung durch
die Scheidewand der Aufklärung, Arnim durch die der Romantik
— ich nenne Namen, um ganze Generationen und große geistige
Strömungen zu bezeichnen — : heute gilt es diese Scheidewände
einzureißen, wo sie noch nicht gefallen sind. Freilich folgte auf
den unberechtigten Überschwang wahlloser romantischer Verhimme-
lung zunächst der noch unberechtigtere Bückschlag fast voll-
ständiger Leugnung aller Volkspoesie: man tröstete sich für ihre
Verkennung damit, sie totzusagen. Gummere versichert, daß es
abgesehen. Die Anfänge der Gnomik wie das Priamel gehen aller Theorie
zum Trotz ihre eigenen Wege.
') Von Erich Schmidt ist eine Behandlung dieser Frage in Aussicht
gestellt. Es wird hier überall nur die für unsern Einzelfäll nötige, kürzeste
aphoristische Orientierung beabsichtigt.
*) Gummere, Beginnings of poetry S. 15: „Even down to the present,
this contempt for lower forma of poetry vitiates the work of writers in
aesthetics."
^) Vorlesungen, hg. von Minor 1, 357.
«) Kleine Schriften 1, 696.
168
keine lebendige Volkspoesie mehr gibt, daß keine Volkspoesie mehr
entstehen könne; ein für kulturlose Givilisation begreifliches, für
noch so gering civilisierte alte Kultur unmögliches Urteil. Aller-
dings darf es nach Gummeres System keine Volksdichtung im
alten Sinne mehr geben: dem System zu Liebe, das für die ältere
Zeit einen sozialen, für die spätere einen individualen Charakter
der Poesie konstruiert, muß die lebendige Dichtung verstummen.
Demnach sollen auch die Vierzeiler verschwinden oder verschwunden
sein, und das kann man ja auch so ähnlich in einer unsrer besten
Literaturgeschichten lesen'). Sehr langsam vollzieht sich da ein
Umschwung. Selbst weiteren Kreisen haben z. B. Wossidlos
Arbeiten, die von Piger^), von Gillhoff^) den augenfälligsten
Beweis von heutiger leibhaftiger Existenz einer Volksdichtung ge-
liefert. £s ist gerade für das Priamel die Frage von erheblicher
Wichtigkeit, ob Volksdichtung zur Versteinerung geworden, oder
ob aus heutiger Produktion auf frühere geschlossen werden kann,
ob man als Paläontologe oder als Physiologe dem wissenschaft-
lichen Objekt gegenüber steht.
Man würde sehr irren, wenn man in den Anfängen der Poesie
Schillers Welt des schönen Scheins, in den Anfängen der Onomik
Vischers Poesie des schönen Gedankens suchte. Wie wenig die
Anfänge der Poesie mit moderner Goldschnitt-Lyrik zu tun haben,
lehrt die Ethnologie^). Wenn der Bötokude lakonisch singt:
„Der Häuptling hat keine Furcht", oder: „Weiber jung stehlen
nicht; ich, ich will nicht stehlen", so wird man vergebens fragen,
ob das Lyrik oder Didaktik sei. Auf die primitivsten Formen
volkstümlicher Kleinkunst sind jene Begriffe unanwendbar. Ja,
es liegt alledem deutlich ein Zustand voraus, in welchem auf den
bloßen Rhythmus mehr Gewicht fällt, als auf die Worte und deren
Bedeutung ^). Nicht in der Atmosphäre schönen Scheins, sondern
*) Wackernagel- Martin 2, 153.
^) Zeitschrift für österreichische Volkskunde 4, 9 ff.
^) Lebt die Volksdichtung noch? Monatsschrift für Stadt und Land,
1903, S. 756 fif.
*) Wallaschek bemerkt aber andrerseits S. 203, daß auch Natur-
menschen ,schöne Gedanken' nicht ganz fehlen.
^) Bücher' S. 297. Vgl. Sitzungsberichte der gelehrten estnischen
Gesellschaft zu Dorpat 1883 (Dorpat 1884) S. 133 f. Ähnlich büdet für die
J
169
anformulierten intuitiven Denkens gedeiht primitive
Poesie ').
Was spätere Befiexion säuberlich als mythologisch-gegenständ-
liches und als diskursives Denken differenziert hat, ist ohne Zweifel
in den Anfängen noch nicht geschieden. Das Bild hat sich da
kaum vom Gegenstand^) losgelöst, und erst auf fortgeschrittene
poetische Kultur paßt Herders Wort: Die Gottheit hat uns die
Bilder auf einer großen Lichttafel vorgemalt; wir reißen sie von
dieser ab und malen sie uns durch einen feinern, als den Pinsel
der Lichtstrahlen in die Seele.
Wenn einmal das Ergebnis dichterischer und philosophischer
Intuition sich mit dem literaturgeschichtlicher Empirie deckt, darf
die Bestätigung willkommen sein. Goethe, Wilhelm Grimm und
Carl PrantP) treffen in der Auffassung uranfänglicher gnomi-
scher Rede merkwürdig zusammen. Wenn Goethe darin das reine
Anschauen wiederfindet, wenn Grimm das blitzartige Hervorbrechen
der fertigen Onome hervorhebt, so weist Prantl in ähnlichen
Eigenschaften ihren Ideal - Realismus auf, der ihr den Stempel
wirklicher Philosophie nicht nur im Sinne geistreicher Paradoxie
sichert^). Und dieser Ideal - Realismus ist für alle Zeiten das
Kennzeichen wahrer Poesie geworden. Der ursprüngliche Aus-
druck allegorisiert und symbolisiert nicht, er schafit unmittelbar
Musik das rhythmische Element die Grandlage. Wallaschek, Anfänge der
Tonkunst S. 262 £f., Böhme, Geschichte des Tanzes 1,245. Auf einen Zu-
stand, in dem Poesie und Prosa noch nicht geschieden, macht Norden, Kunst-
prosa 1, 30 ff. aufmerksam.
0 Eauffmann, Balder S. 170 ff. Leider hat Theodor A. Meyer,
Das Stilgesetz der Poesie. Leipzig 1901, den Anfängen und der historischen
Entwicklung keine Beachtung geschenkt. Hjpologisches und metalogisches
Denken: Benno Erdmann, Umrisse zur Psychologie des Denkens (Philo-
sophische Abhandlungen, Christoph Sigwart gewidmet. Tübingen 1900).
S. 35f., 19 ff. YgL Usener im Archiv für Religionswissenschaft 7, 25. f.
Di eis, Festrede der Berliner Akademie vom 23. Januar 1902. Sitzungs-
berichte 1, 25 ff. 32.
*) Nicht einmal getreue Gegenständlichkeit ist der Kunst der Natur-
völker eigen. Vierkandt, Naturvölker und Kulturvölker S. 237 ff.
^) Die Philosophie in den Sprichwörtern. München 1858.
*) Prantl S. 10.
170
plastisch '), auf Grund eines unbewußten pantheistiscken Monismus.
Darin gleichen sich die primitivste Poesie der Naturvölker, die
vielbewunderte Kleinkunst der beginnenden Neuzeit, die Weltpoesie
Goethes. Nur quantitativ verschieden ist dabei der individuelle
Anteil des Subjektes. Am wenigsten schöpferische Initiative und
individuelle Mitarbeit verrät die primitive Improvisation der Volks-
poesie. Selbst die ihre Schnaderhüpfeln improvisierenden Älpler
„stehen noch ganz auf der kindlichen Stufe eines Naturvolkes.
Nicht das Ganze oder Große der Natur zieht sie an, sondern nur
die Einzelheiten^ — nicht anders verfährt übrigens auch das oft
behandelte Naturgefühl der Alten — . „Nie hören wir etwas von
dem Wechsel von Licht und Schatten, der Färbung der Wälder,
den Linien der Berge, dem Sonnenauf- oder Sonnenuntergang,
dem Zauber der Mondnacht, dem Sternenglanz'' ^). Das Schnadcr-
hüpfel beschreibt seinen Hintergrund nicht, denn es fühlt sich eins
mit ihm. Besonderes und Allgemeines scheinen noch verschmolzen.
„Wer nun dieses Besondere lebendig erfaßt, erhält zugleich das
Allgemeine mit , ohne es gewahr zu werden , oder erst später'' :
damit hat Goethe das Verfahren der primitiven Poesie wohl am
richtigsten umschrieben.
Man hat von jeher und vom Stancjpunkt psychologischer Er-
wägung mit begreiflichen Übertreibungen in aller Kunst, auch in
der Poesie, eine gewisse Transcendenz, einen Widerspruch gegen die
Wirklichkeit, eine gesteigerte Wirklichkeit gesehen. „Even primitive
poetry, was an idealization, an abstraction, a narcotic, a kind of
waking dream", meint Gummere (Boginnings S. 468). Die älteste ger-
manische Gnomik kennt die Gegensätze von Bealität und Idealität noch
nicht und versöhnt sie in sich. Künstliche Idealisierung braucht
sie nicht. Auch in dieser Beziehung gehört die Gnome zu den ür-
') P. ist weit davon entfernt noch im Sprichwort eine bildliche Form,
ein Sinnbildliches, ein Symbolisches zu erblicken, „denn all Derartiges ge-
hört dem poetischen Gefühle an und kann nur durch den Umweg der Inter-
pretation in das systematische Verständnis umgesetzt werden; hingegen das
Sprichwort ist bereits in sich selbst ein durchdringendes Erkennen des All-
gemeinen im Particularen." S. 21. Dilthey, Die Einbildungskraft des
Dichters S. 464.
*) Elard Hugo Meyer, Deutsche Volkskunde S. 318. Vgl. Gras-
berger, Naturgeschichte des Schnaderhüpfels S. 29. Vierkandt, Natur-
völker und Kulturvölker S. 237.
171
Zellen der Poesie. Schädlicher ist es gewesen in deutscher
Volksdichtung oder in dem, was man nicht anders als in der
Gnomik unterbringen zu können glaubte, vorwiegend Didaktik
zu suchen. Diese Neigung hat die vorurteilslose Auffassung der
Kleinkunst des Epigramms und Priamels sehr beeinträchtigt.
Die Form der urgermanischen Gnome hat Koegel zu
ermitteln gesucht; die besonderen Resultate scheinen mehr ge-
sichert als ihre allgemeinen Voraussetzungen, und da nach unsern
Ergebnissen das Priamel weder als indogermanisch noch als ur-
germanisch anzusprechen sein dürfte, brauchen wir auf die hier
noch strittigen Punkte nicht einzugehen ^). Was die innere Form
betrifft, ist der Spruch tatsächlich eine der Naturformen der
Dichtung^).
Den niedrigsten Stämmen der Naturvölker, bemerkt Tylor^),
scheinen die Sprichwörter kaum anzugehören, sie treten vielmehr
in bestimmter Form bei einigen höher entwickelten Wilden auf.
Westafrikaniscbe Sprichwörter stehen mit den europäischen fast
auf gleicher intellektueller Stufe. Germanische Gnotnik hat, wo
sie auftritt, die Stufe primitiver Anfänge schon weit hinter sich
gelassen. Der einfache Erfahrungssatz der Gnome wird erst spät
zu Sprichwort und Spruch^). Die Grenzen verschwimmen
aber häufig in einander. Im allgemeinen folgt das Sprichwort
der älteren, der Spruch der jüngeren Entwicklung; ihr Ziel ist
*) Koegel, Geschichte der deutschen Literatur I' 172 ff., leider ohne
Prantl zu kennen. Dazu R.M.Meyer, Die altgermanische Poesie S. 452 ff.
M aß, Über Metapher und Allegorie im Deutschen Sprichwort. Dresden 1891,
dehnt auf das Sprichwort die Begriffe dogmatischer Rhetorik aus, wie mir
scheint, für uns ohne Nutzen. Der entwicklungsgeschichtliche Verlauf wird
umgekehrt.
5) Gosche, Archiv 2, 277.
3) Anfänge der Cultur 1, 88.
*) Den Unterschied betont Pfeiffer, Freie Forschung S. 170. In den
Poetiken heißt der Spruch meist Gnome. Vgl. noch Bergmann, Des
Hehren Sprüche S. 192. Romanische Forschungen 3, 420. Tob 1er in der
Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft 4, 492 ff. Durch
die Wortgeschichte finden die dogmatischen Festsetzungen der gesetzgeben-
den Ästhetik durchaus keine Bestätigung: bezeichnet doch Sprichwort noch
zur Zeit der klassischen Sammlungen, in denen die Ernte des Mittelalters
geborgen wird, jede übliche, sich wiederholende Redewendung. Paul,
Deuteches Wörterbuch S.429. Heyne III, 715.
172
der Denkspnich, der nach Prantl „dem beginnenden mittelbaren
Philosophieren" angehört*). Das Sprichwort ist im Grunde ge-
legentliche Improvisation. Seine Anwendung beruht auf Ver-
allgemeinerung^ auf Subsumption eines einzelnen Falles unter einen
allgemeinen Erfahrungssatz ^); „immer enthält es eine Erinnerung
an etwas Bekanntes, es ist ein Citat, ein geflügeltes Wort". Das
Vergnügen am Sprichwort beruht auf dem Vergnügen an der
Vergleichung^). Wie der einfache Ausspruch der ursprünglichen
Gnome in das Leben und die lebendige Überlieferung eintritt,
wie sich „auf dem Markt des Lebens sein scharfes Gepräge"
einerseits abgreift, andrerseits die von Aristoteles geforderte ouvropiia
entsteht, wie endlich Sammlung und literarische Forschung sie
literaturfähig macht und die echte Gestalt zu finden sucht, das
alles zeigt auch das geflügelte Wort von heute*). Mit Tylor^)
prinzipiell zu leugnen, daß auch heute noch Sprichwörter sich
bilden können, sehe ich keinen Grund.
Es ist bei früherer Gelegenheit einmal, als es sich um fak-
tische Unterscheidungen handelte, zu rein äußerlicher Anknüpfung
ein Gedanke Schuchhardts benutzt, der ähnlich wie Gosche
in den Sprichwörtern den Übergang von der ungebundenen
zur gebundenen Bede sieht. Entwicklungsgeschichtlich läßt
sich dieser Proceß schwerlich so verstehen. Aus Prosa ist auf
direktem Wege wohl nie Poesie geworden^). Die Geschichte der
älteren Gnomik arbeitet wie die Geschichte des ältesten Verses
überhaupt mit theoretischen Konstruktionen. Die beliebteste
nimmt die Zeile (das einfache Sprichwort, die Gnome) zum Aus-
gangspunkt und schiebt sie in Urzeiten hinauf^). Man legt die
') Prantl S. 12. 22. 3) Scherer, Poetik S. 11 f.
8) a. a. 0. 88. *) Gosche, Archiv 2,278.
5) Anfänge der Cultur 1, 90.
®) Darwin bei Simmel in der Zeitschrift für Völkerpsychologie 13, 262.
Saran in den Philologischen Stadien S. 181. Bruchmann, Poetik S. 34 ff.
Bücher, Arbeit und Rhythmus^ S. 300. 308. Scherer im Anzeiger U 326.
R. M. Meyer Anz. XXIII 307. v. Biedermann, Zeitschrift für vergl.
Literaturgeschichte XI 369 ff. Goethe -Forschungen 3,251 f. Wandt,
Völkerpsychologie II, 261 f.
7) z. B. Wolf, Über die Lais S. 14. Stengel in Gröbers Grundriß 11 1,
78 geht Yon der Ein-Zeile aus. Ebenso wählt Eugen Wolff die Yerszeile
zum Ausgangspunkt der Metrik; ähnlich Gummere, Beginnings S. 211.
173
Kola der natürlichen Bede^) oder den einzeiligen Viertakter zn
Grunde und sucht sich den Fortschritt durch Addition verständlich
zu machen. Dabei wird übersehen, woher denn der Rhythmus
kommt, mag man von Viertaktern reden oder den primitivsten
Vers Paroemiacus nennen oder anders, mag man ihn schon dem
arischen Urvolke zuschreiben oder einer späteren Entwicklung.
Daß einfache Sätze mehr oder weniger gnomischen Charakters
schon in der Rede des urzeitlichen Menschen nicht fehlen, ist ja
selbstverständlich; aber sie sind nicht von selbst zu rhythmischen
Eunstgebilden geworden^), und um diese handelt es sich doch,
auch wenn man die urgermanische Gnome zu erschließen sich
bemühte. Wir brauchen ja bei schematischen Übersichten die
Zählmethode nicht zu verschmähen, wie sie formell Bad 1 off in
einer Übersicht der poetischen Formen bei den altaischen Tataren^),
inhaltlich Mone bei einer scholastischen Klassificierung von
Sprichwörtern^) verwendet hat, aber für die Entwicklungsgeschichte
darf das kein Präjudiz liefern.
') Wilmanns, Beitrages, 141 sagt vom Vers im allgemeinen: „Dem-
nach sehe ich den Ursprung des alten Verses mit seinen mannigfachen
Formen in nichts anderem als in den Kola der natürlichen Rede, die in
feierlichem Vortrage auseinander gelegt wurden." Vergl. J. Grimm, Über
den Ursprung der Sprache (1858) S. 54. Lipps, Aesthetik 1,322. Dagegen
Wundt, Völkerpsychologie I 1, 263. 2, 390; besonders Wallaschek,
Anfänge der Tonkunst S. 200 ff. Kawczynski (Essai comparatif sur
Torigine et Thistoire des rhythmes. Paris 1889) und Pierson (Metrique
naturelle du language. Bibl. de TEcole des Hautes Etudes, 56 me fasc.
Paris 1884) setzen eigentlich das als gegeben voraus, was den Gegenstand
des Problems bildet. Gute Beobachtungen bei M. Ettlinger, Zur Grund-
legung einer Aesthetik des Rhythmus. Münchener Dissertation 1899. Zeit-
schrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 22, 161 ff.
3) Bücher S. 44. Mit willkürlich angenommener oder feinsinnig
ausgedachter Teleologie ist der Sache nicht gedient, z. B. bei Klemm in
den Wiener Sitzungsberichten 7, 186. Ahnlich teleologisch verfahren Spencer,
Billroth und Schrader, Reallexikon der indogermanischen Altertums-
kunde S. 130 ff. Dagegen Philosophische Studien 10, 256 f.
^) Über die Formen der gebundenen Rede bei den altaischen Tataren
in der Zeitschrift für Völkerpsychologie 4, 85 ff.
^) Quellen und Forschungen 1, 195 ff. unterscheidet er monadische,
dualistische und triadischc Sprichwörter, je nachdem sie aus einem oder
aus zwei oder drei Urteilen bestehen.
174
Eine verhältnismäßig ausführliche Theorie über die Ent-
stehung rhythmischer Formen und des Vierzeilers hatWoldemar
von Biedermann aufgestellt. Er glaubte feststellen zu können,
daß es Dichtungen olme Rhythmus und ebenso Musik ohne Bhythmus
gäbe. Das käme nur auf eine Verschiebung der BegriflFe von
Bhythmus, Dichtung und Musik heraus^). Er glaubte femer,
daß die gleichmäßige Gestaltung der Sätze zum Bhythmus ge-
führt habe; das wäre eine Erklärung des idem per idem. Er
sah im Bhythmus nur die Zusammenstellung mehrerer gleichartig
betonter Sätze und Bedeteile und leitete den viergliedrigen Vers
in folgender Weise ^) aus der SatzbilduDg ab: „Wenn der einfache,
*) Seine Polemik gegen Bücher (Zeitschrift für vergl. Literatur-
geschichte N. F. 11, 369 ff.) steht nicht ganz auf der Höhe der Debatte.
Er sah mit veralteter Teleologie in Musik und Rhythmus nur mnemo-
technische Hilfsmittel und der sonst so feinsinnige Mann bestritt den
Gegner mit schlagenden Unrichtigkeiten; z. B. behauptete er, um primitive
Poesie-Erzeugnisse ohne Melodie und Rhythmus zu erweisen, die malaiischen
Pantun würden nicht gesungen. „Halten wir Musterung unter primitiven
Poesieerzeugnissen, so finden wir doch auch lediglich gesprochene fort-
gepflanzt: so bei den Maori, die ihre Sagen, und bei den Malaien, die
die volkstümlichen Pantun nur hersagen" (370). Das erste Beispiel bezeichnet
doch wohl eine (ux^ßaat; I; c(>.Xo y^vo; und das zweite, auf einen alten
Jahrgang des Auslandes (1841) gestützt, ist ganz unrichtig. Zwar ist es gar
nicht auffällig, wenn die Pantuns wie die Schnaderhüpfel auch einmal
hergesagt werden; aber einer der besten Kenner der Malaien, der Baron
Wolbert Robert von Hoevell, bezeugte nicht nur den Gesang der
Pantuns, sondern Wechselgesang solcher kleiner Lieder als eine sehr beliebte
Unterhaltung, die oft stundenlang fortgesetzt wird; ganz wie bei den alpinen
Vierzeilern. Waitz-Gerland, Anthropologie V 1, 173. Einwände gegen
Bücher machten sonst u. a. Groos, Die Spiele der Menschen S. 57. Vier-
kandt. Die Arbeitsweise der Naturvölker in Jlberg und Richters Neuen
Jahrbüchern 1900. S. 162 f. Saran in den Ergebnissen und Fortschritten
der germanistischen Wissenschaft im letzten Yierteljahrhundert. Leipzig 1902
S. 184. Wallaschek formuliert S. 282 ff. Büchers These ungenau und
widerlegt, was Bücher weder gesagt noch auch nur gemeint hat. Zeitschrift
der internationalen Musikgesellschaft 1, 79 (Fl e i s ch e r). Sehr treffend scheint
der Vorbehalt, den Achelis im Archiv für Kulturgeschichte 2, 86 macht,
daß bei der Entstehung der Poesie aus dem Rhythmus immer zugleich eine
innere Empfindung im Menschen ausgelöst werde. Roetteken, Poetik
1, 203. Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 22, 163.
Anmerkung. Friedrich Vogt, Geschichte der deutschen Literatur P 331.
*) Ähnlich hatte Wilmanns in seinen Beiträgen 3, 142 sich den
Hergang vorgestellt: „Die Erweiterung des Satzes führte zu neuen Gliedern.''
175
ans drei Bestandteilen zusammengestellte Satz in irgend einer
Beziehung, sei es hinsichtlich des Subjekts oder des Objekts oder
des Prädikats eine nähere Bestimmung erhält, so besteht er aus
vier Worten, und auf diese Grundlage läuft am Ende die Ent-
stehung der vier Hebungen hinaus ^)^. Äußerlicher kann man
sich die Sache wohl nicht vorstellen; als ob ursprachliche primi-
tivste Mitteilung eines hypologischen und metalogischen Denkens
die Kategorien moderner Grammatik hätte befolgen müssen.
Nicht einmal die heutige Volksdichtung des Schnaderhüpfels und
des Einderreims kümmert sich um solche Kategorien. „The art
of combining with exact rhythm a series of syntactic sentences
which give a connected story, or expreß a logical series of
thought, is HO primitive proceß^j.^ Biedermanns Theorie wäre
eine Zählmethode, die den Prozeß der inneren Entwicklung un-
erklärt ließe. So mechanisch, wie sich von Biedermann die
Entwicklung des Viertakters vorstellte, erklärt er auch den Vier-
zeiler, wenn er annimmt, der Parallelismus habe ihn als Gedicht-
gattung ins Leben gerufen. Die zwei ersten und die zwei letzten
Zeilen sollten sich wie die beiden Glieder eines Parallelismus
verhalten^). Dabei beruft er sich auf die Schnaderhüpfel, die
Krakowiaken, die Singes der Letten, die Vierzeiler der Tataren,
die Dokra und Kubita der Hindus, die Dindaug der Dajak und
die Pantun der Malaien, erwägt aber nicht, daß die von ihm
vorausgesetzte Form des Parallelismus nur eine von vielen andern ist
Zwei Probleme sondern sich, wenn von Biedermanns Theorie
fällt, bei diesen Erörterungen als Kardinalfragen aus: woher der
Bhy thmus? und woher der Viertakter? Das erste hat niemand,
auch Wallaschek nicht, in einem konkreten Falle genauer formuliert
als Bücher. Wallaschek wie Letourneau^) weisen der Nach-
Vftrgl. S. 141. Aber S. 140: „Die vier Hebungen treten zugleich mit dem
Reim auf, und darum ist es wahrscheinlich, daß sie ebenso wie der Keim
aus der lateinischen Hjmnenpoesie stammen.^ Vergl. im allgemeinen Saran
S. 185. und Siebs ebenda S. LVII.
^) Goethe- Forschungen 3, 252.
^) Gummere, Beginnings S. 103. A, 1.
3) Goethe-Forschungen 3, 246.
*) L'evolution litteraire dans les diverses races humaines. Bibliotheque
anthropologique XV. Paris 1884. S. 22 S. 524 leitet er die „Erfindung
176
ahmung von Jagd, Krieg und dergleichen eine entscheidende
Bolle zu, ohne zu bedenken, daß die Frage, ob der Rhythmus
bei gemeinsamer Aktion dieser Art vorhanden oder notwendig,
nicht mit der Frage nach seinem Ursprung zusammenfällt.
Friedrich von Hausegger und Boediger leiten den Bhythmus
in seinen Grundlagen aus dem Herzschlag ab, weisen aber daneben
dieser der Körperbewegung beim Gehen, jener der menschlichen
Gebärde entwickelnden Einfluß zu^). Wie Herz- und Pulsschlag
rhythmischen Gesang gestaltet haben soll, ist nicht so einfach
vorzustellen als Bfichers Erklärung, der die Körperbewegung als
regulierenden Faktor einsetzt; und auf Mitwirkung dieses Faktors
verzichten auch Hausegger und Boediger nicht Indem Bücher
ältere Ansichten^), ohne freilich an sie anzuknüpfen, zu einer
wissenschaftlichen Theorie ausbaut, gewinnt er die Formulierung,
daß rhythmisch gegliederte Körperbewegung der Sprache das
Gesetz ihres Verlaufes mitgeteilt habe.
Ist uns einerseits durch Büchers Verdienst mit ziemlicher
Sicherheit eine Quelle des Bhythmus erschlossen, so wüßte ich
der Metrik" aus dem „gout pour les sons mesures, rhythmes" ab! Wallaschek
betont die Bedeutung des Taktgefühls im Kampf ums Dasein. Seine von
Seiten der Musikwissenschaft erhobenen Einwände gegen Büchers musika-
lische Theorie sind beachtenswert Aber gegen seine These (S. 266),
die Melodie sei erst durch Betonung der Taktabschnitte entstanden, spricht
die Erwägung, daß durch Lebensalter, Taktinstrumente, Geräusche aller
Art u. s. w. Verschiedenheiten der Intonation doch überall von vornherein
gegeben sind. Außerdem braucht doch verschiedene Intensität nicht ver-
schiedene Tonhöhe einzuschließen. Wenn in der inhaltreichen Abhandlung
von E. Th. Freuß, Phallische Fruchtbarkeitsdämonen als Träger des
altmexikanischen Dramas (Archiv für Anthropologie N. F. 1. (19) Heft 3
S. 129 ff.) Tanz un^ Musik als Zaubermittel aufgefaßt werden (S. 167), so
sind wieder, fürchte ich, die Kategorien der Kausalität und der Teleologie
vertauscht.
*) Hausegger, Gedanken eines Schauenden. München 1903. S. 323. 292.
Roediger Zeitschrift für Volkskunde 13, 459: „Meiner Meinung nach
kommt der Rhythmus überhaupt nicht von der Arbeit [vergl. aber Bücher'
S. 306] her, sondern ist durch Puls- und Herzschlag in seinen Grundlagen
gegeben, so daß rhythmischer Gesang und rhythmische Bewegung auch
ohne Arbeit entstehen kann, letztere vor allem beim einfachen Gehen. ^
3) Vergl. z. B. Schcrers Darlegung: Zur Geschichte der deutschen
Sprache' S. 624 ff. Z schal ig, Bilder und Klänge aus der Rochlitzer
Pflege S. 89.
177
andrerseits von den bisher aufgestellten keine überzeugende
Theorie über die Entstehung des Viertakters anzugeben.
Letourneau hatte, wie oben erwähnt, sich mit Phrasen begnügt;
nicht viel höher stehen Masings allgemeine Deduktionen^).
Bruchmann^) denkt an eine physiologische Ursache, die gerade
für eine solche Beihe bequeme Benutzung des Atems. „Aber
sicher ist dies nicht^ setzt er richtig hinzu. Die herrschende
Theorie ist die trotz Meumann unausrottbare Altar-Schritt-
Theorie. „Jeder Versfuß entspricht einem Schritt oder Sprung.
Man ist nun um den Altar getanzt: vier Schritte, länger war
die Altarseite nicht, dann war der Vers oder die Beihe zu Ende,
und man machte eine kleine Wendung ((rrpo^pi^), um gleich wieder
anzuheben. War der Altar umtanzt — so war auch das Lied
zu Ende.^ So veranschaulicht zuletzt Bruinier die Entstehung^).
Aber hatten die germanischen Völker überhaupt Altäre? Oermani
ea, quae diis offerebant, non cremabant neque aras neque altaria
more graeco et romano habebant^). Und dann viereckige? jede
Altarseite wieder genau vier Schritt! Unglaublich. Noch unglaub-
licher, daß dann auch die malaiischen Völker, die Völker Polynesiens
und Süd-Amerikas, die Tataren, Chinesen u. s. w., bei denen
sich der Vierzeiler findet, alle dies merkwürdige Bequisit eines
viereckigen Normal- Altars besessen haben müssen^). Übrigens
sind die Vierzeiler der Weltliteratur keineswegs überall ganz
gleich gebaut; und die Ethnologie wie Forschungen über den
ältesten Tanz stützen diese Hypothese nicht im geringsten^).
*) Über Ursprung und Verbreitung des Reimes. Dorpat 1866. S. 139.
Yergl. unten Jessen.
«) Poetik S. 39.
3) Das deutsche Volkslied S. 50. Vergl. Wilmanns Beiträge 3, 141.
Hensler, Acta Geimanica I 2, 163 f. Benecke, Vom Takt in Tanz,
Gesang und Dichtung mit besonderer Berücksichtigung des Volkstümlichen.
Bielefeld 1891. S. 25 ff. Dazu Philosophische Studien 10, 249 ff. 253.
Gummere S. 84 f. 94.
*) Müllenhoff, De antiquissima Germanorum poesi chorica S. 11.
^) Jessen freilich ignoriert, daß auch andre Sprachen den Viertakter
kennen, und dekretiert (Zeitschrift für deutsche Philologie 2, 147): „Der
yiertaktige Vers ging aus dem Wesen der germanischen Sprache hervor."
*) Wallaschek, Anfänge der Tonkunst, Kapitel 7. Böhme, Geschichte
des Tanzes 1, 236 ff.
Ealing, Priamel 12
178
Wir werden sogar sehen, daß es sehr zweifelhaft ist, ob die
längeren Versreihen primitiver Poesie (ebenso wie der leich)
jünger sind als der Vierzeiler und der Viertakter. „In der Tat
verdienen diese Theorien streng genommen nicht einmal den
Namen von entwicklungsgeschichtlichen Betrachtungsweisen, als
solche würden sie uns doch wenigstens die rhythmischen Formen
in irgend einem Stadium ihrer früheren Entwicklung nachzu-
weisen und dieses Stadium, mit jenen Entstehungsursachen in
Verbindung zu bringen haben. ^ (Meumann).
Die merkwürdige allgemeine Verbreitung des Viertakters und
Vierzeilers, die in ihren Orundzügen fast über die ganze Erde zu ver-
folgen sind, legt die Vermutung nahe, daß konstant« physische oder
physiologische Eigenschaften des Menschen hier im Spiele sind.
Musikalische Wahrnehmung ist ursprünglich nicht Leistung unseres
Oehörorganes, sondern des Zeitsinnes; der Muskelsinn überwiegt
in primitiver Musik den Gehörsinn. Takt beruht nur auf unserer
subjektiven Auffassung. Beim Experiment des schwingenden Stabes
ist festzustellen, daß der Rhythmus im Objekt, der Takt im
Subjekt vorhanden ist. Die Wahrnehmung von Schlaggruppen
geschieht intuitiv, ohne daß der Beobachter auszählt, wie beim
Musiker im Orchester^). Zahlreiche Beobachtungen von Dietze,
Götz, Martins, Stumpf, Henle, Meumann, Wundt und
anderen suchten das Gesetzmäßige solcher Erscheinungen festzu-
stellen^). Wundts Taktierapparat leistet dabei vorzügliche Dienste.
Bei seinen Untersuchungen, die sich auf die allgemeinen Be-
dingungen der Entstehung rhythmischer Formen beziehen, geht
Wundt von folgenden Beobachtungen aus. Läßt man Taktschläge
von absolut gleicher Intensität in gleichen Intervallen auf einander
folgen, so entsteht stets die Vorstellung, daß die einzelnen Takt-
schläge nicht gleich, sondern von verschiedener Stärke seien,
und zwar pflegen sie sich vollkommen regelmäßig nach einem
bestimmten rhythmischen Schema zu ordnen. Es stellt sich nun
heraus, daß bei jeder Form der Bhythmisierung nur eine be-
1) Wallaschek S. 262. 266 ff.
5) Guinmere S. 99; „Poetic rhythm objectively an outcome of human
perception.'^ Meumann, Untersuchungen zur Psychologie und Aesthetik
des Rhythmus (Philosophische Studien 10) S. 273 ff. Wundt, Völker-
psychologie I 2, 377 ff.
179
stimmte Zahl von Eindrücken zu einem Gänzen zusammengefaßt
werden kann. Als Maß für den Bewußtseinsumfang, das heißt
für den Umfang einer Gesamtvorstellung, deren Teile noch voll-
ständig im Bewußtsein zusammengefaßt werden können, ergab
sich eine Einheit von 8 Taktgliedern, und als günstigste Art der
Gliederung der aus 8 Taktschlägen bestehende Viervierteltakt'):
rrlrr«rr'rrrrrr"rr',y
I
Es ist ein das rhythmische Gefühl besonders befriedigendes Takt-
maß und bewährt sich auch dadurch, daß man bei dem Versuch
möglichst viele Eindrücke zusammenzufassen, sehr leicht auf diese
Taktform verfällt ^). Jenes Taktschema ist nichts anderes als das
des Vierzeilers und des typischen Volksliedersatzes. Vielleicht
beruhen diese poetischen Urformen des Viertakters und Vierzeilers
auf ursprünglichen und konstanten Dispositionen des psychischen
Mechanismus.
Dem Vierzeiler gegenüber, der in keine bestimmte Kategorie
der Poetik gehört, ist vielleicht die sogenannte Gnome schon ein
spätes Kunstprodukt oder eine bloße Abstraktion theoretisierenden
Verstandes. Für die ältere Zeit muß auch die Gnome, insofern
sie zur Literatur im weitesten Sinne zählt, durchweg als poetisch
gelten^). Die Entstehung des Vierzeilers*) ßlUt vielleicht mit
^) Die Yierzahl der Takteinheiten bildet die Grundzahl. Lipps,
Aesthetik 1, 415. 298. Zeitschrift füi* Psychologie und Physiologie der
Sinnesorgane 22, 197.
^) Wundt, a. a. 0. S. 384 f. Auf eine andere merkwürdige physiologische
Übereinstimmung wies Friedrich Ton Hausegger in seiner Schrift Musik
als Ausdruck hin, jetzt wieder abgedruckt in den Gedanken eines Schauenden
S. 323. Die Bewegung der Musik hält sich in den Grenzen, welche der
Bewegung des Pulsschlages gezogen sind. Die Pulsschläge schwanken
zwischen 30 und 200, die Schläge des Metronoms zwischen 40 und 208 in
der Minute.
^ Heutige Volkssprichwörter scheinen z. T. Bruchstücke aus mehr-
zeiligen Liedern zu sein. Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort
und Bild. Kärnten und Krain, S. 151. Scheinbar entgegengesetzte An-
schauung bei Strack in den Hessischen Blättern für Volkskunde 2,69.
^) „Das Dichten eines Volkes beginnt nicht mit der Zeile, sondern mit
der Strophe^. Meyer, Fragmenta Burana S. 181.
12*
180
den Anfäugen dichterischer Betätigung des Menschengeschlechtes
zusammen; der Bigveda und der Schi- King kennen ihn. Welckers
Ansicht von der Priorität der Kasside und des Ohasels wird da-
durch widerlegt^). Als ausschließlich verwendete Strophe erscheint
der Vierzeiler bereits in den Sapta9atakam. Auch Parallelismus
und Häufung spotten aller Chronologie.
Fehlen mithin die Anhaltspunkte für die äußere Geschichte
des ältesten Vierzeilers, so läßt sich doch mit ziemlicher Wahr-
scheinlichkeit der Gang seiner inneren Entwicklung vermuten.
Freilich kann von Chronologie keine Bede sein, Jüngstes und
Ältestes erscheinen in buntem Gemisch. In dem Versmaterial der
nächsten Abschnitte sind Arbeitslied, Tanzlied und Spruch ver-
treten. Vielleicht ist der Vers des Vierzeilers älter als die
Alliterationspoesie, deren Vers sich gleich jenem aus gemein-
schaftlicher Urform entwickelte^).
S ch e r e r hat drei Stufen des Gelegenheitsgedichtes geschieden ^) :
bildlicher Ausdruck oder innere poetische Form als erste Stufe;
auf der zweiten Stufe kommt der Schmuck der äußeren poetischen
Form hinzu, auf der dritten der Gesang. Es würde sich empfehlen,
die dritte vor die zweite zu stellen und die innere Form von der
äußeren nicht völlig abzulösen; außerdem liegt vor der ersten
Stufe bereits das durch bloße Isolierung der Empfindung bewirkte
Poetische *).
2.
Naturvölker besitzen Gesänge, die aus Wiederholung eines
und desselben Wortes bestehen^) „Die amerikanischen Eingebo-
renen im Osten des Felsengebirges haben eine Liedform, in welcher
das effectvoU Erregende in einer einzigen Zeile ausgedrückt
ist, und diese wird dann in endlosen Wiederholungen vom Ein-
») Nord und Süd 10, 351.
^) von Biedermann 3, 248 stellt die Alliteration als Abschwächung
des Reimes dar. Eauffmann, Zs. für deutsche Phil. 25, 558. Luick in
Pauls Grundriß II * 997 f. Vergl. 11^50. Paul und Braune, Beiträge 22,
576. Bruchmann, Poetik S. 44.
3). Deutsche Studien 1, 332.
*) Bruchmann, Poetik S. 68 ff. Dilthey, Einbildungskraft des
Dichters S. 396.
') Gummere, Beginnings of Poetrj S. 254, 247.
181
zelnen und vom Chore gesungen"^). Ähnlich die oben erwähnten
Begenlieder der Mädchen in Palästina.
Zweizeilige Improvisationen besitzen die Polynesier-). Im-
provisierte Zweizeiler sind bei den Beduinen und Bauern Palästinas
beliebt. Ein Hirtenknabe bei Essalt sang bei Sonnenuntergang:
Es ging mir unter die Sonne,
dunkel ward mir die Nacht ^).
Beduinen warnen:
Nicht betrüge dich die Welt, auch wenn sie blüht;
wie viele Häuptlinge fielen von ihrem Sitz^}!
Beim Schafscheren wird gesungen:
Laß dich scheren, o kleine Schwarzköpfige, laß dich scheren;
deine Wolle ist Seide und weich das Fließt).
Die enge Form solcher ein- und zweizeiligen Gebilde läßt dem
Parallelismus des Priamels doch zu geringen Spielraum, weniger
noch der einfache typische gnomische Kurz-Vers.
In der Bescheidenheit gibt es nur zwei einzeilige Sprüche
64,12. 13:
slieziu rede senftet zorn.
swer rehte tuot, derst wol gebom.
Der Parallelismus ^) auf dem äußerlich das Priamel beruht, ist,
freilich noch unentwickelt, oft schon in einer einzigen Verszeile
') Dilthey, Einbildungskraft des Dichters S. 434.
s^ Waitz, Anthropologie VI, 90.
3) Dalman S. 33.
*) Dalman S. 32.
5) Dalman S. 41.
^) Von der Verbindung nur zweier paralleler Glieder wird billig ab-
gesehen, weil aus solcher vereinzelter, meist zufälliger Verbindung noch nicht
auf Parallelismus als Prinzip zu schließen ist. Gelegentlich werden zwei
Glieder zu drei Zeilen ausgeweitet, so daß mit dem zusammenfassenden Vers
ein Vierzeiler entsteht, in dem wenigstens äußerlich Parallelismus mehre-
rer Glieder erscheint. So in dem Verschen vom Zers und dem Schmidt.
Solche Fälle waren gelegentlich mit zu berücksichtigen, eine zusammen-
hängende systematische Verfolgung derartiger Gebilde erwies sich als un-
fruchtbar; sie können nur als Ausnahme gelten. Vollzog sich in diesen
Fällen die Entwicklung des Vierzeilers ohne rechten Inhalt, so blieb
andrerseits, wie in den gleich zu erörternden Zweizeilern, die Form rudi-
mentär.
182
«vorgebildet; z. B. in dem alten Hexameter: Sunt tria dampna
domus: imber, mala femina, fumus^), oder in dem Trimeter:
icup xai bdXdatJOL xal 7uv^ xaxoL tpfa').
Dem Hexameter, der ja auch durch die Caesur in zwei Hälfton
zerfällt, entspricht mehr die Langzeile, der Zweizeiler, das Reim-
paar ; nicht selten lassen die dem Reimpaar entsprechenden Lang-
zeilen Ansätze zum Parallelismus erkennen. Eine ganze Reihe
von zweizeiligen Sprüchen der Bescheidenheit, des Welschen
Gastes, des Renners u. a., wie:
H6chvart, gitecheit unde nit
diu habent noch vaste ir ersten strit
oder:
Vliegen, vlöhe, des tiuvels nit
mUent die liute zaller r.it^)
bestehen aus einer Verbindung mehrerer Begriffe. Man ist in der
Bescheidenheit schon darauf aufmerksam geworden und hat ihr
Verhältnis zum Priamel zu bestimmen gesucht. Hermann Paul
war geneigt, sie geradezu als abgekürzte Priameln zu betrachten *).
Aber da Belege für Priamel-Formen in der volksmäßigen Dichtung
der älteren Zeit selten sind, empfiehlt es sich grundsätzlich nicht,
mit der Ansetzung solcher unerwiesener, sogar reicherer Formen
zu operieren. Dazu kommt noch: Eine mittelniederländische
Paraphrase des oben angeführten Zweizeilers (Freidank 146,1,2)
») MSD3 XXVII 232. Handschrift P 329b hat daraus einen Vierzeiler
gemacht :
Dreu ding treibt den man aus
Yon haim aus sein selber haus:
der regen, ruckch und an härbs weib.
man sol si pessem an irm leib.
Vgl. Renner 20 291 ff. Vintler, Plumen der Tugent, 767 ff. Wiggert,
Zwejtes Scherflein zur Förderung der Kenntniß älterer deutscher Mundarten
und Schriften. Magdeburg 1836. S. 15, Nr. 59. Meijer, Oude nederlandsche
spreuken S. 96. Köhler, Kleinere Schriften 2, 127.
») Stobaeus I, 8.
3) Fr ei dank 28, 19. 146, 1. Man sehe übrigens in dieser Zusammen-
stellung nicht etwa barocken germanischen Humor; die Bemerkung ist pa-
tristischen Ursprungs. Loewer, Patristische Quellenstudien zu Freidanks
Bescheidenheit S. 8.
*•) Über die ursprüngliche Anordnung von Freidanks Bescheidenheit
111. Seine Liste ließe sich noch ergänzen z. B. durch 39, 22. 29, 6. 141, 1.
183
ist viel weniger priamelhaft geraten, als dieser selbst^); aas diesen
beiden Zeugnissen auf Grund der patristlschen Quelle eine Urform
des erschlossenen Priamels zu rekonstruieren, ist nicht möglich.
Außerdem stehen jene meist dreigliederigen Verbindungen der
gewöhnlichen Rede zu nahe, um bestimmte Priamelform erkennen
zu lassen^). Aus kürzeren Sprüchen über die ,gitikeit' der
Pfaflfen, wie Renner 2734 f., 21403f, 831 flf., entwickelte sich die
Inschrift des Weißturmtors zu Straßburg. Einen Zweizeiler,
der den Vierzeiler in sich enthält, bietet die Wiener Handschrift
P 331a:
Klaine vischel, schmaleu tischel, engeu stübel:
Daz zimt an edeln fUrsten übel.
Das von Paul vorausgesetzte umgekehrte Verfahren aber ist an-
scheinend ohne Beispiel. Steiermärkische Volkssprüche von heute
sind u. a. auf der Stufe zweizeiliger Verbindung stehen geblieben ^),
z. B.
Ochsen, Roß und Leut,
Viecher solcher Art gibts alle Zeit.
Prügel, Watschen und Stoß,
Auf Kopf, Buckel und Gsäß.
Priamelhafte Dreizeiler fehlen nicht, besonders im Sprich-
wort^), sind jedoch keine organische allgemein maßgebliche Bil-
dungen wie etwa die entsprechenden italienischen Formen des
Ritornells und der Terzine. In Botes Koker entstehen sie durch
die Reimbrechung ^) ; im Sprichwort hat vielleicht das Verfahren
des Dreireims eingewirkt. Die besten scheinen Variationen des
Vierzeilers zu sein, ebenso wie die genannten italienischen Formen
aus den Vierzeilern entstanden sind. Wieder kann die Handschrift
P (332 a) eine entwicklungsgeschichtlich lehrreiche Form des Drei-
zeilers liefern.
*) Saringar, Mnl. Eijmspreuken uit een oud Brusselsch Handschrift
Nr. 19. Handelingen en Mededelingen van de Maatschappij der Nederland-
sche Letterkunde te Leiden, 1886, S. 221.
') Vergl. Weisheit und Witz in altdeutschen Reimen und Sprüchen.
Berlin 1881. S. 11, 15, 27, 33, 34—37, 47, 50, 54, 55, 56, 57.
') Schlossar, Deutsche Volkslieder aus Steiermark S. 386.
*) z. B. Weisheit und Witz S. 17, 18, 23. Wander I 473, 134; II 220,
78 u. V. a.
5) z. B. S. 316 f., 330 f.
184
Pinissen mos und magreu ros
und praun fud an weissen peichen:
die dreu solt niemand scheichen.
Beim und Verbindung der Satzteile im ersten Vers verraten die
Bestimmung als Vierzeiler. Binnenreim kennt das Schnaderhüpfel
wohP). Zwischen Zwei- und Dreizeiler schwankt eine nieder-
deutsche Inschrift auf der Schelle, die in den Sitzungen der
zoologischen Sektion des Vereins für Naturkunde in Münster be-
nutzt wird:
En Voß de löpp, en Worm de krüpp,
doch en vernünftig Mensch de süpp*).
Individuell scheint Verwendung des Dreizeilers z. B. bei Meister
Altswert (8, 22 flF., 67, 21 ff., Keller), in Brants Mottoversen ') und
bei Logau z. B. 429, 140:
Schlechte Kunst ist Krieg erwecken ;
Schwere Last ist Krieg erstrecken;
Große Kunst ist Krieg erstecken. '
Beliebt ist der Dreizeiler, aber meist nicht priamelhaft bei Kirch-
hoff. Da kann schon lateinische oder französische Triadenform
eingewirkt haben. Eine systematische Verfolgung der Dreizeiler
erwies sich für unsre Zwecke vorläufig als nicht lohnend.
Ebenso erwächst gelegentlich durch Hinzufügung einer be-
sonders aktuellen Zeile wohl ein Fun fz ei 1er aus dem Vierzeiler,
wie wir ihn oben aus der niederdeutschen Erweiterung der Straß-
burger Inschrift von 1418 kennen lernten. Ähnliches Schwanken
in gelegentlich willkürlichem Bau der Strophe bestätigt alle Volks-
dichtung, so u. a. die nordische Volkslyrik ^), das Ältßechische ^),
die Villota^) und das Schnaderhüpfel, in dem als Ausnahme 2 bis
11 Olieder nicht ausgeschlossen sind.
*) Grasberger, Die Naturgeschichte des Schnaderhüpfels S. 36.
Uerrmann Welcker, Nord und Süd 10,346. Brenner, Über den Versbau
der Schnaderhüpfel S. 2 ff. Im allgemeinen Wolf, Über die Lais S. 166 ff.
«) Landois, Frans Essink 2«, 39.
3) Dazu Zarncke S. 288.
*) Steffen, Enstrofig nordisk folklyrik S. 84, 113.
») Wiener Sitzungsberichte 39, 2, 658 f.
') Somborn, Die Villota. Heidelberg 1901 S. 75.
185
Zweizeiler:
Dreizeiler :
Fünfzeiler:
Sechszeiler:
Neunzeiler:
Elfzeiler:
Mei Tänzerin is a lange Geign, .
Brauch a Later zum aufe stcign*).
Sonst gfreit roi nix,
Als mei Schnupftabakbüchs,
A schönt Mensch und an Rosenkranz'^).
Nix mehr Bergsteign,
Nix mehr fenstern,
Nix Jagerbue sein.
Und mei Lehn ghert in Kaisar,
Mei Herz, das ghert dein 3).
Nix mehr Bergsteign,
Nix mehr Fensterreibn,
Nix mehr Jagerbue sein ,
Und der Kopf khert in Kaiser,
Und das Herzl mei Diendl,
Und das khert dein*}.
Und ba dr ersten Hüttn
Hab i gwollt Hörwig bittn,
Is mir die Sendrin zschlecht;
Und ba dr zweiten Hüttu
Is mr dr Weg viel zschlecht;
Und ba dr drittn Hüttn
War mir die Sendrin recht:
Is der Jager drin
Mit seine Knecht^).
Wo die Sun aufgeht,
Und ka Nebel steht.
Und die Gamslan in der Heh umgehn,
Schon in der Früeh,
Geh i der hohen Alma zue ,
Bei der Schwagrin kehr i ein.
Wann i af die Alma geh,
Was i schon auch,
Und die Schwagrin gibt kan Rueh,
») Pogatschnigg und Herrmann P, 209, Nr. 1015.
») 2, 51, Nr. 200.
3) 2, 66, 107. 1, 220, 225 u. ö.
*) 2, 66, Nr. 272. Vgl. aus dem ersten Teil Nr. 391, 396, 695, 729»
861, 869.
») a. a. 0. 1», 231. Nr. 1113,
186
Sie kennt mi schon von weiten,
Grueß di Gott, sagt sie, mei liaber Bue*).
Aber das sind alles Beipiele, die individuelle Erklärung verlangen
und als Ausnahmen die Regel der Vierzeiler nur bestätigen.
Dem Zwei- und Dreizeiler gegenüber stellt der Vierzeiler
ungefähr das Minimum dessen dar, wa*s ein zu völlig ausgebildeten
Gliedern entwickelter Parallelismus des Priamels an Bewegungs-
freiheit erfordert. Er ist zugleich eine der Naturformen stro-
phischer Poesie, international, uralt, die Hauptform volkstümlicher
Improvisation und bis heute auch die eigentliche volksmäßige
Priamelform. ünsre Aesthetiken und Poetiken kennen ihn nicht,
unsre Literaturgeschichten behandeln ihn höchstens als Stiefkind
oder Bastard der Musen ^), eine umfassende eindringende wissen-
schaftliche Behandlung ist in Deutschland nie versucht. Ist es
ein Glück für dieses Naturkind der Poesie, daß man es bis in
die neueste Zeit nicht kennen wollte, daß es unbeachtet in freier
Luft ohne die oft schädliche Pflege zweifelhafter Gönnerschaft
gedieh? Warum ist man so spät auf den Vierzeiler aufmerksam
geworden ? Hans Grasberger antwortet für den alpinen Vierzeiler:
„Das Schnaderhüpfel mußte so lange auf den literarischen Kredit-
brief warten, weil es so herzlich ungebildet ist, weil es nicht
lesen und schreiben gelernt hat. Weil es nicht rechtzeitig in die
Schule gegangen, konnte es sich weder selbst literarisch vertreten,
noch war es geschickt genug, einen tüchtigen Anwalt für seine
Sache zu interessieren. Eis mußte ein touristisches Zeitalter
kommen, auf daß das Schnaderhüpfel in den Bergen aufgesucht
und von da in die Städte und Studierstuben des Flachlandes
hinausgetragen wurde, auf daß dessen Einverleibung in die Volks-
literatur sich vollzöge" ^). Bis dahin fristete der alpine Vierzeiler
sein Leben unbeachtet oder in den entlegensten literarischen
Winkeln als Inschrift auf buntgemalten Eiern, als Sinnspruch, den
das Mädchen in das für den Burschen bestimmte Liebestüchlein
stickte, den man zu Papier gebracht heimlich an die Häuser Miß-
1) a. a. 0. 2, 206. Nr. 634.
') „Das Gelegenheitsgedicht, die erste und ächteste aller Dichtarten,
ward verächtlich auf einen Grad, daß die Nation noch jetzt nicht zu einem
Begriff des hohen Wertes desselben gelangen kann", sagte Goethe.
3) Die Naturgeschichte des Schnaderhüpfels S. 17.
187
liebiger befestigte ; und erblickte er einmal gedruckt das Licht der
literarischen Welt, so erschien er mit dem ägyptischen Traumbuch
gedruckt in diesem Jahre auf grobem Papier in Gebetbuchlettern ^).
Heute vermehrt man den Inhalt der Büchlein mit lustigen Liedern,
dem Wiener Walzer, der Wacht am Rhein, Ännchen von Tharau,
und dergleichen und wählt Titel wie „Oberländler- und neueste
Volks- Liedin. österreichische Gsangln und Walzer nebst Gesängen
aus den Alpenscenen sUetzte Fensterl und drei Jahrin nach dem
letzten Pensterln*)".
Dem Entdecker des deutschen Volksliedes waren die Bund-
gesänge des Landvolks und das Tanzmäßige des Gesanges, die
Lieder des Volkes auf Straßen und Gassen und Fischmärkten,
nicht entgangen. „Nur wer ist, der sie sammle?" fragte Herder.
— „ Der Best der altern, der wahren Volksstücke mag mit der so-
genannten täglich verbreiteteren Kultur ganz untergehen, wie
schon solche Schätze untergegangen sind: wir haben ja Metaphysik
und Dogmatik und Akten — und träumen ruhig hin!"^)
Im einzelnen ist nun bis heute schon mancherlei für die Kennt-
nis des Vierzeilers getan. Anton Benk hat jüngst aus Schnader-
hüpfeln und verbindendem Text sogar einen Volksroman „Von
der Feirtigschuel bis zur Hoachzetroas" (Innsbruck 1899) gemacht*).
W. H. Biehl sprach in seinem Buche von der deutschen Arbeit
goldene Worte über diese „durch Zahl und Kraft wichtigen Lieder",
die einen von dem größten Teil der Nation längst überlebten
Urzustand wiederspiegelnd, „wie aus uralter Zeit von den stillen
Bergeshalden zu uns herübertönen" ^), und untersuchte ihre kultur-
1) Z. f. Volkskunde 9, 436 f. Grasberger S. 3. Wolfram, Nassauische
Volkslieder. Berlin 1894. S. 16 f.
^) München o. J. Verlag von Ph. Höpfner. Auch bei K. Werkmeister
in Miesbach erscheinen ähnliche Sammlungen.
3) Suphan 5, 188 f.
*) Bielenstein verwertete die lettischen Vierzeiler zu kulturgeschicht-
lichen Untersuchungen.
5) Das klingt in Stiel ers herrlichem Vers nach:
Denn wie die Welt sich wandeln mag,
Rastlos in Wehen und Streben:
Bergvolk und grüne Bergeswelt,
Sie haben ewiges Lehen.
K. Stieler, Hochlandslieder. Stuttgart 18848. S. 192.
188
geschichtlichen VoranssetzuDgen ^). Die allmählich immer zahl-
reicheren Sammlungen gestatteten schon verdienstliche, oft über-
raschende Ausblicke eröffnende Untersuchungen, nachdem seit
dem Beginn des 19. Jahrhunderts Forscher und Nachdichter sich
um das kleine poetische Gebilde bemüht hatten. Schmeller er-
kannte den lyrischen Vierzeiler als Tanzlied ^) und zog schon aus«
ländische Improvisationen zum Vergleich heran. Sc her er glaubte
1876 noch ein rechtfertigendes, entschuldigendes V7ort hinzufugen
zu müssen, als er eine vergleichende Poetik verlangte und den
Schi-king wie die Schnaderhüpfel heranzogt). De Gruyter berück-
sichtigte beim Tägelied den Vierzeiler ausgiebig, und sein Becen-
sent Boethe betont dessen Wichtigkeit*). ' Im Jahre 1882 wies
Gustav Meyer auf die indischen Vierzeiler hin, 1885 gab er seine
Studien über das Schnaderhüpfel heraus^). In demselben Jahre
veröffentlichte B. M. Meyer Studien über unsre älteste Lyrik ^),
die sich durch umsichtige Beachtung auch dieses Zweiges der
Volkspoesie auszeichnen, für den freilich Jeanroy kein rechtes
Verständnis haben konnte ') unerschöpflich an vorzüglichen Beob-
achtungen sind die Volksdichtung betreffenden Abschnitte des
>) Die deutsche Arbeit. 2. Abdruck. Stuttgart 1862. S. 131 f.
») vgl. Weinhold zu Kellers Fsp. Nachlese S. 342.
3) Kleine Schriften hg. von Burdach 1^701.
*) Anzeiger 16,75.
») Essays und Studien 1, 332 ff. Dazu 2, 145 ff.
•) Zeitschrift für deutsches Altertum 29, 121 ff.
^) Les origines de la poesie lyrique S. 280. Auch Schlossar stimme
ich nicht bei, wenn er die Gattung der Schnaderhüpfel nur zum Teil zur
eigentlichen Volkspoesie gehören lassen will. Deutsche Volkslieder aus
Steiermark S. X. XXIX. Unterschätzt werden m. E. die Vierzeiler von
Berger, Nord und Süd 68. S. 85: „Indessen, wer jemals solchen Im-
provisationen beigewohnt oder die einschlägigen Sammlungen solcher Vier-
zeiler durchblättert hat, der weiß, daß hier die poetische Begabung überhaupt
nicht in Frage kommt: der formelhafte Rahmen ist gegeben und wird je
nach Bedürfnis verschieden ausgefüllt, Varianten ergeben sich ganz von
selbst. Diese einfachste Art der Gelegenheitsreimerei, unseren Gesellschafts-
spielen vergleichbar, ist völlig entwickelungslos; und es ist schwer
vorzustellen, daß das Schnadahüpfl eines Tiroler Burschen von heute auch
nur eine Linie höher stehen sollte, als jene Neckverse . . . ., wie sie ... .
Ausonius .... hörte". Daß die Vierzeiler nicht entwicklunglos, sondern
entwicklungsfähig sind, daß sie das Ferment für Weiterbildungen in der
Lyrik und Didaktik geliefert haben, wird auch hier zu zeigen versucht.
189
Sammelwerkes „Die österreichisch-UDgarische Monarchie in Wort
und Bild". Wie reich und voll immer noch der Quell dieser
Dichtung sprudelt und wie alt zum Teil ihre Wendungen sind,
betonte in einem schönen Aufsatz über das deutsche Volkslied in
Österreich Hauffen^). E. H. Meyers Deutsche Volkskunde ge-
denkt (S. 315 ff.) in feinsinniger Behandlung der Volksdichtung
auch der Schnaderhüpfel und hebt im Anschluß an Hauffen her-
vor, daß die vierte Zeile gern die Pointe birgt.
Zahlreiche Anregungen zur weiteren Würdigung der lange
verkannten Gattung boten Kunstdichtung und Spezialliteratur.
Bekannt ist, was Heinrich Heine über sein Verhältnis zu den
kurzen österreichischen Tanzreimen selbst gestanden hat'); bekannt
ist Wilhelm Müllers Verhältnis zum Volksreim ^). Hatten doch
Goethe, Herder und die Herausgeber des Wunderhorns sich der
Pflege des alpinen Vierzeilers nicht versagt. Der Einfluß der
Schnaderhüpfelweisen auf die Musikübung von unseren Klassikern
bis znr Gegenwart verdient eine besondere musikwissenschaftliche
Behandlung. Böhme glaubte im Schnaderhüpfel die älteste Form
aller Tanzlieder zu finden^), ohne zu wissen, daß es noch primi-
tiveren Tanz gibt^). Einen künstlich schiefen Gegensatz konstruierte
Friedrich Hofmann, als er das Schnaderhüpfel zum würdigsten
Seitenstück zu den Märchen des deutschen Nordens machte^). Den
Versbau der Schnaderhüpfel untersuchten Hermann Welcker und
Oskar Brenner. Was Gummere in seinen Beginnings of Poetry
(New- York 1901. S. 405 ff.) als a study of the schnaderhüpfl gibt,
ist bis auf die problematische Verwendung, die er von dem Vier-
^) Zs. f. Volkskunde 4, 5 ff. Vgl. Piger, Das Schnaderhtipfl in der
Iglauer Sprachinsel. Zeitschrift für österreichische Volkskunde 4, 9 ff.
3) Strodtmann, Heines Leben 1, 234. Briefe 1, 273 ff. Steffen,
Svenska landsmälen XVI 1,219. Philip Schuyler Allen, Studies in popu-
lär poetrj. Chicago 1902. S. 13 ff. des Sonderabdrucks. Es würde sich
empfehlen, auch bei Ueine mehr Gewicht auf den Vierzeiler als auf das
Schnaderhüpfel zu legen.
3) Journal of Germanic Philology 3, 38 f. 83 ff. 90.
^) Geschichte des Tanzes 1, 238.
*) Bücher, Arbeit und Rhythmus S. 254 ff. Preuß im Archiv für
Anthropologie 29 (N. F. 1), 165 ff. Scherer, Kleine Schriften 1, 707.
^) Frommanns Mundarten 3, 154,
1
190
zeiler macht, nicht selbständig; an Irrtümern fehlt es nichts«
Auch Beuschel hat in seinen volkskundlichen Streifzügen ein
Kapitel über das Schnaderhüpfel, wesentlich ihm Erreichbares
referierend^). Stowasser dichtete Schnaderhüpfeln stilgerecht ins
Lateinische und Griechische um').
Wichtiger als Friedrich Hofmanns Versuche, Übersetzungen
der Schnaderhüpfel durch sein Quäckbrunnle in Mitteldeutschland
einzuführen^), war Dungers Nachweis, daß sie dort immer heimisch
gewesen. Während E. H. Meyer das Schnaderhüpfel aus dem
westlichen Mitteldeutschland und Norddeutschland grundsätzlich
ausschloß, weist Dunger in der letzten Behandlung der sächsischen
Volksdichtung^) darauf hin, daß solche Vierzeiler fast in allen
Gegenden Deutschlands noch im Volksmunde leben ^). Die erste
umfassende Untersuchung der Vierzeiler eines bestimmten Gebietes
lieferte Richard Steffen,- und zwar für die nordische Volkslyrik.
Enstrofig nordisk folklyrik i jämforande framställning. Svenska
landsmälen XVI 1. Stockholm 1898. Trotzdem der nordische
Gelehrte die deutsche Fachliteratur nicht ausgeschöpft hat, bleibt
seiner Arbeit ein hohes Verdienst. Hier ist zum ersten Male der
*) S. 144 nennt G. the schnaderhnpfl a thing of festal origin, was
doch höchstens vielleicht für die Form des Vierzeilers nach der Tanztheorie
möglich wäre. S. 411 meint er, in Übereinstimmung mit seiner Überzeugung,
daß echte Volksdichtung nicht mehr lebt: „a sehn, cannot be imitated'':
gewiß, streng genommen kehrt nichts völlig gleich wieder, aber nichts ist
vielleicht mehr nachgeahmt als die Schnaderhüpfel-Poesie.
2) Aber Strophe 5 des Volkslieds Der rote Apfel (ühland Nr. 50) soll
eine Priamel sein? S. 146.
3) Griechische Schnaderhüpfeln. Wien und Leipzig 1903.
*) Man hat sie ebenfalls ins Ungarische übersetzt. Snädahüpfelck:
Euphorien 5, 630. Doch gibt es auch dort eigene Improvisationen der Art.
Aigner, Ungarische Volkslieder S. XXVIII. Schon Gustav Meyer bedauerte,
daß Aigner sie nicht mitgeteilt hat. Baöka pesmarica (Das Liederbuch der
Baöka. Vollständigste Sammlung baökaer und banater Hochzeitlieder,
Schnaderhnpferln, die man am liebsten singt). Neusatz 1898: bei Krauß in
den Romanischen Forschungen 16, 1, 215.
5) Wuttke, Sächsische Volkskunde. Dresden 1900. S. 247. VgL Strack,
Hessische Blätter für Volkskunde 1,57.
*) Hruschka und Toischer bestreiten nicht mit Unrecht die Ubiqui-
tät des Schnaderhüpfels; aber das trifft den Vierzeiler in unserm weiteren
Sinne nicht. Deutsche Volkslieder aus Böhmen. Prag 1891. S. XII,
191
typische Entwicklungsgaog vom Tanzlied zu bloß gesungener und
dann gesprochener Dichtung systematisch verfolgt^).
Lange war man geneigt, die Vierzeiler als Fragmente längerer
Gedichte aufzufassen; man kehrte also das Verhältnis genau um
und machte sich wunderliche Vorstellungen, um den fingierten
Entwicklungsgang zu begreifen. So Gräter. Die Vierzeiler sind ihm
„wahrscheinlich in derBegelnur Anfänge der ursprünglichen eigent-
lichen Tanzlieder, die durch die Länge der Zelt und die Gewohnheit,
nur einzelne Verse zum Tanze vorzusingen, verloren gegangen".
Mone schließt aus der trümmerhaften Kürze auf späte Entstehung^).
Weinhold hat nicht anders gedacht: „Das Liebeslied hat sich in
die vierzeiligen Gstanzeln aufgelöst"^). Indessen hat man die
Verbreitung der Vierzeiler über die halbe Welt allmählich kennen
gelernt, fand sie unter anderen wieder in der Poesie der altaischen
Tataren*), der Tungusen^), der Woljäken^), in den französischen
Caroles, den spanischen Coplas, den portugiesischen Cantigas,
Versos, Trovas, Quadras, Fadinhos und Fados, der friulanischen
Villotta^), den Improvisationen Graubündens ®) , im Distichon der
Neugriechen, im albanesischen Beit, im Seigen Vierzeiler der
Kroaten^), in den Krokowiaken, den Penillions in Wales, in den
slovenischeu vize, in dem metrischen Gebilde, das der Perser tolgu,
der Busse Schlüssellied, der Serbe Kolo^®), der Litauer dumka,
*) Gegen kritiklose Verallgemeinerung wendet sich Kauffmann,
Deutsche Metrik S. 9.
') Quellen und Forschungen 1, 163: „Man sieht aus den österreichischen
und bayerischen Volksliedern, daß sich die Lyrik des Volkes zuletzt in
solche kurze, abgebrochene Äußerungen verliert. Demnach sind sie jung."
M 0 n e s Anzeiger 7, 244.
3) Mitteilungen des historischen Vereins für Steiermark 9, 75. Ebenso
Adam Wolf, Volkslieder aus dem Egerlande, Eger 1869. S. IV. „Die
Trompete hat den Dudelsack, der rasche Neutanz den Dreischlag, der vier-
zeilige Gesang die alten Balladen und Lieder verdrängt '^.
*) Zeitschrift für Völkerpsychologie u. Sprachwissenschaft 4, 103.
5) Zeitschrift für Volkskunde 10, 243.
ß) Yrjö Wichmann, Wotjakische Sprachproben I, S. XVL Journal
de la Societe Pinno-Ougrienne XI. Helsingfors 1893.
') Somborn, Die Villotta, Heidelberg 1901.
8) Mones Anzeiger 8, 380. Gröbers Grundriß 11^ 222 f.
9) Z. für Volkskunde 4, 10. KpuTTtöfSia 6, 295.
«") KpuiiT(£8ia 2, 284 flf. 5, 23 ff.
192
der Lette dseesma ^) der Magyar dana, der Lappe joika und vaoleh
Deont'), in den malaiischen Pantuns, bei den Oallas, in den Oe-
dichtchen des Häla'). Vielfach differenzierte Benennungen herrschen
in manchen slavischen Qebieten, in Kroatien und Slavonien kolske,
Beigenlieder, polkoönice, Hüpf liedchen; in Serbien nnd Bosnien
brojanice, Zählverse^); bei den Wenden psezpöla, Feldlieder, reje,
Tanzlieder, swazbarske spjewanja, Hochzeitslieder, wuzenenja,
Bundgesänge, stonanj^, Bittlieder ^j; bei den Kaschuben bnttke-
garde, Stromerlieder*) u. s. f. Beich entwickelt und bodenständig
erscheinen die Liedchen in nordischer Literatur, als stev in Nor-
wegen, vivivaki auf Island, lätar, polskor, hamburskor u. s. w.,
näktergalstrofema in Schweden und Dänemark. In ganz Süd-
amerika sind sie als Volksliedchen verbreitet^); auf die nordameri-
kanischen limericks hat Philip Schuyler Allen hingewiesen^); die
Beduinen von Tunis und Tripolis pflegen sie'), wie die Beduinen
und Bauern Palästinas ^^). Demnach mußte man sich endlich ge-
wöhnen, den Vierzeiler als selbständige uralte Improvisations-
dichtungy als das echteste der Volkslieder gelten zu lassen. So
geht es denn auch nicht an, die Frage nach der Herkunft des
Vierzeilers zugunsten eines Volkes zu beantworten; man hatte
schon wieder die Kelten als Erfinder des Vierzeilers ausersehen:
er ist genieinsamer Besitz von Naturvölkern und Nationen höchster
Kultur; seine Formen, so mannigfaltig sie sind, beruhen doch
immer auf demselben Schema. Eine umfassende vergleichende
Behandlung, die Oustav Meyer anregte, wäre in ißv Tat eine
1) Vgl. Z. f. Volkskunde 7,310. Schelmenlieder. Emil Bielenstein,
Wie die alten Letten gefreit haben S. 10 (Studien. Riga 1896. 2).
«) G. Meyer 1, 365 ff.
3) G. Meyer S. 365 ff.
«) KpuirrdSia 6, 295.
^) Haupt nnd Schmaler, Volkslieder der Wenden I. 11. Grimma
1841. 1843.
^) Tetzner, Die Slovinzen und Lebakaschuben S. 235.
^) Bö ekel, Volkslieder aus Oberhessen S. CXV. Vierzeiler aus dem
brasilianischen Staate S. Paulo: Romanische Forschungen 16, 137 ff.
^) Studies in populär poetry S. 14.
^) Stumme, Tripolitanisch- Tunisische Beduinenlieder. Leipzig 1894.
8. 4 ff.
^) Dal man, Palästinischer Diwan. Leipzig 1901.
193
schöne Aufgabe. Aber wer ist ihr gewachsen, bevor der sprach-
liche, poetische und musikalische Charakter eines ungeheuren
ethnographischen Materials sich im einzelnen zuverlässig feststellen
läßt? Zunächst bleibt nichts anderes übrig, als zweifellos zu-
sammenhängende Oebiete vorsichtig abzugrenzen und die wirklich
verwandten Erscheinungen zusammenzufassen. Einzeluntersuchung
wird erst nötwendige Vorarbeiten liefern müssen.
Wir haben es hier nicht nur nicht mit dem internationalen
Vierzeiler zu tun, sondern auch streng genommen nicht einmal
mit dem rein lyrischen deutschen Vierzeiler; der epigrammatische
Vierzeiler ist es, den wir hier zu untersuchen haben, und auch
wieder nur soweit er priamelhaft ist. Insofern er mit dem Vier-
zeiler überhaupt, oder insofern der deutsche mit dem germa-
nischen u. s. w. notwendig, z. B. seiner Form nach, zusammen-
hängt, muß die Beschränkung allerdings durchbrochen werden.
So erscheint denn das hier abgesteckte Gebiet winzig im Vergleich
zu seiner unermeßlich sich ausdehnenden Umgebung.
Man hat sich bisher vorwiegend mit dem eigentlich lyrischen
Vierzeiler beschäftigt und den viel weiter ausgreifenden, aber
musikalisch minder begabten jüngeren Bruder des Schnaderhüpfels,
den epigrammatischen Vierzeiler leicht übersehen. Daß
einstrofige Improvisation satirisch wird, ließ sich nicht verkennen.
Richard Steffen sagt: Det ligger nästan i sakens natur, att
en dikt pä fyra rader gärna skall fä en epigrammatisk form^).
Hanffen bemerkte in seiner trefflichen Charakteristik des alpinen
Vierzeilers, daß die drei ersten Zeilen des Schnaderhüpfels häufig
das gleiche Eingangswort haben, während die vierte die über-
raschende Pointe birgt, was den Schnaderhüpfeln einen aus-
gesprochen epigrammatischen Charakter verleiht. „Die deutschen
Priameln des 14. und 15. Jahrhunderts kommen ihnen in diesem
Punkte sehr nahe^)." Aber wie weit man noch von der Er-
kenntnis des gnomischen, auch des nicht priamelhaften, Vierzeilers
entfernt war, zeigen noch jüngst gefallene Äußerungen Leitzmanns
und Steffens. „Vielleicht", meint der Herausgeber Gerhards
von Minden, „steckt auch in dem streng durchgeführten Gesetz
*) S. 7. Vergl. Bücher, Arbeit und Rhythmus S. 255 ff. Gummere,
Beginnings of poetry S. 425.
3) a. a. 0. S. 15. Grasberger S. 54 f. Reuschel S. 117.
Knling, Priamel 13
194
der Vierzeiligkeit seiner Moralen, das ich sonst nirgends*) beob-
achtet finde, ein volkstümlicher Usus/ Sehr glücklich berichtigt
Steffen zunächst Gustav Meyers Ansicht vom Fehlen der
,,Schnaderhüpfel'' in Norddeutschland (S. 15) und scheint zu
ahnen, daß der Name Schnaderhüpfel für alle hier in Betracht
kommenden Erscheinungen unzulänglich ist; aber sonderbar klingt,
was er gelegentlich (S. 206) über den gnomischen Vierzeiler in
Deutschland vorträgt. Mit Anknüpfung an mitgeteilte nordische
Beispiele führt er aus: Sädana strofer som dessa finnas ock i
Tyskland. Dar frodades i synnerhet under 1500 — talet en s. k.
^spruchdichtung^, som korteligen kan karakteriseras säsom enstrofig
diktning av didaktisk eller satiriskt innehäll. ütrycket „sprach^
synes nog ocksä hava förekommit om längre dikter^ men ätminstone
under 1500 — talet vara dessa „sprüche^ vanligen enstrofiga.
Dann führt er je zwei Sprüche aus Seelmanns Seimbüchlein
und Haltrichs Deutschen Inschriften an. Während er für die
einstrofige nordische Volkslyrik mindestens das gleiche Alter wie
das der Folkeviser beansprucht, täuscht er sich sehr inbetreff des
Alters unsers gnomischen Vierzeilers, den er ja dann auch eben-
sowenig wie seine Vorgänger oder die jüngsten Bearbeiter deut-
scher Vierzeilerliteratur, von der rein lyrischen Strophe unter-
scheidet.
Den epigrammatischen Improvisations- Vierzeiler besitzen heute
alle germanischen Völker, natürlich auch alle deutschen Stämme
und Landschaften: nicht alle den als Tanzlied gesungenen. Mit
Unrecht hat man den Vierzeiler auf die süddeutschen und einige
mitteldeutschen Landschaften beschränken zu müssen geglaubt^).
') Der Vierzeiler ist als Eingangs- und Schlußvers beliebt. Nur
einige zufällige Beispiele: Seifried Helbling 4, 1. Renner (B. D.)
S. 1. (Wölfel, Zs. f. d. A. 28, 198.) Fsp. 969. Niederdeutsches Reim-
büchlein S. 1. 122. Schumanns Nachtbüchlein S. 28. 31. 32. 37. 39. 42.
54. 63. 216. (Bolte). Vcrgl. die französischen Quatrains, die Vierzeiler der
Totentänze, Brants, Hans Sachsens u. s. f.
3) Gustav Meyer, Essays I 364 f. E. H. Meyer, Volkskunde S. 315.
Sogar für Mitteldeutschland war man geneigt, schon fremden Import an-
zunehmen. Weimarisches Jahrbuch 3, 326. Hauffen S. 12. Wolfram
Nassauische Volkslieder S. 16 f. 382 fi. Gottschee hat zwar keine Schnader-
hüpfel (Hauffen, Die deutsche Sprachinsel Gottschee. Graz 1895. S. 138),
aber wohl den Vierzeiler (S. 129).
195
Alle übrigen Landschaften kennen ihn; es waltet eben nur ein
besonderer Unterschied: ein ähnlicher Unterschied, wie er auch
die Geschichte unserer mittelalterlichen Lyrik und Spruchdichtung
beherrscht hat. In Oberdeutschland erhalten sich im Mittelalter
die Traditionen des Minnesanges, während Mittel- und Nord-
deutschland die lehrhafte Spruchdichtung bevorzugt. Burdach
und ßoethe haben diesen fruchtbaren Gesichtspunkt hervor-
gehoben *). Der Unterschied beruht nicht nur auf Verschiedenheit
der Literaturströraungen, sondern auf charakteristischer Ver-
schiedenheit der deutschen Stämme. Den Unterschied des physischen,
sittlichen und poetischen Charakters in Nord und Süd liebte Victor
Hehn zu betonen^), und die Volkskunde liefert den Beweis einer bei
den einzelnen Stämmen recht verschiedenen musikalischen und all-
gemein künstlerischen Begabung^). Nach dem Norden zu ändert
sich der Ausdruck individueller musikalischer Stimmung. Der
echte Hochlandslaut des Jodlers verkümmert bereits im Mittel-
gebirge, um sich in der norddeutschen Tiefebene höchstens in
einem rohen Einzelschrei Luft zu machen^). Der Süden liefert
die Menschen einheitlicher, voller, harmonischer; der Norddeutsche
hat zuviel kritisches Scheidewasser in den Adern. Gewiß, man
singt im Norden wie im Süden ^); aber es bezeichnet beim Tanz-
lied doch ein Zurückdrängen der Subjektivität, wenn auf den
Färöer und bei den Dithmarsen die Tänze durch Balladengesang
begleitet wurden^). Der Süden hat das improvisierende, ganz
individuelle Tanzlied bis heute bewahrt.
*) Burdach, Reinmar der Alte S. 134 ff. Roethe, Reinmar von Zweier
S. 239 ff. Jung, Beiträge zur Geschichte des nord- und mitteldeutschen
Minnegesanges. Göttinger Dissertation 1891.
') Gedanken über Goethe S. 10 ff. der 5. Auflage. Über Goethes
Hermann und Dorothea S. 61.
^) Vierteljahrschrift für Musikwissenschaft 7, 444. Die norddeutschen
Militarmusiker, die nach Bayern versetzt wurden, konnten nicht improvisieren
und ohne Noten spielen, was doch dem bayrischen Musiker ein Leichtes war.
^) E. H. Meyer, Volkskunde S. 317.
*) Die ältesten vlämischen Verse sind Bruchstücke eines Tanzliedes
(1173). Niederdeutsches Jahrbuch 10, 157.
«) Bö ekel, Volkslieder aus Oberhessen S. CXI ff. CXLV ff. „Be-
merkenswert ist auch bei germanischen Völkern von Nord nach Süd ein
Schmelzen der starren Balladenform, ein Zurücktreten des erzählenden Elements
13*
194
der Vierzeiligkeit seiner Moralen, das ich sonst nirgends*) beob-
achtet finde, ein volkstümlicher üsus.^ Sehr glücklich berichtigt
Steffen zunächst Gustav Meyers Ansicht vom Fehlen der
,,Schnaderhüpfel^ in Norddeutschland (S. 15) und scheint zu
ahnen, daß der Name Schnaderhüpfel für alle hier in Betracht
kommenden Erscheinungen unzulänglich ist; aber sonderbar klingt,
was er gelegentlich (S. 206) über den gnomischen Vierzeiler in
Deutschland vorträgt. Mit Anknüpfung an mitgeteilte nordische
Beispiele führt er aus: Sädana strofer som dessa finnas ock i
Tyskland. Dar frodades i synnerhet under 1500 — talet en s. k.
^spruchdichtung^, som korteligen kan karakteriseras säsom enstrofig
diktning av didaktisk eller satiriskt innehält. Utrycket „spruch''
synes nog ocksä hava förekommit om längre dikter^ men ätminstone
under 1500 — talet vara dessa „Sprüche" vanligen enstrofiga.
Dann führt er je zwei Sprüche aus Seelmanns Seimbüchlein
und Haltrichs Deutschen Inschriften an. Während er für die
einstrofige nordische Volkslyrik mindestens das gleiche Alter wie
das der Folkeviser beansprucht, täuscht er sich sehr inbetreff des
Alters unsers gnomischen Vierzeilers, den er ja dann auch eben-
sowenig wie seine Vorgänger oder die jüngsten Bearbeiter deut-
scher Vierzeilerliteratur, von der rein lyrischen Strophe unter-
scheidet.
Den epigrammatischen Improvisations- Vierzeiler besitzen heute
alle germanischen Völker, natürlich auch alle deutschen Stämme
und Landschaften: nicht alle den als Tanzlied gesungenen. Mit
Unrecht hat man den Vierzeiler auf die süddeutschen und einige
mitteldeutschen Landschaften beschränken zu müssen geglaubt^).
') Der Vierzeiler ist als Eingangs- und Schlußvers beliebt. Nur
einige zufällige Beispiele: Seifried Helbling 4, 1. Renner (B. D.)
S. 1. (Wölfel, Zs. f. d. A. 28, 198.) Fsp. 969. Niederdeutsches Reim-
büchlein S. 1. 122. Schumanns Nachtbüchlein S. 28. 31. 32. 37. 39. 42.
54. 63. 215. (Bolte). Vergl. die französischen Quatrains, die Vierzeiler der
Totentänze, Brants, Hans Sachsens u. s. f.
3) Gustav Meyer, Essays I 364 f. E. H. Meyer, Volkskunde S. 315.
Sogar für Mitteldeutschland war man geneigt, schon fremden Import an-
zunehmen. Weimarisches Jahrbuch 3, 326. Hauffen S. 12. Wolfram
Nassauische Volkslieder S. 16 f. 382 fi. Gottschee hat zwar keine Schnader-
hüpfel (Hauffen, Die deutsche Sprachinsel Gottschee. Graz 1895. S. 138),
aber wohl den Vierzeiler (S. 129).
195
Alle übrigen Landschaften kennen ihn; es waltet eben nur ein
besonderer Unterschied: ein ähnlicher Unterschied, wie er auch
die Geschichte unserer mittelalterlichen Lyrik und Spruchdichtung
beherrscht hat. In Oberdeutschland erhalten sich im Mittelalter
die Traditionen des Minnesanges, während Mittel- und Nord-
deutschland die lehrhafte Spruchdichtung bevorzugt. Burdach
und Roethe haben diesen fruchtbaren Gesichtspunkt hervor-
gehoben^). Der Unterschied beruht nicht nur auf Verschiedenheit
der Literaturströraungen, sondern auf charakteristischer Ver-
schiedenheit der deutschen Stämme. Den Unterschied des physischen,
sittlichen und poetischen Charakters in Nord und Süd liebte Victor
Hehn zu betonen^), und die Volkskunde liefert den Beweis einer bei
den einzelnen Stämmen recht verschiedenen musikalischen und all-
gemein künstlerischen Begabung^). Nach dem Norden zu ändert
sich der Ausdruck individueller musikalischer Stimmung. Der
echte Hochlandslaut des Jodlers verkümmert bereits im Mittel-
gebirge, um sich in der norddeutschen Tiefebene höchstens in
einem rohen Einzelschrei Luft zu machen*). Der Süden liefert
die Menschen einheitlicher, voller, harmonischer; der Norddeutsche
hat zuviel kritisches Scheidewasser in den Adern. Gewiß, man
singt im Norden wie im Süden ^); aber es bezeichnet beim Tanz-
lied doch ein Zurückdrängen der Subjektivität, wenn auf den
Färöer und bei den Dithmarsen die Tänze durch Balladengesang
begleitet wurden^). Der Süden hat das improvisierende, ganz
individuelle Tanzlied bis heute bewahrt.
*) Burdach, Reinmar der Alte S. 134 ff. Roethe, Reinmar von Zweter
S. 239 ff. Jung, Beiträge zur Geschichte des nord- und mitteldeutschen
Minnegesanges. Göttinger Dissertation 1891.
^) Gedanken über Goethe S. 10 ff. der 5. Auflage. Über Goethes
Hermann und Dorothea S. 61.
3) Vierteljahrschrift für Musikwissenschaft 7, 444. Die norddeutschen
Militärmusiker, die nach Bayern versetzt wurden, konnten nicht improvisieren
und ohne Noten spielen, was doch dem bayrischen Musiker ein Leichtes war.
4) E. H. Meyer, Volkskunde S. 317.
*) Die ältesten vlämischen Verse sind Bruchstücke eines Tanzliedes
(1173). Niederdeutsches Jahrbuch 10, 157.
«) Bö ekel, Volkslieder aus Oberhessen S. CXI ff. CXLV ff. „Be-
merkenswert ist auch bei germanischen Völkern von Nord nach Süd ein
Schmelzen der starren Balladenform, ein Zurücktreten des erzählenden Elements
13*
196
Dasselbe läßt sich in kleinerem Bahmen auf dem Weg vom
Gebirge zum Gestade in der nordischen Yolkslyrik beobachten.
„Liksom den tyska schnaderbüpfeln liar sitt egentligoste hemland
i de sydlige alpländerna, sä harock den enstrofiga lyriska dikten
pä skandinaviskt omräde fätt sin rikaste utveckling i ett bärgland,
Norge*). So hat allerdings der vorwiegend lyrische Vierzeiler
seine Heimat im Gebirge; das Schnaderhüpfel der Alpenländer
und die nordischen Stevs bezeugen das. Bei den deutschen
Stämmen der Tiefebene modificieren sich der originelle Tanz und
und die improvisierende Gesangeslust: der Vierzeiler gewinnt
in der Bichtung von Süden nach Norden an epigrammatischem
Charakter und verliert an Zusammenhang mit der Musik ^). Der
lyrische Vierzeiler des Nord-Ostens wird diesen Sachverhalt nicht
trüben können ; er ist bei schwäbischer und Salzburger Kolonisation
mit gewandert, wie er aucli nach Siebenbürgen verschlagen wurde.
In Nord- und Mitteldeutschland geriet schon in älterer Zeit auch
die künstlichere Spruchdichtung, „abgeschlossen von neuen Zu-
flüssen und begünstigt durch die lehrhaften Neigungen eines
beschaulichen Publikums, in ein behagliches Stagnieren, bei all
ihrem Reichtum wurde sie verhältnismäßig einseitig*)". Die
eigentliche Stegreifdichtung von lyrischer Grundstimmung be-
schränkt sich in der Volksdichtung mehr auf den Süden, im
Norden wird die Improvisation mit schwerfälligem Ernst und
wohlmeinender Pedanterie reichlich durchsetzt, die Mitte hält,
wie wir sehen werden, die Nürnberger Kunst.
Wir wollen versuchen, den so gewonnenen Zusammenhang
durch einige Beispiele zu befestigen, indem wir für die Begründung
des allgemeinen Unterschiedes uns auf das ganze später hier vor-
gelegte Spruchmaterial beziehen. Die Verwandtschaft des mittel-
deutschen Vierzeilers mit dem süddeutschen ist, wenn auch ver-
und eine Zunahme der leichtbeschwingten Lieder." S. CXLVI. Spottlieder
auf den Färöer zum Tanz gesungen. Böhme, Geschichte des Tanzes 1, 233.
>) Steffen, Landsmälen XVI 1, 28.
') So erklärt sich auch im Priamelvierzeiler die regelmäßige Vers-
fnllung nach dem Vorbild der gesprochenen Dichtung. Wolf, Über die
Lais 16 f. Im Schnaderhüpfel ist der vierhebige Vers nicht selten; z. B.
Meier, Schwäbische Volkslieder S 93. Nr. 239.
3) Roethe S. 239 f.
197
schieden beurteilt, längst hinreichend festgestellt. Aber auch Nord-
deutschland und selbst die Niederlande nehmen teil an dem
gemeinschaftlichen Besitz; nur muß man nicht gerade überall
„Schnaderhüpfel" suchen. Viele der in Mitteldeutschland gesammelten
Vierzeiler sind in niederdeutschem Gebiet verbreitet. Ihre Menge und
Originalität, ihre Verwendung im Kinderspruch, Segen, Volksreim
aller Art zeugt hinreichend gegen fremden Import. Selbst die
eigentlich lyrischen Vierzeiler, die nach Norden zu immer seltener
werden, fehlen keineswegs. In seiner Sammlung der westfälischen
Volkslieder hat Reif f erscheid schon auf solche Spur der ,Schnader-
hüpfeP hingewiesen*), ein anderes Vierzeiler-Motiv hat das west-
fälische Volkslied „Wenn sich die Hähne krähen" (ReifiFerscheid
8. 121, 15, 7) mit kärntischen Schnaderhüpfeln gemein. In West-
falen sagt man:
Und wenn es Rosen schneit
und regnet kühlen Wein,
so maß ein jeder Knabe
bei seinem Feinslieb sein.
In Weißenstein bei Villach:
Wann i di sollt liebn,
Mueßts Wetter verkehrn,
Mueß in Summer Schnee schneibn
Und in Winter grüen wem.
In Maria Saal:
Wann Mond und Sunn untergehn,
Und die Sterne auferstehn,
Und die Glan rückwärts rinnt,
Nachher lieb i di gschwind.
In öriflFen:
I wer di schon liabn,
Wann die Zaunsteckn blUan,
Wann die Drau aufwärts rinnt,
Nacher liab i di gschwind 2).
Hier wird der Liebhaber abgewiesen; im westfälischen Liede
fallen die beiden letzten Verse aus der Situation heraus, weil sie
1) Reif f erscheid, V/estf. Volkslieder S. 179. Vergl. Dunger Nr. 287
mit Reiff er scheid Nr. 19. S. 123. Gustav Meyer 2, 148.
*) Pogatschnigg und Herrmann 1', 95. Nr. 452 ff. Zum Motiv
Uhland 3, 216 ff. Böckel S. GL ff. Hauffen S. 14. 19. Gottschee
S. 168 ff. R. M. Meyer S. 231.
198
eineD widersinnigen, aber beim Volk beliebten versöhnlichen^)
Abschluß herbeifähren wollen; daher ist die Spitze des Motivs
verbogen. Ein oberhessisches Lied geht darin am weitesten; der
Nachtwächter von Gleiberg diktierte dasselbe Lied mit dem Schluß:
Die Hochzeit woUen wir halten,
Die Hochzeit bei der Nacht;
Wenn Vater und Mutter schlafen,
Dann halten wirs bei der Nacht').
Ein schlagendes Beispiel für ein mittelniederdeutsches Schnader-
hüpfel, will man überhaupt diese anfechtbare individuelle Be-
zeichnung gelten lassen, bietet ein alter Fastnachtsdialog, der
von Seelmann zwischen Elbe, Weser und Aller lokalisiert worden
ist und in der ältesten vorliegenden, allerdings nicht ursprüng-
lichen Gestalt den Jahren 1522 bis 1535 entstammt^). Da sagt
Hans Meyer Vers 161:
Wen de kreien liegen umm unsen klocktorn,
und de Sperlinge silken in minem tundom,
so isset nicht gantz wieth
der lustigen sommertidt.
In der niederländischen Übersetzung des Antwerpener Druckes*)
lauten die Verse:
Als de Kraeyen vlieghen om onsen Klock-toorn,
£n de Spreeuwen nestelen in onsen Tuyn-doorn,
Soo en isset niet seer wijt
Van den soeten Somer-tijt.
Was ist das anders, als das Motiv des Schnaderhüpfels, das
in Mittelkärnten so gesungen wird:
4
Wann der Auerhahn pfalzt,
Wann der Kohlfuhrmann schnalzt
Und der Nachtvogel schreit:
Is der Tag nimmer weit*).
In Elagenfurt:
Wann die Glocke hell klingt,
Und die Sendrinn schean singt
^) Gedankenvoll redet darüber R. Hildebrand, Materialien S. 216.
3) Böckel Nr. 73.
3) Seelmann, Mittelniederdeutsche Fastnachtspiele. S. XXIX f.
*) Bolte und Seelmann, Niederdeutsche Schauspiele S.20. Vers 132flf.
*) Pogatschnigg und Herrmann 1, 251.
199
Und der Guggu recht schreit:
Is der Tag nimmer weit *).
mit der Variante im letzten Vers:
Is die lustigste Zeit 3).
Von der Jahreszeit wird das Motiv dann auf das Brenteln^),
aufs Wetter und anderes tibertragen. Das Tagelied -Motiv*)
wird hier schwerlich älter sein, als das allgemeine Zeit-Motiv,
wie außer den niederdeutschen Vierzeilern folgende Varianten
zeigen:
Wenn der Fink a sue singt
und der Kukuk sue schreit,
do denk ich halt alleweil:
mei Schats is net weit^).
Wenns regnt und wenns schneit,
und wenns glatteisen thut,
do gieh ich ze mann Schotzel
und bi nc a wing gut^).
Wenn de Sterla blitzen
und der Manden schie scheint,
do denk ich halt alleweil:
mei Schatz is net weit^).
Wenn die Hühner gatzen,
und die Kälber schmatzen,
und der Kukuk schreit,
hot der Bauer gute Zeit').
Nix schänners in Wald,
wenn de Peitschen su knallt,
wenn de Soeg' a su klingt,
und der Stöckgräber singt ^).
*) Pogatschnigg und Herrmann 1, 253.
3) A. a. 0. 2, 220. Variante bei Meyer, Essays 1, 396 f. De Gruyter
Das Tagelied S. 88. Vergl. Mailüfterl. Gun dl ach Nr. 847. Weim. Jahrb. 3, 324'^
8) A. a. 0. 1, 210.
*) Zeitschrift für deutsches Altertum 29, 232 ff.
») Dunger Nr. 43.
6) Dunger Nr. 332.
T) Dunger Nr. 343.
8) Dunger Nr. 1192.
») Dunger Nr. 1238.
200
Wans Goasl schean springt,
Und da Raubvogel singt,
Und wans Büchserl laut gelt:
Is a Freud af dar Welt.
Wans regnt und wans schneit.
Und wans dunert und kracht,
Und won d' Schwoagrin koan Liab net hat:
Aft is guati Nacht*).
Bei Hans Folz werden wir einem gesungenen Vierzeiler
begegnen; Steffen hat auf niederdeutsche Vierzeiler hingewiesen,
die den Tanzcharakter bewahren^). Ich wähle einen mecklen-
burger Tanzreim als Beispiel.
Twe ossen, vier pier un ene bunte koh,
de gift mi min mudder, wenn ik heirathen do;
lustig uppe lining un trurig vörbi,
draussel to sadel und vinttfot dorbi^).
Der sinnige Beim: ,Es ist nicht lange, daß es geregnet hat'
findet in England seine Parallele*). Angesichts der Vierzeiler
in nordischer Volksliteratur und der ethnologischen Tatsache ihrer
übiqultät wird sich die Theorie einer Auswanderung aus den
Alpen schwerlich halten lassen. Wenn England, Dänemark,
Schweden, Norwegen und Holland ihre Vierzeiler haben, warum
sollte man für das unmittelbar benachbarte Norddeut-schland Ent-
lehnung annehmen? Daß einzelne oder auch viele wandernde Motive
und Exemplare ausgetauscht werden, zwingt nicht zu jener be-
denklichen Theorie.
Eine verwirrende Fülle von Bezeichnungen beweist die un-
geheure Verbreitung und Beliebtheit der Vierzeiler. Wie es in
der Bamberger Beichte heißt: ,Ich bin sculdig in ... , allen
scantsangen, in hönreden manigen', klagt man noch im vorigen
Jahrhundert in der Schweiz: „Der strafende Geistliche muß an
Kilbenen der Leute Buelliedlein und Gespött sein." Tobler^),
dem man diese Notiz verdankt, identificierte diese vierzeiligen
>) Werle, Almrausch S. 224. 16.
3) Landsmälen XVI 1, 16. Aber die mnd. Sprüche des 16. Jahrhunderts
sind doch nicht mehr gesungen. Zs. f. Volkskunde 8, 350.
3) Wossidlol S. 9. Nr. 11.
*) Gummere Beginnings of poetry. S. 413.
^) Tobler, Schweizerische Volkslieder 1, CXLV.
201
Spottlieder wie Müllenhoff und Ludwig Steub mit deu alten
winileod, denen er eben einen vorwiegend scherzhaften und
spöttischen Charakter beimißt^), und weist auf die Namen Stupf-
lied, Speilied, Tratzlied, Schelmlied, Tanzeliedli, Stöbert elied,
Lumpeliedli, Schlumperliedchen, Bappetizli, Buggusser hin^).
Zum Teil dieselbe, teils andere oder etwas modificierte Verwendung
des Vierzeilers bezeichnen die Namen der Schnaderhüpfel, der
Schnitterhüpflein-), Schnaderhaggen, Schleiferliedlein, Schnapper-
liedlein, Schnaxen, der Bundas, der Landler, chorzen Liedli,
Gsätzli, Schwatzliedlein, Schmetterliedle, Flausn-, Possenliedln,
Haarbrecher - Gsangln, Bassein, Plapperliadln, Sprüchin, Gsangln,
Gschdanzlen, Liedin, Gasseireime*), Gasseilied, Gasseistreit, Boim-
sprüchc, Vöizaliga, Steikle, Tschumperliedln, Schandliedle, Schamper-
liedle, Ansingeliedlein, Spitzliedlein, Possenliedlein, Schnitzliedlein,
Tänze ^), Stichreim, Spöttl- oder Trutzliedl, Trutzreim % Stampelliedl,
Stampenie^), Klampfln, Gstänkerisch ^), Buhlerlieder ^), Lumpe-
1) Koegel I 61 f. schreibt etwas paradox ihnen epischen Inhalt zu.
Müllenhoff, Zs. f. d. A. 9, 128 ff. nahm die Bedeutungen Gesellschaftslied
und Gassenhauer an. MSD^ 2, 155.
3) Vergl. Z. f. d. A 29,' 124. Zum Rugguusser: Alfred Tobler, Das
Volkslied im Appenzellerlande S. 74; Stoberteliedli S. 107.
3) SchmellerBWB. 113 558. Frommanns Mundarten 4, 73. Dunger
S. XI f. E. H. Meyer, Volkskunde S. 315.
*) Gegen Böhme, Geschichte des Tanzes 1, 240 und Brenner, Zum
Versbau der Schnaderhüpfel S. 2 ist daran zu erinnern, daß zum Teil der
Gasseireim, z. B. der Salzburger (Süß S. 161 ff.) etwas anderes ist. Die
österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild. Oberösterreich und
Salzburg Wien 1889. S. 474. Gassellied und Gasseistreit in Steiermark.
Dasselbe Werk, Steiermark S. 189. Strolz im Sammler für Geschichte
und Statistik von Tirol 2, 74.
*) Die letzten drei Bezeichnungen in B irl in g er s Schwäbischen Volks-
liedern. Freiburg i. B. 1864. S. 62.
6) Z. f. Volkskunde 1, 105. Steffen S. 15 f. Dunger S. XII ff.
Zum Bunda ist eine Stelle aus Kuhn aus Musikalischem Quacksalber (hg.
von Benndorf. Berlin 1900. S. 3. der Vorrede) nach'zutragen : „einem
Bauern ein Bunde aufstreichen. ^
7) Schmeller, Bayer. Wb. IP 758 f. Kalff, Het Lied S. 537 f.
Böhme, Geschichte des Tanzes 1, 28. Lexer s. v. Im 16. Jahrhundert
gleich Fantasie.
8) Werle, Almrausch S. 474.
^) Jglan. Zeitschrift für österreichische Volkskunde 4, 9.
202
sticklin, Schnörkel ^), Kadenzchen, Schwänzchen ^), Nachstückelchen,
Lermen ^), goolis Liedli, Stomperli, Satzliedli, Gsatzliedli, Stagraaf-
liedli, aas oss-em Stagraaf, e chorzes^).
Es ist wohl nicht Zufall, daß die bekannte Priamelüberschrift
der Wolfenbüttler Handschrift FG 53» sich gegen die Bezeichnung
,schamper' (hier Gegensatz zu ,geistlich') wehrt. Es ist Tatsache,
daß der in Baiern, Sachsen und Thüringen^) übliche Nanoe Schand-
oder Schamperlied alt ist. Ursprünglich mag der Name die von
Weinhold und Dunger erwiesene Bedeutung Tanzlied gehabt haben,
früh verdunkelt durch volksetymologische Angleichung an Schande.
Und dieser Sinn des Wortes sagte den Zeloten am meisten zu,
die Tanzlied wie Tanz seit Alters bekämpft haben. Bezeichnet
doch klerikaler Fanatismus die weltlichen Lieder von jeher als
cantus obscoeni^). Der Tractat ,Was schaden tautzen bringt'^ )
verwirft die Tanzlieder in Bausch und Bogen, bezeugt wiederholt
ihre Bezeichnung als schamper lieder^), nennt sie unflätigen Ge«
sang und bedroht Dichter und Vorsänger. Im Neidhartspiel er-
wähnt Lucifer selbst die Schampperliedl der Bauren ^). Weder
die Sammlungen der Exemplare noch die Liste der Bezeichnungen
*) Marriage, Volkslieder ans der badischen Pfalz S. IX. Hessische
Blätter für Volkskunde 1, 56.
«) Erk-Böhme, Liederhort 2, 795.
3) Hessische Blätter 1, 56. 87. 31 flf. 81 ff.
*) Alfred Tobler, Das Volkslied im Appenzeller Lande S. 28.
») Dunger, Rundas S. XIII ff. Sächsische Volkskunde S. 248. Zeug-
nisse des 16. Jahrhunderts hat Goedeke im Grundriß 2', 24 zusammen-
gestellt. 'Vergl. Bö ekel, Volkslieder aus Oberhessen S. CXXXII ff.
*) Im Lettischen derselbe Vorgang.
^ Wieder abgedruckt bei Böhme 1, 94 ff.
") S. 94: „glicher wise als geistlicher gesanck leytzt zu geistlicher
andacht des hertzen, also reitzt der tantzrimer vnfletiger gesang zu ynkuscher
begirde." „vnd ist groß swere sunde eym y etlichen, der solich schamper
lider ticht oder singt.'* S. 95 „sunde, die vß den lidern oder spruchen
gent." „Sölichcn gesanck der vmme genden tentz, als schamper lieder,
helffen die bösen geist stifften." S. 96 „vnküsche schamper lieder," „tantz-
lieder vnd vppige Sprüche." Vergl. Spangenberg bei Böhme. S. 108.
Geffcken, Der Bildercatechismus S. 57 der Beilagen. Germania 30, 193 ff.
9) Kellers Fsp. 441, 19. Was Bruinier S. 142 unter Schamperlied
behandelt, deckt sich mit unsern Gedichtchen nicht ganz: eher Lessings
Schamperlied. Erich Schmidt in der Zeitschrift für Volkskunde 5, 360.
203
werden zunächst auf einige Vollständigkeit Anspruch machen
können. Hier ist heute noch alles im Fluß. Man täte sicher
unrecht, alle jene Namen samt ihren zugehörigen Begriffen
zusammen zu werfen; sie sind offenbar nicht nur lokal verschieden;
auch unter dieses leichte Völkchen muß einmal der kritische
Besen fahren, wenn wir auch in der Volksdichtung und der alten
Poesie keine Beinkulturen je werden verlangen dürfen. Vielleicht
wenden die verheißungsvoll aufblühenden mundartlichen und
volkskundlichen Studien auch dieser Frage ihre Aufmerksamkeit
zu. Aber schon jetzt ist zu sehen, daß die herkömmliche
Charakteristik der Schnaderhüpfel u. s. w. als bäuerlicher Standes-
poesie viel zu eng ist. Scher er hielt auch die ritterliche 6^
Seilschaft des 12. Jahrhunderts wohl für fähig solche Improvisationen
hervorzubringen^), und für die Beteiligung der Aristokratie an
den Bundas gab Dunger (S. XVIIIj ein ausdrückliches Zeugnis.
Eine erschöpfende Charakteristik aller deutschen Vierzeiler scheitert
noch an der Verschiedenheit der einzelnen nicht hinreichend
untersuchten Arten.
3.
Der Priamelvierzeiler erhält seine dem Vierzeiler gegenüber
selbständige Sonderstellung durch die specifisch priamelhafte Form,
Auf die Form der Volkspoesie ist weniger geachtet, als auf
ihren Inhalt, und Uhland, der versprach, auch jene zu behandeln,
aber das Versprechen nicht erfüllte, hat so eine wichtige Aufgabe
als Erbschaft hinterlassen^). An Anregungen in dieser Hinsicht
hat es auch für den Priamelvierzeiler nicht gefehlt; aber die
bisherigen Versuche, umfassendere Gesichtspunkte für das Urteil
zu gewinnen, können nur wenig befriedigen. Es sind zum Teil
oberflächliche Beobachtungen ohne Ziel und Zusammenhang. So
wenn Neus, der Herausgeber der estnischen Volkslieder, folgende
schiefe Erläuterung des Parallelismus liefert: „Die Volksdichtung
sieht sich oft genötigt und liebt es^ einer Zeile, deren Sinn nicht
sofort hell und klar einzuleuchten oder die für den beabsichtigten
Eindruck zu schwach scheinen möchte, einen zweiten, einen dritten
gleichen Inhaltes zur Ergänzung, Erklärung, Verstärkung folgen
•^
») Kleine Schriften 1, 702.
2) Abhandlung 3^, 15.
204
zu lassen." ^Hiermit hängt auch die eigentümliche Aufzählung
eines Gegenstandes nach dessen einzelnen Teilen zusammen^).''
Dann hat sich der Geschichtsschreiber der deutschen Mystik für
einige Vierzeiler eine eigene Theorie ähnlicher Art zurecht
gemacht, die sogar Norden billigt. „Von dem gewöhnlichen
Spruche," meint Preger, „welcher eine Vernunftswahrlieit oder
eine sittliche Wahrheit in leicht behaltbarer, prägnanter Form
ausdrückt, können wir als besondere Art den Sinnspruch unter-
scheiden, in welchem ein Gedanke zuerst in auffallender paradoxer
Weise oder wie ein Rätsel ausgesprochen wird, um dann nach
einigen folgenden erläuternden Sätzen als evident zu erscheinen.
Die Vorliebe für diese Form der Lehre im Mittelalter erklärt
sich aus der sinnigen Weise des Volkes, und es ist bei der
Natur der Mystik begreiflich, daß sie selbst vor allem davon
Gebrauch macht. Schon Eck hart erscheint als ein Meister solcher
Spruchweisheit, insbesondere auch des Sinnspruchs .... Der
summarischen Aufzählung folgt dann die Erläuterung, der Auf-
schluß 2)." Hermann Welcker widmete der persischen Vier-
zeile und dem deutschen Volksreim im Jahre 1879 eine Ab-
handlung^), um nachzuweisen, daß das deutsche Schnaderbüpfel
unbewußt auf dieselbe Keimfolge wie die persische Vierzeile
gekommen sei, und wollte dabei eine ghaseloide Form des
deutschen Vierzeilers ausscheiden. Hans Grasberger hat
Welckers vorsichtige Formulierung erweitert, findet unter den
Schnaderhüpfeln nicht nur zahlreiche Ghaselen, sondern läßt
Welcker die Ghaselform geradezu als den uns zustehenden deutschen
Volksreim feiern*). Es handelt sich in jener Frage nur um eine
Form des Binnenreims, der die Entwicklung der beiden Lang-
zeilen zum Vierzeiler deutlich macht*). Der Binnenreim setzt
sich am frühesten in der ersten Langzeile fest. Schon oben
begegneten uns Beispiele.
Die Mittel, deren sich das klassische Priamel wie der Priamel-
Vierzeiler zum Aufbau seiner Form bedient, sind weder zurällig
0 s. X. XI.
*) Preger, Geschichte der deutschen Mystik 2, 133.
3) Nord und Süd 10, 359 ff.
*) Die Naturgeschichte des Schnaderhüpfels S. 33. 98 f.
^) Brenner, Zum Versbau der Schnaderbüpfel S. 2.
205
noch willkürlich; sie sind bis heute, wie keine andern, typische
Hauptformen der volkstümlichen Improvisationsdichtung.
Was von primitiver Poesie der sogenannten Naturvölker
bekannt ist, stimmt darin überein, daß die Improvisationen kurz
sind; meist enthalten sie, wie bei den Australiern'), nur einen
oder zwei Gedanken und werden immer wiederholt. „Aborigines
are found uttering measured sounds with no meaning at all for
hours; sometimes, the sounds possess the meaning of a single
Word; or again, the meaning of a phrase^)." Ob man in der
einfachen Wiederholung desselben improvisierten Wortes^) den
Anfang poetischformaler Gestaltung sehen dürfte, ist recht zweifel-
haft. Büchers einschneidende Forschungen haben unter anderem
wieder gezeigt, daß in der Begel nicht ein einfaches Gebilde,
wie es die Abstraktion ausklügelt, als Uratom für jeden Kunst-
zweig der Poesie den Anfang aller Entwicklung bezeichnet, sondern
am Anfang schon ein recht kompliciertes Lebendiges steht, das
durch Differenzierung fortschreitet. Die Biologie bestätigt das.
Es ist sehr fraglich, ob die noch im Finnischen, Estnischen,
Litauischen, Lappischen und sonst ^) gepflegte wenig oder gar nicht
geregelte längere Beihe und der Vierzeiler nicht älter sind, als
die kürzere rhythmische Eeihe des Viertakters ^). Der psychologische
Grund jener kurzen wiederholenden Improvisationen, die nach
übereinstimmenden Beobachtungen alle Anfänge der Musik und
Poesie kennzeichnen, ist die geringe Fähigkeit des primitiven
Menschen, ein erfundenes Motiv systematisch zu entwickeln und
zu gestalten, ein größeres Ganze aus sich heraus zu schaffen.
Dureh die Begabung für systematische Entwicklung unterscheidet
sich wesentlich der Kulturmensch von dem primitiven, der Er-
wachsene vom Kinde. „So oft das Kind in seiner momentanen
•) Wallaschek, Anfänge der Tonkunst S. 189. 24. 27. 31.
2) Mind 1892 S. 326.
3) Gummere, Beginnings S. 252.
*) Die Fisch-Tungusen haben Gesänge ohne Schluß und Abteilung in
Strophen, die in ununterbrochener Einförmigkeit bis zu völliger Erschöpfung
wiederholt werden. Wallaschek S. 246.
^) Eigentlich schließt die Gegenüberstellung eines Prosasatzes und
eines metrisch-musikalischen Gebildes einen in der Tat nicht vorhandenen
Dualismus ein. Ton kunstmäßig entwickelter Prosarede kann in Urzeiten
keine Rede sein.
206
Laune etwa einen Beim erdichtet hat, wiederholt es ihn nnzähligemal.
Dadurch erst versenkt es sich in die notwendige Stimmung, deren
Zeitdauer seine Intelligenz nicht mit hinreichender Abwechslung
ausfüllen kann^)."
Fanden wir bei den Tungusen endlose Wiederholung ohne
Abschluß, so bezeichnet das Streben, den Reihen der Wieder-
holung einen, wenn auch noch so primitiven Abschluß zu geben,
jedenfalls einen künstlerischen Fortschritt. Über die Form eines
australischen Corrobberry, eines primitiven dramatischen Tanzes,
wird berichtet: „Die ganze Musik bestand aus Variationen einer
einzigen Melodie, gesungen mit abwechselnder Stärke und in
verschiedenem Tempo .... Zu Ende des Gesanges trillern
sie ein R in einem ziemlich hohen Ton^).*' Ähnlich gebaut ist
die Zalruta der Beduinen und Bauern Palästinas. Die Zalruta
beginnt jede der drei ersten Zeilen mit dem Freudenruf äwiha
und schließt den vierten mit dem Jubeltriller lulululululesch ^)
Die musikalische Bewegung steigert sich, bis sie im Schluß auch
ihren Höhepunkt erreicht. Die Melodie macht das deutlich*).
1. A- wi-
2. ä wi-
ha ja 'arüs u. s. w.
ha min hottik u. s. w.
lu lu lu lu lu lu lu lu lu lu lesch.
Aber auch die Gedankenbewegung gestaltet sich zugleich
nahezu priamelartig.
J) Wallaschek S. 202. 299. Kohler in der deutschen Literatur-
zeitung 1903. S. 1373.
2) Wallaschek S. 250. Die Tänze der Kamtschadalen werden mit
dem Ausdruck eines immer steigenden Affekts gesungen. Ebenda S. 246.
3) Modificationen bei Dalman, Palästinischer Diwan. S. XX.
♦) Dalman S. 358. Nr. 18.
207^
Bringet die Braut!
Awiha — wisch hal 'arüs illi räihin jegibüha
Awlha — taht kal *at halab kä 'idin jehannüha
Awiha — hatu schnäbir wiglüha
hadi bint anilr il ^arab 'albrig chudüha.
lululululesch.
Awiha, wer ist diese Braut, welche bringen werden, die jetzt gehen,
Awiha, die unter der Festung von Aleppo wohnen, wünschen ihr Glück,
Awiha, gebt SchleiertUcher und singt ihr Gelwe,
das ist die Tochter des BeduinenfUrsten — zur Burg bringt sie !
lululululesch ^) !
Beginnt in der Zalruta jede der drei ersten Zeilen mit
dem gleichen Melisma und Wort, so schließt umgekehrt in den
Ataba-Improvisationen Vers 1, 2 und 3 in gleicher Art. Es sind
wieder fast priamelartige Beispiele gewählt.
Salüni ilbld jabu immi salüni
midri bälhum midri salüni
^assa dihin bilmakla sälüni
chaUüni trik balä rataba.
Vergessen.
Es verschmerzten mich die Weißen, o Sohn meiner Mutter, sie verschmerzten mich,
ich weiß nicht, ob (ich) in ihrem Sinn, oder ob sie mich verschmerzten,
vielleicht — wie Fett in der Pfanne — machten sie mich fließen,
sie ließen mich am Boden liegen ohne Halt^).
Ana lak 'öd 'ala — d darben wabni
wa 'edde bjüt lizzenät wabni .
uder 'äni chaschab lilbet labni
win hüdik bid ja umm il 'asaba.
Der Bau des Liebenden.
Ich sitze an der Wegscheide und baue,
und bereite Häuser fUr die Schönen und baue,
und meine Arme will ich als Bauholz für das Haus bauen,
denn dein Busen ist weiß, o du mit der Kopfbinde^)!
'Alaija min haleb laschscham jömain
sidrik mal ^ab ilchaijäl jömain
'aschartik sine bitküli jömain
'aschrit jöm^ahla min sine.
1) Dalman S. 192.
3) Dalman S. 69.
3) Dalman S. 69.
1
208
Liebe verkürzt die Zeit.
Mir sind von Aleppo nach Damaskus zwei Tage,
deine Brust ist Spielplatz des Reiters zwei Tage,
ich verkehrte mit dir ein Jahr, du sagst, zwei Tage,
der Umgang eines Tags ist süßer als ein Jahr^).
Ana — Iraibe schiddu mchaddäti
Ana — Iraibc mä waddat riik&ti
Ana — Iraibe mä wadda^t le 'ummi
min ba 'da na zra 'u wardan warihänan.
Ich bin die Fremde (Gelwe).
Ich bin die Fremde, macht bereit meine Kissen,
Ich bin die Fremde, ich habe nicht Abschied genommen von meinem Gewissen,
Ich bin die Fremde, ich habe nicht Abschied genommen von meiner Mutter,
hinter uns her pflanzet Rosen und Myrten^).
In diesen poetischen Gebilden ist der innige Znsammenhang
mit Körperbewegung und mit der Musik noch gewahrt. Tritt
die Musik zurück oder fällt sie ganz fort, so hat die logische
Verarbeitung freien Spielraum, sie wird zur Hauptsache. Auf
der Grenze der zweiten und dritten Stufe, die wir unterscheiden,
zwischen primitivem, halb automatischen Abschluß und logisch-
thematischer Entwicklung steht die Form des Priamelvierzeilers.
Überlebsel eines älteren Entwicklungsstadiums bieten etwa Beispiele
wie der Gaunerspruch:
Wer nur den lieben.
Wer nur den lieben.
Wer nur den lieben,
• Johaß Reist beer beer 3).
Auch in vollständig ausgebildeter Poesie hat die Kunst des
Improvisierens ihre bald erreichten Grenzen. Wenn sie nicht
Virtuosenhaft wird, wie in der Kunstdichtung romanischer Völker*),
verfallt sie immer wieder einem gewissen psychischen Mechanismus.
Alle volkstümliche Kunst sucht sich Gedankenarbeit zu ersparen.
Weil es unbequem ist, im Augenblick verschiedene upne
Gedanken logisch- thematisch zu verflechten, beschränkt man sich
auf einen; alles andre ist episodenhaft, wird Digressio. Müllen-
1) Dalman S. 81.
9) Dalman S. 186.
^) Ave-Lallemant II 23. Es war des Schinderhannes Zauber-Drohbrief
an den Pächter Heinrich Zürcher zu Neudorf.
*) Vergl. auch Bohde, Griech. Roman S. 308.
209
hoff hat am Priamel dieses Charakteristikum treffend hervor-
gehoben. Musikalische Improvisation des Praeambulum und der
Frottole bestätigt die Beobachtung. Budolf Hildebrand sieht
in dem Festhalten eines einzigen Gedankens geradezu das Wesen
unserer ältesten einstrophigen Lyrik: „Man wiederholte das eine
liet, das dem Augenblick seinen vollen Stimmungsausdruck gab,
fort und fort, indem man sich in seinen Inhalt gleichsam hinein-
bohrend versenkte und seine Stinamung daran vertiefte bis zur
Sättigung*)." Im Vierzeiler zwingt die Enge der Form zu
Beschränkung und Einheitlichkeit, während das kleine Gebilde
andrerseits dem entwickelten Parallelismus die nötigste Bewegungs-
freiheit gewährte. So steht das Priamel in der Mitte zwischen
den Erzeugnissen des völlig automatischen psychologischen Mecha-
nismus und der Eunstpoesie des schönen Gedankens; es stellt eine
Übergangsstufe dar: die Form denkt für den Improvisator mit.
Wir können drei Typen des Priamelvierzeilers unterscheiden,
die aber sämtlich eines Ursprungs sind. Wiederholung und
Parallelismus sind die primitivsten Mittel, um den Eindruck
eines Gesetzlichen zu erzeugen^). Wie jede Arbeitsbewegung
sich aus mindestens zwei Momenten^) zusammensetzt, so ist der
Ehythmus aller Gedankenbewegung*) entweder steigend oder fallend,
diastaltisch oder hesychiastisch. Steigende Gedankenbewegung
ergibt den Typus des synthetischen Priamels (A) und der Klimax (B),
fallende den Typus des analytischen Priamels (C). A und B sind
im Grunde identisch, C ist die ümkehrung^) des ürtypus. Dieser
schließt sich auch naturlich dem aufsteigenden Satzton der Periode
an und ist bei Kulturnationen am allerhäufigsten vertreten. In
nicht -indogermanischer Poesie scheint der Typus C beliebt.
») Hildebrand, Materialien S. 212 f.
3) Welcker S. 359 f.
3) Bücher S. 26. 307.
*) Wenn hier von Gedankenbewegung die Rede ist, so wird das
nicht streng logisch gemeint; die Gedanken können auch ganz unlogisch,
alogisch, hyperlogisch sein, wie im Gaunerspruch und vielen halb automatischen
Versen. Logismus ist erst im Werden begriffen.
*) Wie nahe die Umkehrung der Typen A und C liegt, lehren Beispiele
wie „Und a Lieb ohne Freud" (Werle, Almrausch S. 103. Greinz und
Kapferer 1, 3), verglichen mit Nr. 933 in von Hörmanns Schnaderhüpfeln^
S. 341. Pogatschnigg und Herrmann P Nr. 976 ex, 1041. 1759-1764-41.
Baling, PrfameL ^^
210
B wird mehr von den geistreichen Bomanen als von den germanischen
Völkern gepflegt. Tatsächlich haben wir es hier mit einer völlig
festgewordenen primitiven Dichtungs-Form zu tun, die sich keines-
wegs auf Deutschland beschränkt. Die natürlichen Grundlagen
des geistigen Lebens sind im wesentlichen überall dieselben, und
je tiefer man zu den Anfängen der Poesie hinuntersteigt, um so
ähnlicher gestalten sich verhältnismäßig die uns entgegentretenden
Erscheinungen. Alle Volksüberlieferung lagert auf breiter ge-
meinschaftlicher Grundlage; da gibt es keine schroffen Übergänge,
kein plötzliches Abbrechen. Die Einheit des menschlichen Geistes
wird nirgend so evident wie hier. Deshalb sind auch die typi-
schen Formen der primitiven Improvisation auf breiter Basis zu
behandeln.
Das Material erfordert kurze Erläuterung. Was auf ver-
schiedener Stufe sprachlicher und poetisch-technischer Entwicklung
steht, ist grundsätzlich nicht völlig vergleichbar. So scheidet
z. B. eigentlich finnische Literatur, manches orientalische und
vieles der Poesie von Naturvölkern aus; solche Beispiele sind
in besonderer Schrift gesetzt, ebenso als Paradigmen dienende
Verse von Goethe. Für das Indische sind die Sapta9atakam des
Häla benutzt^), obwohl die Volkstümlichkeit dieser Vierzeiler eine
gewisse Einschränkung erleidet (schon oben ist davon die Bede
gewesen): ihr volksmäßiger improvisatorischer Grundcharakter
steht hinreichend fest^). Auch Jacopones da Todi Kunst ist
volksmäßig, sicher in noch höherem Grade als Sapta9atakam ;
Jacopones Vierzeiler können für romanische Beispiele des
13. Jahrhunderts gelten, um aber des volkstümlich-improvi-
satorischen Charakters sicher zu sein, haben wir oft aus den
Sammlungen der KpuirTaoid zitiert, ohne Bücksicht auf den Inhalt.
Der Improvisationscharakter ist nicht immer mehr deutlich; Über-
lieferung und Kunst verwischen ihn. Produkte wie lateinische
quatrains^) oder persische Gedichte wie das von Eth6 (Firdusi
als Lyriker S. 657)^) mitgeteilte, sind ausgeschlossen; nicht
minder echt Lyrisches (wie bei Oswald von Wolkenstein Nr. 43
') freilich nicht wieder mit abgedruckt.
') Weber, Abhandlungen für die Kunde des Morgenlandes YII 4, XXI f.
3) Notes et extraits 31, 88.
*) Mnnchener Sitzungsberichte 1873, 3.
211
und poetische Grabschriften von Hoffmann swaldau Nr. 59
^Eines so sich am Moste zu todte gesoffen"). Dagegen wären
humoristische volksmäßige Parodieen offenbar epigrammatischen
Charakters, wie Vierzeiler der Viri obscuri, nicht zurückzuweisen,
trotzdem sie sich lyrischer Muster^) bedienen. Daß der Liebes-
gruß im Buodlieb nicht allein auf lateinische Floskeln der gelehrten
Literatur zurückgeführt werden kann, sondern auf einem viel
weitergreifenden Motive ruht, lehrt ein Gedicht, das Socin in
seinem Diwan aus Centralarabien II Nr. 38 übersetzt hat: „Will-
kommen dem Gruß, der von meiner Geliebten mir zukam; Will-
kommen sovielmal als Abendrotwolken zusammen aufziehen! Oder
sovielmal als Wolken Bogen fallen lassen oder als Blitze an ihren
Bändern aufleuchten. Oder als verschiedene Blumenstengel empor-
sprossen, oder als Pilger ihren Geleitsmännern Tribut zahlen*^ u. s. f.
Aus dem Fehlen von Beispielen bestimmter einzelner Sprach-
gebiete bitte ich keine Schlüsse zu ziehen. Teils fehlen dafür
Sammlungen überhaupt, teils darin die Vierzeiler, oder unter
Vierzeilern gerade priamelhafte; und im allgemeinen sind die
Universitätsbibliotheken mit volkskundlichem Material noch wenig
versehen; gilt doch leider die Volkskunde heute noch, wie zu
Wielands Zeiten die Chemie, als Modewissenschaft. Die König-
liche Bibliothek zu Berlin auszuschöpfen, war mir zum Schaden
der Sache nicht vergönnt. Die Ortsangabe ist nicht so gemeint,
daß der betreffende Vierzeiler dort entstanden oder nur dort
vorhanden sei, womit Niemand etwas Neues gesagt wird, der
um diese Dinge weiß. Es handelt sich nur um die Form und
ihre Typen. Älteres oder ganz Volksmäßiges ist im allgemeinen
bevorzugt. Für die älteren Perioden fehlt in der Begel aufge-
zeichnetes volksmäßiges Material, das andrerseits auch in moderner
Aufzeichnung vielfach die Voraussetzung des Alters für sich hat.
Fremde Originaltexte zu erlangen, war bei der Ausdehnung des
Materials nicht immer möglich; die Lautschrift ist aus den von
Gustav Meyer ^) geltend gemachten Gründen aufgegeben. Über
die Eonstatierung eines bestimmten Typus läßt sich im gegebenen
Fall manchmal streiten; ABC gehen in einander über. In der
') WilmaHns, Walther S. 293. Burdach, Zs. f. d. A. 27, 354.
Grazer Studien zur deutschen Philologie 5, 68 ff. QF 93, 91.
«) Essays 1, 411.
14*
212
folgenden Übersicht sind die einzelnen Heispiele regelmäßig typische
Vertreter von Hunderten . oder Tausenden ihresgleichen; Belege
zu häufen ist nicht beabsichtigt. Fast jede Fassung hat zahl-
reiche Varianten; für das Deutsche liefert die ganze folgende
Untersuchung Material. Absolute Gleichmäßigkeit ließ sich bei
der Mangelhaftigkeit der zu Gebote stehenden Hilfsmittel nicht
immer erreiclien. Unterabteilungen nach antiken oder modernen
rhetorischen und sonstigen Gesichtspunkten sind vermieden, da
sie unbefangenem Verständnis zunächst nicht dienen. Wann bei
den einzelnen fremden Nationen der priamelhafte Vierzeiler auf-
tritt, muß im einzelnen Fall besonders untersucht werden. Stets
ist er älter als die Aufzeichnung in der Literatur. Gegen Ende
des Mittelalters, wenn sich volkstümliche Literatur hervorwagt,
haben ihn die Eulturnationen Europas.
So ist denn das Material ohne Zweifel sehr der Vervoll-
kommnung fähig, aber es wird genügen, um das Gesetzmäßige
der Formen erkennen zu lassen.
Was die Anordnung betrifft, so sind die Literaturerzeugnisse
indo-europäischer Sprachen, zunächst mit Ausschluß der ger-
manischen, vorangestellt: indische, lateinische, romanische, grie-
chische, slavische, litauische, lettische und keltische; die ger-
manischen bilden die zweite Gruppe: die deutschen mit Berück-
sichtigung der einzelnen Landschaften und mit Einschluß des
Niederländischen, die nordischen, die englischen; den Schluß
machen anhangsweise Verschen der türkischen, finnischen, est-
nischen und malaiischen Sprachen.
Typus A.
Schema:
Alter wtbe minne,
und junger Hute sinne,
und kleiner rosse loufen:
sol nieman tiure koufen.
Verweile nicht und sei dir selbst ein Traum,
Und wie du reisest, danke jedem Raum,
Bequeme dich dem Heißen wie dem Kalten:
Dir wird die Welt, du wirst ihr nie veralten. ^
Goethe.
213
Indisch.
Sapta9atakam Nr. 514.
Mittellateinisch.
Quot sunt üores in Idae vallibus,
Quot redundat Dodona frondibus,
Et quot pisces natant equoribus:
Tot habundat amor doloribus.
Carmina Burana Nr. 82, 3.
Friaul.
Ai provät malinconie,
Ai provat il freit d'invier,
Ai provdt la gelo^ie:
Son tre penis da l'infier.
Arbeit, Villotte Priulano S. 81. Nr. 182.
Lombardisch. '
Chi tira de mira,
chi suna de lira,
Chi pesca co Tarn:
i mör de la fam.
Düringsfeld, Sprichwörter der germanischen und romanischen
Sprachen II 210. Nr. 381.
Mittel-Italien.
Se il Papa mi donasse tutta Roma,
E il Principe Boighese l'Amentana,
E mi dicesse: Lascia andar chi t'ama:
Jo gli direi di no, sacra Corona.
d'Ancona, La poesia popolare italiana. Liyorno 1878 S. 209.
Wer den Rock ungern beschmitzet,
Zierlich ausspukt, steht und sitzet,
Seinem Lob die Ohren spitzet:
Büßt die Zeit ein für die Taten M.
• ^ #
Ausgewählte Gedichte Jacopones da Todi übersetzt von Schlüter
und Storck S. 36.
Französisch.
Charue de ieunes veaux,
Chasse de ieunes chevaux,
De ieune faucon volee:
Ne feit onc bonne iournee.
luvencorum aratio,
Fullorum venatio,
214
Falconis iuvenis aucupium:
Irritum semper Studium.
Garnerius, Thesaurus adagiorum gallico-latinorum (Francofurti 1612).
S. 123.
Provenfalisch.
Itar au liech et non dourmir,
Pron esperar et non venir,
Amar et non aver plesir:
Sont tres causos que fan mourir.
Herrigs Archiv 43, 69.
Spanisch.
Los deos de las manos,
Los deos de los pies,
La picha y los gUebos:
Son bentitres.
KpuTTcdSta 2, 225.
Neugriechisch.
T6v dpcEir' %{ ä aairoWC'ßC,
Tov vexpo •*.{ a yapyoüClQC,
t6 fAeOucfiivo xi av xepa(X^C)
p.dv' T^v xepaffid Od X^'^^*
rioX{T7)c, napoift^at 2,422. No. 17.
Polnisch.
Przeskoczyla bez koryto,
Sikla, piardla — dobre i lo!
Zsune}e sie bez tarcige:
Az jej wlazla drzazga w pi^e.
KpuTcxaSia 3, 226. Nr. 41.
Wales.
Nid i garu do' is i yma,
Nag i roi 'nhroed i lawr yn ara,'
Na chwaith i gyffwrdd wrth yr ysgub:
Rho dithau 'th drwyn yn nhin dy fodrybl
KpuirrdSta 2, 359.
Litauisch.
Die Augen in der Scheide,
Die Zähne in der Tasche,
Die Füße in den Händen:
Dann, o lieber Gott, dann verlaß mich nicht.
Schleicher, Litauische Märchen, Sprichwörter, Bätsei und Lieder,
S. 244; vergL Vorwort S. V.
215
Deutsch.
Ober-Bayern.
Koa Nacht is ma z' dunkl,
Koa Weg is ma z' weit,
Koa Fenster z' hoch drobn:
Wenn mis Diandl recht freut.
650 Schnaderhüpfln. München, Höpfner s. a. S. 48.
Tirol,
ünterinntal.
An aiberisch Hüetl,
A baierisch Mieder,
A baierisch Diendl:
Kriegt nit an ieder.
von Hörmann, Schnaderhupfeln^ S. 361. Nr. 992.
Lechtal. Brixlegg«
Wer an Äpfel stiehlt und frißtn nit,
Wer a Dianl liebt und küßt sie nit,
Wer ins Wirtshaus geht und trinkt koan Wein:
Mueß a rechter Patzenläppel sein.
Zeitschrift für österreichische Volkskunde 2, 104. Nr. 145.
Salzburg.
A frischs Wassel en Berg,
A Sehens Diandl en Tal,
Und dö husögn Buabm:
Hoot roa gean Ubaral.
Süß, Salzbnrgische Volkslieder S. 194.
Böhmen.
Tepl.
Zwon Fläign in da Stubn,
Un zwoa Antla in Säi,
Un zwan Mai in ain Bett:
Thaun ananni neat wäih.
Hruschka und Toischer, Deutsche Volkslieder aus Böhmen S. 316.
Oberösterreich.
Wann da Baur si mehr zimt.
In da Stadt kaft a Haus,
Und si herrisch will tragn:
Wird a Gwandlümmel draus.
Kaltenbrunner. Die deutschen Mundarten hg. von Frommann 4,376.
216
Kärnten.
Zwa Köpf und oan Sinn,
Zwa Herzl und a Freud,
^wa Biabl treu liabn:
Lauta Unmöglichkeit.
Pogatschnigg und Hermann 1, 131. Nr. 595.
Steiermark.
Wer et schnupft und et raucht,
Und et tanzt und et sauft,
Und hot dechter ka Geld:
Ist a Schand af der Welt.
von Hörmann, Schnaderhüpfeln^ S. 337. Nr. 921.
Ungarn.
Die Heanzen.
Wann dar Auff a mal p&üzt.
Und da Kibau anbui schnalzt,
Und dar andri Hohn schrait:
Is da Tog nima woit.
Welcker, Dialektgedichte' S. 148.
Siebenbürgen.
Wenn die Herrn im Rathaus sitzen,
Die Handwerksleut in der Arbeit schwitzen.
Die Bauern auf das Feld ausgehn:
So muß das Land im Segen stehn.
Haasinschrift zu Schaas bei Hai trieb- Wolff S. 449.
Mähren.
Iglan.
Geberg und Gethal,
Zwa Rösserl im Stall,
Zwa Bubn fUr a Madl:
Sei z'viel auf a Mal.
Zeitschrift für österreichische Volkskunde 4, 17.
A Bix ohni Ho*
Und a Diendl ohni Mo'
Und a Jaager ohni Schneid:
Da es's allmal gefeit.
von Eobell, Schnadahüpfeln S. 329. Nr. 26.
217
Der Kittel und d Hosen,
Der Berg und der Graben,
Der Bua und sein Deandl:
Muß an Z'sammastand haben.
K. Stieler, Bergbleamln. München s. a. S. 87.
Drei Drumpf und oan Sau,
Zwen Herrn und koan Frau,
So a Gspiel und a Haus:
Ja, da Teuxel halts aus.
Franz Stolzhamers mundartliche Dichtungen, bearb. von Hanric der,
Weitzenböck und Zöhrer. Linz 1897. 1,288.
Schwaben.
Wele, wele ummer laufet,
Wele d'Glöckle läutet,
Wele zwei z'säme stoßet:
Sind die beste Leutle.
Ernst Meier, Schwäbische Volkslieder S. 127.
Schweiz.
Eerenz.
Riffen und Schnee,
Badende Bueben im See,
Riffi Kirschi und blühender Win,
Das ist alls in eim Meien gsin.
Winteler, Die Kerenzer Mundart S. 196.
Solothurn.
Trink im Merze wiene Luus,
Im Aprelle wiene Muus,
Im Meie wiene Chueh:
So wirds dr nie ntit tue.
Dr Grosätti usem Leberberg 3', 46. Nr. 101.
Appenzell.
Mini Schwöster spillt Gittar,
minn BrUeder Klarinett,
minn Vatter bröglet d'Muetter:
das geed e Quartett.
Tobler, Das yolkslie4 im Appenzellerlande S. 3^. No. 5.
21?
Aargau.
Wenn einer en steinigen Acher hat
Und en hölzige Pflueg,
Und e bös Frouweli hat:
So ist er gschlage gnueg,
von Hörmann, Schnaderhüpfeln ^ S. 194. Nr. 549.
Elsaß.
Iwer de Minsterblatz ohne Wind,
Durch de Kurwegaß ohne Kind,
Durchs Spittelgässel ohne Spott:
Isch e grossi Gnad von Gott
Martin und Lienhart, Wörterbuch der Elsässischen Mundarten 1, 221.
Nürnberg.
Geih mer nit über mei Aeckerla,
Geih mer nit über mei Ra,
Geih mer nit naf lo mein Kätterla:
Sunst brech i dir Arm a Ba.
Die deutschen Mundarten, hg. von Frommann 6, 417.
Vogtland.
Und an Gerichtsdiener als Voressen,
und den Landrichter als Worscht,
und den Gensdarm glei grün gfressen:
Bu, dös macht an Dorscht.
Dunger, Bundas Nr. 1218.
Meininger Oberland.
Steinheider Kinder,
Lauschner Rinder,
Und Schalkener Braut:
Besch — ölla leut.
Schleicher, Yolkstümliches aus Sonneberg S. 93.
Schlesien.
Bei dem Bäcker kauffen Korn,
bei dem Schmiede kauflen Kohlen,
bei dem Schneider kauffen Zwirn:
hilfft dem Händler auf die Sohlen.
liOgau, hg. Yon Eitner, S. 20. No. 48.
219
Erzgebirge.
Heischrecken, Fladrmeis,
Advekatn, Filzlais:
Wu die namme iwrhand,
Die verzehrn e ganz Land.
A. Müller, Volkslieder ans dem Erzgebirge S. 166. Nr. 166.
Nassau.
Ein altbayrischer Säbel,
Und eine ungarische Kling,
Und ein nassausches Mädel:
Das sind lauter schöne Ding.
Wolfram, Nassauische Volkslieder S. 382. No. 24.
Elsenzthal.
Wer im Heumache nit gawelt,
^n der Ahm nit zawelt,
Im Herbscht nit früh uffsteht:
Der mag seh, wies 'm Winter geht.
Glock, Lieder und Sprüche aus dem Elsenztale S. 52.
Eifel.
Wenn die Frau nicht haust,
Die Katz nicht maust,
Der Hund nicht billt:
Dann ist Alles verspielt.
Schmitz, Sitten und Bräuche, Lieder, Sprüchwörter und Rätsel des
Eifler Volkes 1, 179. Nr. 28.
Westpreußen.
Augen, die nicht ferne blicken,
Und die auch nicht nach Liebe schauen,
Die oftmals ganz gewaltig drücken:
Das sind meine Hühneraugen.
Treichel, Volkslieder und Volksreime aus Westpreußen. Danzig 1895.
S. 159. Inbetreff der Provenienz sind die Bemerkungen S. III und V des
Vorworts zu beachten.
Ostpreußen.
Mewe.
Ein Schreiber ohne Feder,
Ein Schuster ohne Leder,
Ein Kaufmann ohne Geld:
Sind die größten Hundsfötter in der Welt.
Frischbier, Preußische Sprichwörter und volkstümliche Redensarten^
2. Sammlung. Berlin 1876, S. 164. Nr. 2416,
220
Niedersächsisch.
En Afkate one Leigen, i
En Jude one Bedreigen,
'ne Ziege one Bart:
Dat sint Dinge seidener Art.
Grote, Niedersächsisches Kinderbuch. Hannover 1872', S. 454.
BrauDSchweig.
Hunger un Dost,
Hitze un Frost,
Kein Tüg open Liwe:
Un dat sind fiwe.
Zeitschrift für Volkskunde 10, 426.
Westfalen.
Jäiden moargen branneweYn,
un nommerdages bäir,
un do en nett jung miäken beY:
es dat nitt en plasäir.
Nd. Korrespondenzblatt 1, 94.
Hamburg.
Beren achter Wynacht,
Un Appeln achter Fassnacht,
An Junfern över dörtich Jar:
Heft alle dre den Smack verlarn.
Nd. Korrespondenzblatt 5, 16.
Lübeck.
Den Kopp hol! kold, de Been holl waarm,
Stopp nich to veel in dinen Daarm,
De Achterpoort laat open stahn :
Denn kann de Dokter wider gähn.
Schumann, Volks- und Kinderreime aus Lübeck S. 119. No. 460a.
Wegener S. 228. No. 777; S. 229. Nr. 778.
Mecklenburg.
Fisch an Graden,
Flesch an Knaken,
Holt an Knorren:
De soelen irst inn Himmel kamen.
Nd. Korrespondenzblatt 11, 44.
Schwaneburg.
WiewT krunkn,
Hunne hunkn,
Koopmann schwaern:
Loat juch nich bethaem.
Wegener S. 227. No. 767.
221
Altmark.
Twee Höän upp een Meß,
Twee Furrlüd up een Woagn,
Twee Muddrs in een Huus:
De könn sick nich verdroagn.
Wegener S. 231. No. 789.
Einem Säufer wird in Ostfriesland nachgerufen:
Janever is mien Levend,
Janever is min Dood,
Janever mut ik hebben:
AI heb ik ok geen Brood.
Globus 24, 31 L
Mittelniederländisch.
Die gherne dobbelt ende drinct,
ende altoos die taverne mint,
ende locker is mit sconen vrouwen:
cruus noch munt en sei bi behouwen.
Altdeutsche Blätter 1, 76. No. 23.
Neuniederländisch.
Daar Burgeroeesters Koren kopers zyn,
£n Pagters en Verklikkers drinken de Wyn,
En siegte lui gaan bidden om broot:
Daar leeft de Gemeente in groote noot.
Op een Rydwagen tot Haarlem. Eoddige en ernstige Opschriften 1, 25.
Englisch.
He that hath it and will not keep it,
He that wants it and wiU not seek it,
He that drinks and is not dry:
Shall want money as well a« J.
Northall, English folk-rhymes S. 518.
Aus dem 14. Jahrhundert:
Long beards heartless,
painted hoods witless,
gay coats graceless:
make England thriftless.
W. Carew Haziit English proverbes. London 1869. S. 268. Nort-
hall S. 98. Nach 1327.
'I'Ii
Dänisch.
Hvor Soldater syde og brade,
Praester Verdsligt villc raade,
Qvinden og Regiering haver:
Ilde sig Huusholdning haver.
Ord-Bog over Danske Ordsprog paa Pransk oversatte. Kiöbenhavn.
1757. S. 316.
Norwegisch.
Du tai 'ke tukke deg sä ifra mcg,
Du tar 'ke tenkje at eg vil fä deg,
Du tar no inki sa pä deg snü:
eg held meg leksa god eg som du.
Landstad, Norske Folkeviser S. 750. Nr. 7.
Finnisch.
Will der Luchs den Berg zerbeißen,
Will der Wolf den Stein zerbrechen,
Will der Bär den Fels zermalmen:
Allen kostet es die Zähne.
Altmann, Euiien finnischer Yolkspoesie S. 140.
Malaiisch.
Von Patani das gelbe Betelblatt,
Von Malacca die frische Betelnuß,
Und ein weißgelbes Christenmädchen:
Dran einer wohl verderben muß.
Talvj, Proben S. 71.
Natürlich bindet sich improvisierende Volkskunst niclit an
regelrecht ausgeprägte syntaktische Schemata; die logische Be-
ziehung ist oft bloß angedeutet. So gehört zum Typus A die
bekannte Martel-Inschrifc vor Amras:
Aufi gstiegn,
Kerschen brockt,
Abi gfallen:
Hin gwesen *).
*) Marterl, Votivtafeln, Grabschriften, Peldkreuze, Leichenbretter, Haus-
sprüche, Armeseelenbilder in Tirol, Vorarlberg, Bayr. Wald, Vorgebirge nnd
Altbayrischen. Gesammelt von mehreren Touristen. Regensburg. Stahl
s. a. S. 27. Vgl. S. 24 und oben das penill aus Wales.
22^
Grobes stilistisches Schematisieren wird hier zur Unmöglichkeit.
Unerschöpflich sind die sich ergebenden und am modernen Schnader-
hüpfel zu studierenden Nuancen der Verbindung. Zugleich leiten
solche Fälle zu dem verwandten Typus B über. Wenn auch erst
in dem folgenden Kande der moderne Priamelvierzeiler als solcher
zur Behandlung kommt ^), so ist doch schon hier auf die unge-
heure Beweglichkeit der Formen hinzuweisen, um auch für die
ältere Zeit den richtigen Augenpunkt für die Beurteilung zu finden.
Ohne besondere Andeutung der logischen Beziehung verfährt der
Spruch :
Oane han i entern Bach,
Oane im Grabp, '
Oane in der Nachbarschaft:
Drei mueß i habn.
von Hörmann, Schnaderhüpfeln aus den Alpen^ S. 41. No. 115.
Ähnlich :
Schön jung is mei Bluot,
Und schön rund is mei Huot,
Und Kurasch wie a Teufel:
Will sehn, wer mir was tuot.
Gundlach No. 905.
Vogtland.
Morigns früh ze Branntwein,
und Nochmittig ze Bier,
und Obends in de Rockenstubn:
dös is de Borschmanier.
Dunger, Eundas No. 799.
D Frau Wirtin in Sattl,
D Köchin in d Hand,
D Kellnerin ins Loatseil :
Das liederliche Land.
KpüTTTötSia 4, 89. No. 45.
Inhaltlich, aber nicht formal entwickelt scheint:
Schneid in Leib, Geld in Sack,
Und a Sehens Diandl af d Nacht:
Dö drei gutn Ding
Kann man selten zsammbring.
Pogatöchnigg und Herrmann 1, 364. No. 1551.
») Vorläufig Reuschel S. 117 f.
224
Von sjotaktisch-stilistischer Gleichmäßigkeit oder gar Korrekt-
heit maß oft abgesehen werden.
Zwa Gamserl Um scheixen,
Zwa Hnnderl tan jagn,
Zwa Deanidl tan streitn:
Oan Bfinbl woHn s' habn.
TOD Hörmanii' S. 48. Nr. 136.
Eine ganze dialogisch-mimische Scene stellt das Schnader-
'^ * Madl, magst an rodn Apfl ?
Bfadl, magst an Wem aa?
Biagst net a weng halsn?
*Ja! ja! i mag aa!«
6 n n dl a ch , Tausend Schnadahüpfeln. Nr. 92.
Ebenso dramatisch verfährt der Vierzeiler:
An Spmng übern Zami,
Und an Jucbazar drauf.
Und an Klockar ans Fenster:
Scheans Diemdl, tuo auf!
Gnndlach Nr. 184.
In formaler Entwicklung bleiben Verse stecken, wie:
Zu dir bin i gangen,
zu dir hats mi gfreut,
zu dir ge i nimmer:
der wöch is mer zweit
Die deutschen Mundarten 5, 510. No. 1*3.
Bisweilen sind nicht alle Glieder gleichmäßig entwickelt; so
das erste in dem verbreiteten Vierzeiler:
Gelt, du klemmaugate,
Gelt, für di taugati,
Gelt, Blr di war i recht:
Wann i di mecht.
Pogatschnigg und Herrmann 1, 91. Nr. 397. von Hörmann ^
S. 33, No. 92. Dunger No. 535. Ernst Meier S. 8. No. 30.
Von der 4. Zeile ist der Abschluß sogar in die 3. gerückt:
Wanns regnt und wanns schneibt,
Und wann kalt da Wind waht,
Und i geh zu meim Deamdal,
Wanns Spieß regna thaat.
Gundlach Nr. 170. von Hörmann» S. 203. Nr. 14.
225
Z' BitzUtetten und Malvergettn',
Z' St. Veit und Maria Saal,
Khert alles mein,
Bis Ebenthal.
Pogatschnigg und Herrmann 1', 129. Nr. 626.
Zwoa kohlschwarze Rößlan,
A Saggl in Wagen,
Mei Bue, der mueß ja
A Schnurbartl haben. „
Ebenda S. 8. Nr. 39.
Noch ein Beispiel dieser Art gibt Werie im Almrausch S. 3
aus dem Murtal.
An Knödl und a Fleisch,
Und a Koch und an Sterz,
Na, das ham ma halt do,
Und an altdeutsches Herz.
Selbst in die zweite Zeile rückt der sogenannte Abschluß;
ein Beweis, wie wenig überhaupt auf den Abschluß als solchen
Wert gelegt wird.
Lustig frisch auf
Ist mein Buebn sei Brauch,
s HUetl auf der Seitn,
die Schneid oben drauf.
von Hör mann, Schnaderhüpfeln^ S. 2. Nr. 2. Pogatschnigg und
Herrmann 1^, 10. Nr. 50.
Dagegen lehrte J. G. Meister, das vornehmste Acumen
besonders in die letzte Zeile zu bringen; „denn wo diese zurücke
bleibet, so sind die Sinn-Getichte ein schwartzer Balsam, welcher
nach verlohrenen Gerüche nichts thut, als daß er die Haut be-
sudelt ^).^ Vor allen Dingen kann oft nicht von Abschluß im
Sinne rhetorischer Theorie die Bede sein, nicht etwa von einem
Prädikat, das zu mehreren Subjekten gemeinsam gehöre und der-
gleichen. Einige Beispiele mögen das zeigen:
San neat alla Grasla gräin,
San neat alla Maidia schäin,
San neat alla Röisla routh:
Wöi mas geam hout.
Hruschka und Toischer, Deutsche Volkslieder aus Böhmen S. 329.
*) Unvorgreiffliche Gedanken Von Teutschen Epigrammatibns ... von
M. M. Leipzig 1698. S. 81.
Snllng, PriameL 15
226
Mein Köih stenga dick inn Teich,
Mein Köih hoben al grauß Bauch,
Mein Köih geben Mülch u Schmolz:
Man Frau wiad stolz.
Hruschka und Toischer S. 364.
A Bisserl Schwoarz und a weng Weiß,
A Bisserl Englända und a weng Preuß,
A Bisserl Ruß und a weng Franzos:
Und donn geht die Gschicht los.
Hruschka und Toischer S. 375.
Ein zweiter Vierzeiler erweitert die letzte Zeile des ersten
in einem böhmischen Gedicht aus Plan-Eger.
Wenn anna an staininga Acka haut
U haut an hUlzana Pflough,
U haut a rechts böis Wei dazou:
Dear is schon geschlagn grad gnough,
Dear mou si selwa Hulz eintragen,
Dear mou sie selwa Feiea schlogn.
Dear mou si selwa haitzn an,
Mouß selwa Köchin san.
Hruschka und Toischer, Deutsche Volkslieder aus Böhmen S. 221.
Tjrpus B.
Schema:
Alte leute krauen sich,
zornige leute hauen sich,
weise leute besinnen sich:
junge leute minnen sich.
Im neuen Jahre Glück und Heill
Auf Weh und Wunden gute Salbei
Auf groben Klotz ein grober Keill
Auf einen Schelmen anderthalbel Goethe.
Indisch.
Sapta9atakam Nr. 80.
Lateinisch.
Nee parit mula,
nee lapis fert lanam,
nee huic morbo caput crescat:
si creverit, tabescat.
Heim, Incantamenta S. 549.
22/
Livorno.
Non c'e sabato senza sole,
Non c'e donna senz' amore,
[Non c'e rosa senza spina,]
Non c'e prato senz' erba:
Non c'e camicia senza in. .
Romania 12, 610.
Venedig.
Un legno no fa foco,
Do ghe ne fa poco,
Tri ghe ne faria:
Ma i vole compagnia.
von Düringsfeld 1, 177. Nr. 351.
ViUotta.
Es ward das Meer für die, so Schiffahrt treiben;
Die Feder und das Tintenfaß zum Schreiben;
Zum Sundenbußen ward das Fegefeuer:
Die Lieb fUr Alle, die einander teuer.
Somborn S. 131. El mar e fato per i naveganti.
Die Geduld als Schild erhebe,
Eifrig in Gehorsam lebe,
Nicht nach vielem Wissen strebe:
Aber tu viel guter Taten.
Ausgewählte Gedichte Jacopone da Todis, übersetzt von Schlüter
und Storck S. 37.
Französisch.
Les asnes mangent de Tavene,
Les bons chevaux n'ont point de foin,
Les lourdaux ont leurs panses pleines:
Les bons esprits meurent de faim.
Garnerius S. 60.
Spanisch.
Todo lo vence el amor;
Todo el dinero lo allano;
Todo lo consume el tiempo;
Todo la muerte lo acaba.
Marin, Cantos populäres espafioles 4, 243. Nr. 6870.
15*
m
PortugiesiäcL
Kern toda a aryore da fhictö,
Nem toda a erva da fior;
Nem toda a mulher bonita
Tode dar constante aroor.
Braga, Cancioneiro populär. Coimbra 1867. S. 44.
Neugriechisch.
xdEXXio vd )(Ouv xd nailid fxou,
xaXXco vd yr^ if) dcpevriäi fxou.
IIoX^TTjc, riapocfA^at 2, 673. No. 2.
Macedonien.
Xapd \ Tov icoü TO ic{vet,
^dpd 'C TOV 1C0U XCpV^,
)(apd 'c t)) xo(ji.iiav(a,
Kai 'c ^' t)] oovTpo^pidL
Abbott, Macedonian Folklore S. 342. No. 39.
Aus Samogitien.
Wiele po^cieli bez pi6r,
Wiele tTzewik6w bez sk6r,
Wiele miast bez muröw:
Wiele pauöw bez gburow.
Nitschmann, Geschichte der polnischen Literatur S. 239.
Wendisch.
Z nesla kacka dzence jykow,
Tod dttbowgm penkom,
'Sitke mlode wule 'nyla,
Dzes atcho skopa.
Haupt und Schmaler, Volkslieder der Wenden I Nr. 219.
Bosnisch.
Sttvopoljka bez obojka,
a Zagonka bez zaglavka,
Cagjavica mrka pica,
Bukowiöka pukla pi£ka.
KpuircdSia 8, 249.
229
Litauisch.
Ein Fünfzeiler.
Einer mit sich tut nicht gut,
Zweie plaudern wohlgemut,
Gut beraten wird zu dreien,
Klüger können vier nicht sein,
Neune schwatzen allerhand,
Zwölfe aber Unverstand.
Schleicher, Litauische Märchen, Sprichwörter, Bätsei und Lieder S. 244.
Lettisch.
Für die Mädchen blüht die Rose,
Für die Mädchen prangt der Mohn,
Für die Mädchen reiten stolze
Knaben ihre jungen Rosse.
Uli mann, Lettische Volkslieder S. 17. Nr. 53.
Deutsch.
Ober-Bayern.
Zum Frühstück a Suppn,
Und Fisch auf Mittag,
Um halbe drei Krebsn,
Und Vögeln auf d Nacht.
650 Schnaderhüpfln. München 9. a. S. 27.
Böhmen.
Plan.
Zan Fröistück a Suppen,
U Fisch af Mittagh,
Um a halwa dra Krebsn,
U Rebhennla af d Nacht.
Hrnschka und Toi scher, Deutsche Volkslieder aus Böhmen S. 316.
Tirol.
Mei Muatter ist kröpfet,
Der Voter ist kramp,
Mei Schwöster ist buggelt.
Aber i bin a Lump.
(rreinz und Kapferer, Schnadahüpfeln aus Tirol S. 32.
230
Wiener Wald.
Wanns nua nit schlimma wiad,
Wanns nua so bleibt,
Wanns ah schon regna tuad,
Wanns nua nit schneibt.
Welcker, Dialektgedichte ^ S. 130.
Salzburg.
Und's Diendl is handsam,
Zum Tanzn schön langsam,
Zum Busselgebn gschwind
Und zum Halsn schön lind.
von Hör mann, Schnaderhüpfeln ^ S. 123. Nr. 345.
Ennstal.
Wia d Schüssel, so d Scherbn,
Wia 's Mehl, so die Nocken,
Wia 's Kraut, so die Ruabn,
Wia der Voda, so die Buam.
Zeitschrift für Volkskunde 6, 137.
Kärnten.
Das Fegfoir is vrbrennt,
Und die HöU is eiskalt.
Der Teixl in Pension,
Der Hascher is schon alt.
Fogatschnigg und Herrmann 2, 34. Nr. 125.
Steiermark.
Koan Baum ohne Laub,
Und koan MUhl ohne Staub,
Und koan Hut ohne Schnuar,
Und koan Dim ohne Bua.
von Hörmann, Schnaderhüpfeln^ S. 340. Nr. 928.
Dee Fuchs dee san kniffi,
D' Reh flüchti habaus,
Und da Bäar is grobgriffi,
Doh da Jaaga lacht s' aus.
J. A. Pangkofer, Gedichte in altbayerischer Mundart. N. F. Nürnberg
1854. S. 299. Sprüche.
231
Wohrzoachn.
An iads Bierhaus hot sein Hobelspon,
An iads Weinhaus hat sein Tanenzweig,
An iads Hütlerl, wo a Dirndl wohnt,
Hot durch n Wold sein Jagasteig.
ßosegger, Zither und Hackbrett S. 52.
Da Pfarr vagibt d Sünden,
Und s Bier giebt an Kraft,
Und d Lieb is für Leutln,
Wo jung san, daschafit.
Ganghof er bei Gundlach S. 29. Nr. 23.
Elsaß.
ABC Abt,
de Schulmeister gnappt,
der Profiser hinkt,
und d Schuelfrau stinkt.
Martin und Lienhart, Wörterbuch der Elsässischen Mundarten 1, 264.
Vogtland.
Halb und halb mogst mich scha,
Halb und halb net,
Halb und halb mog ich net:
Lieber gor net.
Dunger, Bundas Nr. 517.
Buhla.
De Bearr sein werlich net gereng,
Der Waald iis au voll höscher Deng,
A Frä, bear of den Bearenar stiit
Un of de Ruhl anäpper sieht.
Ludwig Storch bei Welcker, Dialektgedichte^ S. 198.
Nehlitz.
Mein Vater ist en Spitzbub,
Meine Mutter hat gestohlen,
Mein Bruder sitzt im Zuchthaus:
Und mich werdn se bald holen.
Adler, Volks- und Kinderlieder. Halle 1901. S. 25.
232
Westprenßen.
Verschlaf die Zeit, verlern das Denken,
Verändre nie dein Schafsgesicht,
Laß dich von jedem Ochsen lenken,
Und wenn er stößt, dann muckse nicht
Treichel S. 162.
Ostpreußen.
Altstadt die Macht,
Kneiphof die Pracht,
Im Löbnicht der Acker,
Auf dem Sackheim der Racker.
Frischbier, Preußische Volksreime. Berlin 1867. S. 269.
Lübeck.
Kalffleesch Halffleesch,
Hamelfleesch Damelfleesch,
Aber uppen Ossenbraden
MUtt man goode FrUnn inladen.
Schumann, Volks- und Kinderreime aus Lübeck S. 119. Nr. 457.
Niederländisch.
Eerst een raap,
Dan een schaap,
Dan een koe,
Zoo gaat het naar de galge toe.
Van Vloten, Nederlandsche Baker- en Kinderrijmen. Leiden 1874 S. 64.
Dänisch.
Vel föd, er vel en Trost,
Men bedre vel opdragen,
Vel gift, er Livers Lyst,
Vel död er heele Sagen.
Ord-Bog over Danske Ordsprog S. 113.
Englisch.
Hay is for horses,
Straw is for cows,
Milk is for little pigs.
And wash for old sows.
Northall S. 489,
233
Finnisch.
Marder fanget man mit Pfeilen,
Drosseln fanget man mit Dohnen,
Schnäpel fanget man mit Netzen,
Narren fanget man mit Worten.
Alt mann, Runen S. 156.
Tatarisch.
Der Krankheiten schlechteste ist die Gicht,
Der Hunde schlechtester die Hündin,
Der Pferde schlechtestes, das ausschlägt,
Der Weiber schlechteste, die sich (Jedem) giebt.
Radi off, Proben der Volksliteratur der nördlichen türkischen Stämme.
VI Der Dialect der Tarantschi-Tataren. St. Petersburg 1886. S. 1.
In den germanischen Sprachen scheint dieser Typus ver-
hältnismäßig etwas seltener vertreten, als in manchen andern,
im niederdeutschen, niederländischen, nordischen Sprachgebiet
seltener, als im ober- und mitteldeutschen. Feinere Wirkungen
erreichen hier besonders die romanischen und slavischen Impro-
visationen. Typus A und B sind oft schwer zu scheiden, z. B.
in dem Hausspruch aus dem Stubaiertal:
Trau nicht der Welt,
Trau nicht dem Geld,
•
Trau nicht dem Tod:
Trau allein auf den Gott.
von Hör mann, Haussprüche S. 88.
Oder in Stelzhamers Tanzl:
Koan Tag ahne Sunn,
Und koan Nacht ahne Stern;
Und koan Herz af da Welt,
Das koan anders hat gem.
Zwoa Fischerl im See,
Und zwoa Vögerl im Wald;
Und zwoa Leut, dö so gern ham,
Dö finden so bald.
Koan See ahne Wassa,
Koan Wald ahne Bam;
Und koan Nacht, wor i schlaf,
Yo man Schatz ahne Tram,
234
Leicht stellt sich statt der SteigeniDg der Gegensatz ein.
Da Wein is fUm Durst,
Füm Hungar a Wurst,
Und a Deandl zum Scherz,
Abam Weib ghört inei Herz.
Werle, Almrausch S. 219.
Daß d' Stiefel schean glonzn,
Deswegn gibts a Wix,
A Pulver für d* Worzn,
Fürs Podagra nix.
Greinz und Eapf erer, 2. Sammlung S. 13.
Oder die Steigerung bleibt absichtlich aus.
P. P. in een Gezelschap verzogt, om wat te uiten, ter eeren van vier
Brabantsche Steden, zeide:
Leuven zig met Drank verblyd,
Mechelen veel Zotten slyt,
Brüssel voert een grooten Staat,
Antwerpen heeft de Leepel-straat.
Opschriften 3, 3.
Typus C.
Schema:
Bus slahe wir der werlde trummen:
ein touber spottet ofte eins stummen,
ein alter töre eins jungen tummen,
ein lamer gickelt fif den krummen.
Mancherlei hast du versäumet:
Statt zu handeln, hast geträumet.
Statt zu denken, hast geschwiegen,
Solltest wandern, bliebest liegen.
Goethe.
Indisch.
Sapta^atakam Nr. 221.
Mittellateinisch.
Tres infelices in mundo novimus esse:
infelix, qui pauca sapit spernitque doceri,
infelix, qui recta docet, operatur iniqua,
infelix, cui nulla sui sapientia prodest.
Mones Anzeiger 3, 32.
235
Französisch.
De trois choses Dieu no gart:
c'est de bouchon de Lombart,
de et -cetera de notaire,
de quid-pro-quo d'apoticaire.
Mones Anzeiger 4, 464 aus einer Handschrift des 15. Jhs.
Languedoc.
Diou vous garde de tres caousos:
D'uno chambrieiro que se fardo,
D'un varle que se regardo,
D'un paour' repas que tardo.
Herrigs Archiv 43, 75.
Venedig.
Beim Liebsten mein man sieben Gebrechen findt:
Ist blind und lahm und hat nen bösen Grind.
Rechts ganz gelähmt ist auch der arme Tropf,
Und hat nicht Hals, nicht Beine und nicht Kopf.
Somborn S. 168. El mio moroso 'Iga sete difeti.
Piemont.
Tre cose a son mal goemä:
un osel a man a na masnä,
una dona ant le man d'un soldä,
e un caval ant le man d'un frä.
von Düringsfeld, Sprichworter 1, 155.
Spanisch.
El hombre para ser hombre
Nesesita tres partias:
Jaser mucho, jablar poco
Y no alabarse en su bia.
Marin, Cantos populäres espaüoles 4, 183. Nr. 6543.
Griechisch.
*r7tatvetv jxiv äptorov dfvSpl Ovaxcj),
dfiurepov 8h ^u^v xaX^v ^evl^dai,
T^ TpiTov 81 itXoüTeTv dSoXcoc,
xal To tetapTOv ^ßav jieTot tcdv (^(k(ay.
Bergk, Poetae lyrici 3 3, 1289,5,
23r>
Neugriechisch.
joupouvt So)ftexisEi)(Uf>o,
fjLOUAUtpc avpavTCb](Aepo,
xal imEXc xplfAa £vt.
noX{Ti)c, DapocfAiac 2,469. Nr. 2.
Macedonien.
icpitctc vd ^aao(ACf>i^9Q,
irpfnei dfoicpa vd &)&flEO]Q,
xotl vd {A^jv T« XojapcdoiQ.
Abbott, Mscedonian Folklore S. 940. Nr. 24.
Polnisch.
Mutnlenku, daj mnie za mi|z:
Albo mi ji( mitiu^ zawii^z,
Albo nitki^, albo lycskiem
Albo z portek kasalyczkiem.
Kpuirc«£Sca 3, 324. No. 39.
Südslavisch.
Svaka ptica ima kljun,
svaki öoban treba d£bun,
svakoj rupe' treba klin,
a djevojki ruimarin.
Kpuirrdda 6, 328. No. 54.
Lettisch.
Was für Wunder sah ich nicht,
Als im fremden Land ich war:
Huhn mit Brüsten, Schwein mit Hörnern,
Schafbock stand gesattelt da.
üllmann, Lettische Volkslieder S. 89. Nr. 280.
Aus der Bretagne.
Tri zoull e deux va mamm:
Toull ann tamm,
Toull ar bramro,
Ha toull ann hibil kämm.
Ans Wales.
Tri pheth y sy'n rhyfeddod mawr:
Cont yn dal dwr a' i phen i lawr,
Cala ' n codi ' phen heb asgwrn ynddi,
Twll tin yn cau heb un llinyn crychu.
Kpuirc«Eft(a 2, 266.
Kpuirn£(ia 2, 857.
237
Deutsch.
Ober-Bayern.
Und a Lieb ohne Freud :
Is a Wagn ohne Rad,
Is a Bam ohne Blatt,
Is a Bild ohnfe Gnad.
650 Schnadahüpfln. München. Verlag von Ph. Höpfner, s. a. S. 21.
BöhmeD.
Strodenitz.
Is koana im stand:
Dem Strodanetza fangt,
Dem Strodanetza reißt,
Oda gar außi schmeißt.
Hruschka und Toischer, Deutsche Yolkslieder aus Böhmen S. 315.
Egerland.
Mein schätz is a schmid,
e isenklopper,
e rechter flankierer,
,e madlfopper.
Die deutschen Mundarten, hg. von Frommann 5, 128. Nr. 9.
Tirol.
I han nix als a Häusl
Und a gescheckete Kueh
Und a Spinnradi und a Bettstattl
Und a Bettl dazua.
von Hörmann, Schnaderhüpfeln^ S. 30. No. 82.
Salzburg.
s Diendl hat sechs Sinn,
Den oan her, den oan hin.
Den oan auf, den oan a,
Den oan dort, den oan da.
von Hörmann^ S. 52. No. 149.
Niederösterreich.
I bi a Regrat,
Und i droch an Kabut
Und a Holzmizn auf
Und a greans Sdraißal drauf.
Pie deutschen Mundarten, hg. von Frommann 3, 389,
238
Steiermark.
Geht ma sunsten nix ab:
Wie - r - a MUhl und a Rad,
Und a Haus und a Feld,
Und a Dierndle mit Geld.
von Hörmann, Schnaderhüpfeln^ S. 30. No. 81.
Schwaben.
I weit i war gstorba
Und lag begraba in der Hell
Und alle Madien drinna wären
Und i der Ober-Gesell.
Welcker, Dialektgedichte » S. 74.
Appenzell.
Ond uus ischt mit meer;
ond mi Huus hed kä Töör,
ond Töör hed kä Schloß,
ond vom Schätzeli bin i loos.
Tobler, Das Volkslied im Appenzellerlande. S. 35. Nr. 68.
Elsaß.
Ich wollt, ich war im Himmel
und du im Paradis,
ich wollt, ich hätt einen Schimmel
und du einen Sack voll Lüs.
Martin und Lienhart, Wörterbuch der Elsäßischen Mundarten 1, 337.
Frankfurt.
Die Sachseheißer Weibercher
Die trage weiße Heiwercher,
Und tragen gele Schickelger
Un danze wie die Gickelcher.
M. Belli-Gontard, Sammelsorium der alten Frankfurter und Sachsen-
häuser Volkslieder, Geschichten und Redensarten. Frankf. a. M. 1875. S. 3.
Ähnlich in Darmstadt.
Vogtland.
Alles muß sei:
wie Tanzn und Geign,
ban Madel nei legn,
und de Zeit ze vertreibn.
Dung er, Rundas No. 408.
•239
Eifel.
Gott mög euch geben:
Lang hier zu leben,
Glückselig zu sterben
Und den Himmel zu erben.
Schmitz, Sitten und Bräuche, Lieder, Sprichwörter und Rätsel des
Eifler Volkes 1, 5. Neujahrsgruß.
Westpreußen.
Die Jagd, die Jagd
Bringt Hunger und Schmacht,
Zerreißt Strümpfe und Schuh,
Bringt Ärger noch dazu.
Treichel No. 157.
Siebenbürgen.
Wozu ist Geld doch gut ?
Wers nicht hat, hat nicht Mut,
Wers hat, hat Sorglichkeit,
Wers hat gehabt, hat Leid.
Hausinschrift zu Magarei bei Haltrich-Wolff S. 467.
Lübeck.
Ik wuU, de Dübel de weer dood,
Un ik weer in de Höll,
Un-t weern luter Jumfern dor,
Un ik weer Junggesell.
Schumann, Volks- und Einderreime aus Lübeck S. 163. No. 585.
Landen.
Dat sünd hoochbeente Jahm:
Dat Frohstück mutt man spaarn,
s Middags mutt man nich vel etn,
s Abens mutt mant ganz vergetn.
Wegen er, Volkstümliche Lieder aus Norddeutschland S. 216. Nr. 722.
Nordfriesland.
Gregöri :
Pluch uut Eerd böri,
Skeb ütj a Wal,
Hingster fan Stal.
Firmen ich, Germaniens Völkerstimmend, 2.
240
Niederländisch.
Sie vrienti dat dient gy wel te weten:
Een Duytsch kan drinken sonder eten,
Ben Engelschman eet sonder drincken,
Een Nederlander laet hem inschincken.
Er asm US over nederlandsche Spreekwoorden uitgeven door S uringar.
Utrecht 1873. S. 417, 43.
Dänisch.
Man kiender Klokken af sin Klang,
Hören af sin Gang og Sang,
Urten af sin Lugt, Traet af sin Frugt,
Men Skalken af sine Ord og Utugt.
Ord - Bog S. 336. Das Motiv lebt auch bei den Altajern und Telenten.
Radioff, Proben 1, 1. Freidank 82, 10. Zingerle S. 29.
Finnisch.
Nicht Musik erfreut den Tauben,
Bergesaussicht nicht den Blinden,
Runensänge nicht den Dummen,
Nicht ein freies Wort den Herrscher.
Altmann, Runen S. 6.
Esthnisch.
Melesta mello:
Unnusta und,
Pea mees meles,
Pea tanno peas.
Denk zu gedenken:
Scheuche den Schlaf,
Halte den Mann hoch,
Auf dem Haupt die Haube.
Neus, Esthnische Volkslieder S. 281.
Altajer und Teleuten.
Ohne Land giebts keinen Fluß,
ohne Gott giebts kein Volk,
ohne Kragen ist kein Pelz,
ohne Gesetz ist kein Volk.
Radioff, Proben 1, 6. Noch erkennbar ist die Zweiteiligkeit.
241
Ein Sechszeiler dieses Typus ist im Esthnischen gebildet:
Fünf auf Erden sind mißachtet:
Erst ein Sohn, der sonder Vater,
Dann die Tochter, die ohn Mutter,
Drittens der geringe Diener,
Viertens eine arme Waise,
Fünftens ein verwittwet Wesen.
Neus, Esthnische Volkslieder S. 194.
Auch das Pantnn wird sechszeilig.
Drei Verbote sind in meiner Betelbüchse,
Und ihnen mußt du folgsam sein;
Gewickelt sind sie in die Betelblätter:
Sprich nicht, wenns gilt zu handeln 1
Nicht müßig lieg im Zelte!
Verbirg dich nicht, wenns gegen den Feind geht!
Talvj, Versuch S. 73.
Noch lehrreicher ist eine esthnische Spnichform, die in ihren
Grundzügen auch von Hans Fol z zum Doppelpriamel verwandt ist:
Ekk olleks issa ilma rikkas,
Emma sidile seutud,
Welli piljautil petud,
S6ssarel sadda rahhada:
Kui temma ärrasurrekse,
Mahha jäeks issa ilma rikkus,
Emma seutud sidiksed,
Wenna piljautil piddetud,
Sdssari sadda rahhada.
•
War auch weltenreich der Vater,
Selbst von Seid umhüllt die Mutter,
In Brillanten gefaßt der Bruder,
Hätte Hundert in Geld die Schwester:
Setze, daß sie sterben müßten:
Bliebe zurück des Vaters Reichtum,
Hier der Mutter Seidenhülle,
Dieses Bruders Brillantenfassung,
Diese Hundert in Geld der Schwester.
Neus, a. a. 0.
Freiere Formen sind bei diesem Typus durch die von vorn-
herein festgelegte Disposition fast ausgeschlossen. Besonders
scheint feinere antithetische Durchbildung, wie sie das Italienische
liebt, als Regel den germanischen Beispielen abzugehen.
Euliny, Priamtl 16
242
Uamur commensa cun dulci parole,
L'amur finisce coi sospir de core;
L'amur commensa cun soni e can canti,
L'amur finisce cun sospiri e pianti.
Nigra, Canti popolari de Piemonte. Torino 1888. S. 578. Nr. 85.
San Pietros Kirchweih, die ist unser eigen,
Und wer ne Liebste hat, mag sie da zeigen.
Wer neue Hosen hat, der bindet sie,
Wer keine Liebste hat, der findet sie.
Somborn, Die Yillota S. 118.
Daß mehrere Typen kombiniert werden, ist keine Seltenheit.
Typus C wird öfter mit B verbunden.
Sama 's drei KeuschlasUhn:
Oana macht Zogglschin,
Oana macht Stifflwix —
Und i kan nix.
Werle, Almraosch S. 67.
Ähnlich ist W. Müllers Vers gebaut:
Jedem das Seine.
Recht für die Wachenden,
Glück für die Schlafenden,
Liebe den Träumenden,
Gnade den Sterbenden 1
Gedichte II 430. Nr. 32.
Auch italienische Beispiele sind vorhanden.
In mezo el peto mio tegno tre stele —
In meiner Brust trag ich drei schöne Ste'me:
Den Beppi nenn den treusten ja ich gerne.
Ob Nanas Treue kann ich auch nicht klagen.
Doch Toni muß allein die Krone tragen.
Somborn, Die Yillotta S. 140.
Me vogio maridar, no so co chi —
Will mich vermählen, weiß noch nicht wem :
Kommt Nane, möcht ich sagen wohl: mit Dem;
^ommt Toni, wink ich mit dem Aug ihm fein;
Kommt Beppi: daß du mögst gesegnet sein.
Somborn S. 157.
Typus B mit einem A entsprechenden Abschluß erscheint in
einem von Oreinz und Kapferer in ihrer 2. Sammlung S. 25
mitgeteilten Vers:
243
A Gans is a Vogl,
A Fux is a Viach,
Abe d' Katz is a Luada:
Mi graut, wenn is siech 1
Typus A und C schließen sich aus und können nur zum
Doppelpriamel zusammen geschoben werden, wie etwa in dem
finnischen Sechszeiler:
Wem der Liebe Lust beschieden,
Wem der Liebe Glück zu eigen,
Wem der Liebe Loos gefaUen :
Solcher kennt nur Scherz und Freude,
Jubel, Fröhlichkeit und Frieden,
Lachen, Heiterkeit und Wonne.
Altmann, Runen S. 27.
Oustav Meyer sagt einmal: „In feststehender Grundform
die größte Beweglichkeit, das ist die Signatur der Volksdichtung
überhaupt.^ Für keinen Zweig der Volkspoesie gilt das in höherem
Grade als für das Priamel, das in den engen Grenzen einer
Grundform sich eine schematisch nicht zu erschöpfende Mannig-
faltigkeit der Bewegung sichert. Eigentliche Improvisationsdichtung
ist ja im geselligen Leben der höheren Stände unsers Volkes
wenig entwickelt^). Wo sie auftritt, bestätigt sie den halb
mechanischen Charakter, der sich als Eigentümlichkeit der Impro-
visation herausstellte. Wir können darauf die Probe machen,
wenn wir die Trinksprüche des improvisationslustigen Hoffmann
von Fallersleben heranziehen. Auch bei ihm ist der Paralle-
^) Gervinus machte di^ treffende Bemerkung: „Man kann es be-
dauern, daß heute Niemand mehr einen Leberreim zu machen versteht,
aber man würde es einem schlecht danken, wenn er gute Leberreime in
Bücher sammeln wollte; so wie es überhaupt mit allem der Fall ist, was
mit dem Improviso eine Ähnlichkeit hat.^ Geschichte der deutschen Dichtung
2*, 504; aber er verkennt die Natur der Improvisation, wenn er meint:
„Das Gelegenheitslied wird leicht zum Vortrefflichsten; nur muß die Gelegen-
heit keine Gewohnheit sein, oder die Gewohnheit müßte freien Spielraum
in den Gegenständen lassen. So waren die Tanzlieder der Dittmarsen, wie
die der Kärtner, Tiroler und Schwaben, Volkslieder von mannigfacher Art
und Inhalt, und doch sieht man an dem späteren Gebrauche der Schleifer-
liedchen oder einzelner dazu benutzter Strophen aus anderen Volksliedern,
daß auch, diese Tanzpoesien aus ihrer ursprünglichen Neuheit und Mannig-
faltigkeit arm und stationär werden.*' 2^, 503. Ein gewisser Schematismus
ist vielmehr von Anfang an aller Volkspoesie eigen.
16»
244
lismus des Grundtypus A am häufigsten, z. B. im Trinksprach
auf Lessing und auf Martins. Dasselbe Motiv mit ümkehrung
zum Typus C verwendet Hoffmann im Spruch auf Rietschel:
Meist wird reichere Durchbildung angestrebt; die Verbindung
dieses Strebens mit Festhalten • des Typus A zeigt der Spruch
auf Franz Liszt. Der Steigerung des Typus B kommt ein
Spruch auf die Kunst naheJ) Endlich möge durch die Theorie
der Improvisation die Gesetzmäßigkeit der hier behandelten Formen
ihre Bestätigung finden. Die Grundlage der rhetorischen Impro-
visation sieht M. Langenschwarz (Die Arithmetik der Sprache
oder der Redner durch sich selbst. Psychologisch-rhetorisches
Lehrgebäude. Leipzig 1834 S. 231) in folgendem Verfahren:
„Indem wir ... die Verbindungspunkte aller Teilbegriffe unter-
einander in gerader Richtung nach dem Hauptgegenstande her-
stellen, und diesen dabei fortwährend zur Anwendung zu bringen
genötigt sind, erzeugen wir eine Kette der Ideenverflechtung,
bei welcher dem Zuhörer der Hauptgegenstand zwar bis zuletzt
als passendes Scblußglied aufbewahrt, und seine Aufmerksamkeit
spannend, bis zum Schlüsse unbekannt bleibt^), bei der aber
zugleich dieser Hauptgegenstand ihm allmählich in seinen Teil-
bildern überzeugend zur Anschauung gebracht, und dergestalt
durch denselben der Zweck der endlichen Hervorleuchtung eines
beabsichtigten Grundbildes steigerungsweise ^) erfüllt werden kann".
4.
Ehe wir den deutschen Priamelvierzeiler in seiner historischen
Entwicklung verfolgen, ist es angebracht, auf sein Vorkommen
in unliterarischen volksmäßigcn Gattungen der Poesie einen Blick
zu werfen, die sich historischer Entwicklung mehr als andre
entziehen; auf Priamelvierzeiler im Arbeitslied, Zauberspruch,
Segen, Wunsch, Gruß, Rätsel, Kinder- und Volksreim. Es werden
immer wieder nur typische Beispiele seiner mannigfachen Ver-
wendung herausgehoben und nichtdeutsche Varianten in der Regel
nicht herangezogen.
1) Weim. Jahrb. 5, 121 ff. 117. 126. 127. 130 f. 132. 137.
*) vergleiche Typus A.
3) darin ist die Tendenz zum Typus B ausgesprochen.
245
Die Ansicht, daß ursprünglich sicher jede Art von Dichtung
eine geistliche gewesen sei^), widerspricht den Tatsachen der
Ethnologie. Wie Körperbewegung, was eben Bücher unter
„Arbeit^ versteht, früher geleistet wird, als sich der Kultus
ausbildet, so wird Arbeitsgesang dem Kultgesang vorangegangen
sein. Auch die bildende Kunst tritt auf der niedrigsten Kultur-
stufe in der Begel unabhängig von der Religion auf^). Einen
lettischen Priamel Vierzeiler des Typus B, bei der Heuernte
gesungen, hat Leskien übersetzt:
Schön die Wiese, abgemähet,
Schöner noch, wenn abgeharket;
Doch weit besser macht es doch sich,
Wenn das Heu im Schober stehet 3).
Der üblichste Improvisationstypus (A) schlägt in einem
westfälischen Arbeitslied durch.
Eenen Pott un eenen Schief,
Sess Paar Lepels, krumm und scheef,
Eenen Rock, sess Elen wiet:
O wat fröde sick dat Lüt!
Eenen Kist un eenen Schrank,
Eene Tunnen ton Schwinedrank,
Twe ole Küssen, eenen Pohl:
Segge ji Lue, war dat nich veel*)?
Motiv und Inhalt dieser Verse sind in vierzeiliger Impro-
visation weit verbreitet*), ünliterarischer Kleindichtung gehören
ferner die Zaubersprüche^') an, die uns fast überall an den
*) Bruinier, Das deutsche Volkslied S. 50. Opitz, Buch yon der
Deutschen Poeterey S. 8 (Braune): „Die Poeterey ist anfanges nichts anders
gewesen als eine verborgene Theologie vnd vnterricht von Göttlichen sachen."
^ Grosse, Die Anfänge der Kunst S. 193. Preuß im Archiv für
Anthropologie hg. von Ranke und Thilenius. N. F. 1. (XXIX) S. 167.
3) Bücher« S. 241.
*) Bücher^ S. 91.
^) G. Meyer, Essays und Studien 1, 361 f.
^) Bücher« S. 272; „Wenn nun aber schon bei der gemeinen Arbeit
des täglichen Lebens Gesang und rhythmische Bewegung unzertrennlich ver-
bunden sind, wenn hier offenkundig diese Verbindung in zahlreichen Fällen
das Werk förderte, so müßte es uns fast Wunder nehmen, wenn man nicht
in dem Wortrhythmus selbst ein Moment des Gelingens, eine Art Zauber
246
Pforten der Literatur begegnen. Es liegt nahe, für Zauberformeln
im allgemeinen ein hohes Alter in Anspruch zu nehmen. Doch
darf man sich nicht verhehlen, daß Schlüsse dieser Art die
mangelnden äußeren Beweise für die Datierung eines bestimmten
Spruches in der Tat nicht ganz ersetzen können; in jedem Fall
ist Vorsicht geboten ^). Zauberformeln, die einen Priamelvierzeiler
darstellen, sind reichlich vorhanden. Halb automatischen Charakters
ist noch ein Zauberspruch gegen Schlaflosigkeit. Man spricht
in Hessen, sobald die Kühe abends von der Weide heimkehren:
Die erst' Kuh,
die zweit' Kuh,
die dritf Kuh,
geh mir doch die Nacht inei Ruh'!).
Schon im Atharva-Veda lassen sich alle Typen des Priamel-
Vierzeilers nachweisen; der Grundtypus A ist so häufig, wie
kaum ein anderes konstantes Versgebilde des Atharva-Veda.
Zum Beispiel:
Das Wasser ist heilkräftig, traun!
Das Wasser scheucht die Krankheit weg;
Das Wasser macht gar alles heil:
Das helfe dir von Xetriya^.
B
Schlafzauber.
Die Mutter schlaf, der Vater schlaf.
Der Hund schlaf und der Vater des Orts,
Es schlafen; die ihr sind verwandt.
Dies ganze Völklein schlafe rings ^).
erblickt und ihn auch da dem Bewegungsrhythmus gesellt hätte, wo man
das mit natürlichen Mitteln UnvoUbringbare vollbringen wollte.^ Jakob
Grimm, Deutsche Mythologie JI* 1023: „Alle Kraft der Bede, deren sich
Priester, Arzt, Zauberer bedienen, hängt mit den Formen der Poesie zu-
sammen.^ Preuß, Phallische Fruchtbarkeitsdämonen a. a. 0. S. 167.
Weinhold, Die altd. Yerwünschungsformeln S. 667. Wuttke, Der deutsche
Yolksaberglaube der Gegenwart' S. 185. Gummere S. 393.
^) Comparetti, Der Kalewala S. 255.
») Wuttke» S. 170.
3) Grill, Hundert Lieder des Atharva-Veda» S. 9. III 7, 5. Vergl.
S. 14. VI 91, 3 (Zeitschrift für Volkskunde 5, 7). Ebenso begegnen Verse
des Typus A: S. 19. 24. 31. 32. 33. 37 u. s. f. Oldenberg, Die Literatur
des alten Indien S. 41 ff.
*) Grill S. 51 i
247
C
Wiedergewinnung eines abspenstigen Gatten.
Dies Heilkraut grab ich aus: es zieht
Den Blick auf mich, zum Weinen bringts,
Zur Rückkehr treibts den Scheidenden,
Stimmt freundlich den Erscheinenden').
Vom Vorkommen des Priamelvierzeilers in den übrigen indo-
germanischen Sprachen wird hier, wo es sich nur um den deutschen
priamelhaften Vierzeiler handelt, abgesehen. Aus Natschbach
bei Neunkirchen in Niederösterreich teilte Nagl eine bemerkens-
werte Abart des zweiten Merseburger Zauberspruches mit. Die
epische Einleitung^) ist aufgegeben, der Spruch gereimt; man
verwendet ihn gegen die Auszehrung:
Fleisch und Blut,
Flachs und Glieder,
Mark und Bein:
Sollen so wenig schwinden wie dieser Stein ^).
Nagl vergleicht:
b^n zi bdna,
bluot zi bluoda,
lit zi geliden:
s5se gelimida stn.
umgekehrt stellt den Typus G dar:
Ich rate Dir vor Verrenkt:
Streich Ader mit Ader,
Streich Blut mit Blut,
Streich Knochen mit Knochen*).
Ein Zauberzettel, den man in Westfalen und in der Gegend
von Swinemünde am Halse trug, enthielt die Besprechungsformel:
0 Grill S.59.
^Koegel P 157. Schonbach, Studien zur Geschichte der alt-
deutschen Predigt 2, 123 ff.
^ Nagl-Zeidler, Deutsch-österreichische Literaturgeschichte 1, 58.
MSD3 2, 46 f. Ebermann in der Palaestra 24, 1 ff; besonders S. 23.
*) Westpreußen. Frischbier, Hexensprach und Zauberbann. Berlin
1870. S. 92. Bartels, Zeitschrift für Yolkskunde 5, 14. Ebermann S. 23.
Usener in den Hessischen Blättern für Yolkskunde 1, 2 ff.
248
Der Fuchs ohne Lungen,
Der Storch ohne Zungen^),
Die Taube ohne Gall:
hilft für das siebenundsiebzigsterlei Fieber alP).c
Die Formel kann sehr alt sein; schon das frühe Mittelalter
bezeugt die Vorstellung, die Taube habe keine Galle ^), und die
siebenundsiebzigerlei Krankheiten hat Kuhn bis in noch viel
ältere Zeiten hinauf verfolgt^). Zauberzettel und das Romanas-
büchlein fiberliefern unter vielen anderen Zeugen die Verse:
Glückselige Wunde,
glückselige Stunde,
glückselig ist der Tag,
da Jesus geboren war*). (Typus B.)
Verbreitet ist die Formel:
In allen Kirchen klingt es,
in allen Kirchen singt es,
in allen Kirchen wird das Evangelium verlesen :
Rose, du mußt sterben oder verwesen^).
Oegen die Rose, anschöt, richtet sich der niederdeutsche
Spruch:
1) Zingerle zu Vintler 8816.
^) Wuttke, Der deutsche Volksaberglaube der Gegenwart' S. 169.
Statt ,Fuchs' kommt die Variante: ,die Bienen' vor. Vergl. auch Heim,
Incantamenta Nr. 108 und S. 549. Falaestra 24, 143 f. Daß ein Rätsel
hier das Frühere und auf die Zauberformel von Einfluß gewesen sei, schließt
Ebermann S. 143 doch wohl nur aus der Form und infolge der irrigen
Voraussetzung, daß die Zauberformel jung sein müßte. Ebermann spricht
von einer schwer vorstellbaren „Verwechslung" des Zauberspruches mit dem
Volksrätsel, ohne an die Möglichkeit einer für beide ähnlich wirkenden
Formgebung zu denken.
3) Grimm, Freidank^ S. LXXXVI. Unsinn bei Wander 4, 1043, 46.
Interessant Renner 12204 ff. Uhland, Schriften 3,317, 157. Eine Be-
sprechungsformel gegen das Lendengeblüt (Rundas S. 282) beginnt mit der
sinnlos gewordenen Zeile: „Turteltaub ohne Gall" die von Dunger irrig
auf die Jungfrau Maria bezogen wird.
*) Kuhns Zs. 13, 128 ff.
s^) WuttkeS 172. Dunger Nr. 1447. Variante Alemannia 24, 174.
Losch, Deutsche Segen- Heil- und Bannsprüche Nr. 220. 269. Falaestra 24, 71 ff.
6) Wuttke 172 mit Variation. Ähnlich Zs. f. Volksk. 8, 201, 8. 5,18.
Dünger Nr. 1464. Zeitschrift für deutsches Altertum 21, 211. Falaestra 24, 139.
249
Anschöt ik wUl dik bespräken:
Du säst dik bräken,
Du säst nich mer huchern
Un säst nich mer puchern*).
Demselben Typus B, der nicht häufig auftritt, gehören
Formeln an wie:
Du sollst nicht kellen,
Du sollst nicht schwellen,
Du sollst nicht wehe tun.
Du sollst sachte tun^).
Eine Handschrift des 18. Jahrhunderts, aus Mockmühl
stammend, empfiehlt gegen Grimmen oder Kolik den Segen:
Ein alter Scheerenschopf,
ein alter Leibrock,
ein Glas voll rauten Wein:
Bännutter, laß dein Grimmen sein')!
In Westpreußen schöpft man, um sich die Treue des Ge-
liebten zu sichern, am Ostermorgen vor Sonnenaufgang drei Löffel
fließendes Wasser, trinkt sie aus und spricht:
Untergehn,
Auferstehn,
Immer treu,
Ewig neu*).
Gegen das Feuer der Schweine bedient sich die Volksmedizin
in der Grafschaft Buppin und Umgegend der Besprechung:
Hoch ist der Heben,
Kalt ist daneben,
Kalt ist die Totenhand:
Da bestreiche ich den Blei, den kalten Brand ^).
Das Spruchmotiv kommt schon bei Marcellus vor (Heim,
Incantamenta Nr. 114), Stoffgeschichtliches haben Beinhold
Köhler und ßolte zusammengestellt^). Von der 1656 zu Marburg
als Hexe verbrannten 72 jährigen Katharina Staudingerin wird
^) Andre e, Braunschweiger Volkskunde S. 304.
^ Zeitschrift für Volkskunde 7, 56. Ebermann S. 52 ff.
') Losch Nr. 38.
*) Wuttke^ S. 364.
s) Zs. f. Volksk. 8, 305 f. Variante Wuttke^ S. 172.
B) Kleinere Schriften 3, 558 ff.
250
ein Bettler- Gebet erwähnt, dessen Motiv ebenso mit dem latei-
nischen zusammenfällt
Der Himmel ist mein Hut,
Die Erde ist mein Schuh (oder Schurz),
Das heilige Kreus ist mein Schwerd:
Wer mich sieht, hat mich lieb und wert^).
Mit geriDger Variation benutzt den Spruch der ertappte
Felddieb in der Niederlausitz als Segen.
Der Himmel ist meine Hut,
Die Erde mein Schutz,
Unser Herr Christus ist mein Hort und Schwert:
Auf daß mich niemand sucht und begert^).
Genauer lenkt in das alte Motiv: summum caelum, ima terra,
medium medicamentum ein Segen gegen Verhexung von Mensch
und Vieh wieder ein:
Der Himmel ist ob dir.
Das Erdreich ist unter dir,
Du bist in der Mitten:
Ich segne dich vor das Verritten').
Wunderlich verkürzt scheint die Form des Spruches:
Voller Mond, grüner Baum,
Neues Licht, weißer Schaum:
Macht, daß meine 2^ähne nicht
Wütend, tobend werden^).
Ein Spruch gegen Maden, den man sich aber nur denken
soll, indem man stillschweigend zu einem Elettenstrauch geht
und einen Mauerstein in die Hand nimmt, lautet zu Neu-Buppin:
Klettenblatt ich würge dich,
Klettenblatt, ich würge dich,
Klettenblatt, ich lasse nicht eher los:
Bis das Tier die Maden ist los^).
1) Reinhold Köhler, Kl. Schriften 3, 560.
2) Köhler 3, 561. Zeitschrift für Volkskunde 10, 230.
3) Köhlers, 562. Hartmanns Gregorius 3106. Heinrich Witten-
Weilers Bing 33c, 8.
*) Gl eck, Lieder und Sprüche aus dem Elsenzthale. Bonn 1897.
S. 50. Dazu Dunger, Bundas S. 277. Nr. 1485.
s) Zeitschrift für Volkskunde 8, 308.
251
Meinert zeichnete einen Marsegen (Alpbeschwörung) aus dem
Kuhländchen so auf:
Ich lä mich heint wi Naechte,
Gott behitt mich vir Nochwersknaechte 1
Gott behitt mich vir dam laidige OIp,
Ar h6t a Kopple wi an Kolb.
Nun die Formel:
Olle Wasser wote!
Olle Baemer blote!
Olle Baege staige!
Olle Kiechespeitze meide ') !
Aufzählungen nach Typus A und G sind häufig^). Chronologisch
festgelegt ist ein Vierzeiler, der in verschiedenen alten Segens-
formeln wiederkehrt. Die Handschrift von Muri bezeugt ihn für
das zwölfte Jahrhundert in der Form:
Min buch si mir beinin,
min herze si mir steinin,
min houbit si mir stahelin:
der gaote sancte Severin der phlege min^).
Im Tobiassegen lautet er:
din herze si dir steinin,
din Ifp si dir beinin,
din houbet si dir stahelin:
der himel si der schilt din^).
») Meinert S. 44. Anderes bei Wuttke» S. 170. — Zeitschrift far
Volkskunde 6, 213. Mitteilungen der schles. Gesellschaft f. Yolksk. III
(1896) S. 25. Mitteilungen zur bayerischen Volksk. 1897. Nr. 4. S. 4. Vogt.
'; Heim, Incantamenta S. 559 (II 32); vergl. S. 545. Ebermann
S. 80 ff. Der Blutsegen von den drei Frauen. S. 95 ff. Drei Blumen.
3) MSD'^ 2, 287. — Es folge hier die Fassung der Denkm&ler:
In nomine domini,
daz heilige lignum domini
gisegine mich hüte
undendn unde obinani
min buch si mir beinin,
min herze st mir steinin,
min houbit si mir stahelin I
der guote sancte Severin
der phlege mini
Vergl. S. 285. 289. 290. 296.
*) MSD» XLVn 4, 45.
252
In mehreren Literaturen ist diese volksmäßige einreimige
Strophe entwickelt, z. B. im Keltischen^), im Cechischen^) wie im
Mittellateinischen ^).
*
Ebenso in einer Handschrift des 12 Jahrhunderts überliefert
ist ein Gedicht: Ad equum erraehet, das zuletzt Koegel am aus-
führliclisten behandelt hat^j. Der epische Eingang des Zauber-
spruchs ist hier zu einem mehrstrophigen Lied ausgewachsen,
dessen Schluß wohl die alte Formel durchblicken läßt.
Man gieng after wege, zöh sin ros in handon;
do begagenda imo min trohtin mit sinero arngrihte.
,Wes, man, gestü? züne ridestü?*
,waz mag ich riten! min ros ist errsehet/
,Nü ziuh ez da bi üere, tu rüne imo in daz ora,
drit ez an den cesewen fuoz: s6 wirt imo des errseheten buoz!
In Niederschrift vom Jahre 1405 ist der noch heute lebendige
Spruch bezeugt:
Cristus wart geborn,
Cristus wart verlorn,
Cristus wart wider fanden:
der gesegen dise wunden^).
Es sind immer nur die eigentlichen Heilsprüche, das Kern-
stück, das Becept, nicht Beiwerk, Eingang oder Erzählungen^),
was priamelhaft gebaut ist. Obwohl theoretisch nicht ausgeschlossen
ist, daß spätere Formentwicklung auf diese Sprüche eingewirkt
hat, ist es doch keineswegs unwahrscheinlich, daß sie uralt sind.
Das Formelwesen haftet seiner Natur nach in einer stetigen
>) S. oben S. 236.
9) Wiener Sitzungsberichte XXXIX 2, 656 ff.
3) Ebert, Allgemeine Geschichte der Literatur des Mittelalters im
Abendlande I^ 584. Die Sermones nulli parcentes. MSl)^ 2, 200. Vergl.
finnische einreimige Reihen. Comparetti, Der Kalewala 31. Über Tirade
und Laisse: Stengel in Grob er s Grundriß II* 77. Wolf, Über die
Lais S. 16, 269.
*) P 157 f. Ebermann S. 13.
^) Zeitschrift für deutsches Altertum 4, 577. Eb ermann S. 28.
*) Zs. f. d. Altertum 37, 261. Schönbach, Studien zur Geschichte
der altd. Predigt 2, 124. Pauls Grundriß IP 36. Oldenberg, Die
Literatur des alten Indien S. 41.
253
Überlieferung*). Das Zauberlied ist durch seinen Vortrag, den
Zweck, auf den es abzielt, recht eigentlich Spruch, seine Wirkung
gleicht der einer Formel. Es muß denn auch wie die Vedahymne
vollständig ohne Veränderungen und Auslassungen hergesagt werden:
fehlt ein Wort, wird eins verändert oder vergessen, so verliert
es seine Wirkung. Wenn ein Tietäjät sich dazu versteht, dem
Sammler einen Vers mitzuteilen, so läßt er dabei irgend etwas
weg, in der Überzeugung, daß jener den Spruch dann doch nicht
gebrauchen könne, während er für ihn selbst seine Kraft behalte ^).
Aber wir dürfen aus dem Vorkommen des Priamelvierzeilers in
den Zauberformeln nicht zu viel folgern. Trotzdem zwischen
Zauberspruch und Didaktik eine gewisse Verwandtschaft be-
steht^), ist es nicht möglich, das Priamel aus Zauberformeln
herzuleiten; denn die Priamelform ist beim Zauberspruch nicht
Gesetz. Daß aber diese Improvisationsform sich auch beim
Zauberspruch einstellt, spricht dafür, daß sie sehr alt ist.
Dem Zauberspruch und dem Segen verwandt sind impro-
visierter Wunsch und Gruß, nicht immer von einander zu
unterscheiden. Beim Wunsch ist das Vorwalten des Typus C
das natürlich gegebene, Kombinationen kommen vor, A ist nicht
häufig. Im Niedersächsischen Kinderbuch (Hannover 1872^ S. 394.
Nr. 82) hat Grote als Geburtstagswunsch den Vierzeiler (Typus A)
abdrucken lassen:
^) Uhland, Schriften 3, 255. Zs. for deutsches Altertum 37, 260 f.
Über die Funktion des Schlußverses: MSD^ 2, 45. SpÄte Beispiele S. 278.
Zur Metaphysik des Zauberspruches Wuttke, Der deutsche Yolksaberglaube
der Gegenwart 3 S. 168; „Was der Reim im äußeren Klange ausdrücken
will, das drückt sich hier in kernhaftcr Wirklichkeit aus, die innere Gleich-
stellung und Verbindung des äußerlich Unterschiedenen. Daß die Zauber-
sprüche so oft gereimt sind, ist nur eine andere Form derselben Anschauung.
So närrisch die Formeln im einzelnen auch klingen — und dieses Närrische
fällt zum Teil auf spätere Entstellung, — so liegt diesem Parallelismus,
dieser Real-Poesie des Gleichnisses doch die Ahnung eines tieferen Gedankens
zu Grunde, des Gedankens, daß auch unter der scheinbar wirren Zerstreuung
des vereinzelten Daseins durch alles Sein doch ein tiefer innerer Zusammen-
hang hindurchgeht
') Gomparetti S. 26 f. Ähnliches Verfahren hat, wie kaum bemerkt
scheint, auch deutsche Sprüche verstümmelt.
3) Gomparetti, Der Kalewala S. 291.
254
So viel Dorn dein Rosenstock,
So viel Haar dein Ziegenbock,
So viel Flöh dein Pudelhund:
So viel Jahre bleib gesund!
In der Grafschaft Glatz lautet dieser Wunsch:
So viel Domen ein Rosenstock,
So viel Haar ein Ziegenbock
So viel Flöh ein Pudelhund;
So viel Jahre bleib gesund *).
Die im Wunsch beliebteste Form des Typus C erscheint in
Schweizerischen Haussprüchen wie im Schnaderhüpfel.
Gott bewahr mit deiner Hand
Oberkeit und Vatterland,
Kirche, Lehrer, meine Friind,
Glaubensbruder und di Find. Affoltern^).
Segne Herr Mann, Weib und Kind,
Segne Haus und Hausgesind,
Segne die mir sind verwandt.
Anvertraut und sonst bekannt. Af foltern^).
Drum wünsch ich mar nix;
Als a lögadö Henn,
Gnueg Schmalz und gnueg Raosen
Und a Weiberl mordschen^).
Typus B verbindet sich in folgendem Wunsch mit C:
Ich wünsch Inen ein goldens bett.
Unten drunter rosenstöck.
In der mitt den heiigen geist.
Der mit Ine zum himmel reist ^).
^) Yolkmer, Einderreime,- Lieder und Spiele aus der Grafschaft
Glatz. Yierteljahrschrift für Geschichte and Heimatskunde der Grafschaft
Glatz 9, 39.
') Sutermeister, Schweizerische Haussprüche S. 13.
3) Sutermeister S. 14.
*) Sylvester Wagner, Salzburga Bauern- Gsanga. Wien 1847. S. 14.
Zum Motiv Meijer, Oude nederlandsche Spreuken. Groningen 1836. S. 104:
Een onledich wyf en legghende hinne hebben yele cakelens aen. von
Hörmann, Schnaderhupfeln» S. 355. Nr. 972.
^) Schleicher, Volkstümliches aus Sonneberg S. 92. Nr. 9.
255
Verbreitet sind humoristische Wünsche wie:
Ich wünsch dir e glückligs Neujahr,
E Bengele ufs Ohr,
£ Hewel uf der Kopf,
Bis daß s Bluet abtropft >).
Wenn die Schalknaben im Braunschweiger Land am Sylyester-
abend ihren Neujahrswunsch vergeblich gesagt haben, so wird
der Unzufriedenheit folgender Ausdruck gegeben:
Ik wünsche juch en siechtet niet jar,
Hunderdusend lüse up einen har,
£n kop vuU schörwe,
Un en ars vuU wörme*).
Haben Kinder in Lübeck mit dem Schießvogel Gaben ge-
sammelt, so lautet ihr Dank:
Jch wünsche dem Herrn einen goldnen Tisch,
Auf jeder Ecke einen gebratenen Fisch,
Und mitten daraaf eine Flasche Wein,
Das soll dem Herrn seine Gesundheit sein^).
Typus A und C verbinden sich auch in dem Nachtwächter-
wunsch:
Ich wünsch eich zum neuen Jahr:
So viel Stern am Himmel stehn.
So viel Reh im Walde gehn.
So viel Tropf lein Regen:
So viel Glück und Segen ^)1
„Goden dag, broder", beginnt ein Schäfergruß, den Uhland
nach Hallings Mitteilung abdrucken ließ*) — „Schön dank,
broder. — Broder, wat maken dine dinger? —
Hoch in lüften,
tief in klüften,
hinten über berg und tal:
da gehn die dinger allzumahl.
*) Martin und Lienhart, Wörterbuch der Elsässischen Mund-
arten 1, 410.
*) Andree, Braunschweiger Volkskunde S. 233.
3) Schumann S. 136. Nr. 566a. — Erk-Böhme III S. 114. Vogt.
*) W lehn er, Stundenrufe und Lieder der deutschen Nachtwächter.
Begensburg 1897. S. 69.
&) Schriften 3, 302. Dazu Bolte Zs. f. Volkskunde 7, 97, 210. 15, 166.
256
In Siebenbürgen begrüßen die Kinder den Frühling mit
folgenden Versen: t,.. . u r •
° Blomtchen af wiegen,
Blömtchen af stiegen,
Blömtche blä:
Dat fräj6r öß hk^)\
Ein Einderwunsch zur guten Nacht verwendet mittelalterliche
Volksliedmotive priamelhaft:
Ich wünsch gute Nacht:
Von Rosen ein Dach,
Von Zimmt eine Thiir,
Von Rosmarin ein Riegel dafür').
Wunsch und Liebesgruß vereint ein Vierzeiler des 15. Jahr-
hunderts, in dem das tiefe Gefühl einer Mädchenseele mit der
^ * Ich grüßen dich zuo drie stund,
min allerliebster: in. din rotten mund,
got grüß dich in din öglin klor,
got geh dir vil und guoter jor^).
Auch das Schnaderhüpfel kennt den Oruß:
Deandl i schick Dir an Gruaß,
A Pfandl vol Muas,
Schwarzkerschn drunta:
Deandl, schläfst oda bist munta*)?
Ein Tiroler Schnaderhüpfel veranschaulicht den als Rätsel
gewendeten Priamelvierzeiler.
Kimm her von der Vintl,
Häb a Köpf! wie a Hündl,
A Göschl wie a Goaß:
Jetz rät, wie 1 hoaß^).
>) Böhme, Kinderlied S. 216. Nr. 1067. SchtTster, Siebenbürgisch-
Sächsische Volkslieder, Sprichwörter, Rätsel, Zauberformeln und Kinder-
dichtungen. Hermannstadt 1865. S. 338. Nr. 62.
«) Böhme S. 111. Nr. 488. ühland, Schriften 3, 360. Aufseß und
Mones Anzeiger 3, 290 f. Ernst Meyer, Die gereimten Liebesbriefe
des deutschen Mittelalters. Marburg 1899. S. 31. Ritter, Altschw&bische
Liebesbriefe. Graz 1898. S. 113. 68. 77 ff. Birlinger und Crecelius,
Wunderhorn 2, 312. Bolte zu Treichel, Volkslieder und Yolksreime aus
Westpreußen S. 117. Schumann S. 6. Nr. 726. ßeinle Nr. 101.
3) Mones Anzeiger 3, 290. Meyer, Liebesbriefe S. 87 f. Ritter,
Altschwäbische Liebesbriefe S. 67 ff. 111 ff.
^) Werle, Almrausch S. 335, als Gaßlspruch verwandt.
^) Yon Hörmann, Schnaderhüpfeln^ S. 361. Nr. 990.
257
Obwohl das Bätsei an sich mit dem Priamel keineswegs
zusammenfällt ^), so erscheinen doch die Improvisationsformen des
Priamelvierzeilers auch im Bätseivers und Bätseilied ; werden doch
auch diese heute noch improvisiert, wenn in den Anrollnächten
Salzburger Burschen Bätsei in die Häuser hinein, die Hausbe-
wohner heraussagen^). Von einer Schäfersfrau aus Sietow stammt
folgendes Bätsei: _.. , u ui
° Ein dorn ohne blum,
ein brot ohne krum,
ein Spiegel ohne glas:
rats, meine herren, was ist das?
Qemeint ist die Dornenkrone Christi, eine Oblate und
Christi Augen ^). t> . i. . ^ - . , r.
° ' Dat altyt roert en niet en leeft,
£n milde es en niet en geeft,
En vroemis sonder manlike daet:
Wat is dat, ghi gheselle, nu raet*).
Kein Typus erscheint häufiger. Noch einige Beispiele vom
Oberrhein: Vome wie e Kamm,
Mitte wie e Lamm,
Hinne wie e Sichel:
Roth jetz, lieber Michel.
Klein wie Kümnel,
Blau wie der Himmel,
Grün wie Gras:
Rath, was ist das^)?
Die Art des Abschlusses bei diesem Typus ist mannigfaltig.
Voen a Hackle,
Ai der Meitt a Packle,
Heindeneimm an Fonnestiel:
Seche Deinge seyn goer viel^).
*) Natürlich spricht dagegen kein Beispiel wie das von Bolte in
Köhlers Kleineren Schriften 3, 538 (Nr. 60) mitgeteilte. Das ist weder
R&tsel noch Priamel, sondern willkürliche Auflösung eines Priamels mit
Verzicht auf alle organische Form. Pfeiffer, Germania 1857 S. 147 f.
Diutiska 1, 325. Zeitschrift für deutsche Philologie 9, 194 f. Göttinger
Beitrage 2, 18. Heidelberger Handschriften 2, 35.
») H. F. Wagner, Das Volksschauspiel in Salzburg 1882 S. 4.
') Wossidlo, Mecklenburger Volksüberlieferungen 1 Nr. 407c.
*) Matthaeus, Veteris aevi Analecta I, 66b (ed. secundae. Hagae-
Comitum 1738).
*) Mones Anzeiger 7, 262, Nr. 186. Nr. 183.
- «) Meinert S. 288. Nr. 29.
Euling, Priamel H
Oder:
258
So hoch wie a Haus,
So klein wie a Maus,
So bitter wie Gall:
Das esset Herre und Edelleut all *).
Erst weiß wie Schnee,
Dann grün wie Ellee,
Dann roth wie Blut:
Schmeckt allen Kindern gut').
A runt Jackl,
A schwärz Kappl,
A Bouch foll Schtain:
Was maag das sain')?
Bisweilen fehlt alle VerbinduDg.
Mann ohne mutter,
pferd ohne futter,
feuer ohne hitz,
türm ohne spitz ^).
Selten läßt sich die steigernde Improvisation verwenden, wie
etwa in dem genrebildmäßigen Bätsei auf das Butterfaß:
Nu ward dat dach, dat wunnert mi,
ik mööt up, du sasst unner mi,
mit den Stangen stöker ik di,
dat di de noors wuppelt, un dat hoegt di^).
Umkelirung der Hauptform bietet das Bätsei auf die Kelch-
blätter der Hundsrose:
Fünf Bruder in einer Nacht geboren:
zwei hatten Bärter, zwei waren geschpren,
und einer von derselben art
hatte nur einen halben Bart^).
Unsere typischen Improvisationsformen beherrschen das Kinder-
lied und den Volksreim in Deutschland überall. Schon unter
den oben zusammengestellten Vertretern der einzelnen Typen
') Meier, Volkslieder aus Schwaben S. 72.
3) Meier S. 74.
3) Peters, Yolkstümliches aus Österreich. Schlesien S. 121. Nr. 346.
Auflösung: die Hagebutte.
*) Wossidlo I Nr. 407a.
») Wossidlo I Nr. 73. Vergl. 71 ff.
«) Wossidlo I Nr. 155a.
259
befanden sich Volksreime. Ein Baseler Einderlied bezeichnete
Maehly ohne weiteres als Priamel.
Schmid ohni Schmitte,
Der Hafner ohni Hütte,
Der Miller ohni Relle,
Sind die drei ärmste Gselle^).
Ennstlos bleiben Improvisationen wie:
Das Dörren im Herbst,
das Trocknen im Winter,
das Backen im Ustig,
dunkt d' Husfrauen lustig^).
Die Form wird meist freier gehandhabt.
Nigel nagel neus HUseli,
Nigel nagel neus Dach,
Nigel nagel neus Schätzeli;
dem alte guet Nachtat
Bute, bute haie:
's Rüehli goht in Maie,
's KUehli goht im lange Gras,
's Maiteli het e Schaudemas^).
Adolf heiß ich,
die Hosen zerreiß ich,
die Nüss zerbeiß ich,
und sonst nichts weiß ich').
Strengere Form des Typus G ist vertreten durch einen
Vierzeiler, den Bochholz nnter die Spieltexte zu Tageszeiten
gestellt hat.
S' lUtet Mittag:
d' Herre i's Grab,
d' Buebe i's Wirtshus,
d' Maidiene i's Zucherhus^).
') Baseler Kinder- und Yolksreime S. 63.
*) Rochholz, Deutscher Glaube und Brauch 2, 114. Inschrift am Ofen.
') Reinle Nr. 110; mit abweichendem Schluß als Schnaderhnpfel hftufig.
^) Baseler Kinder- und Yolksreime S. 11.
^) Rochholz, Alemannisches Kinderlied Nr. 741. Variationen un-
gemein verbreitet.
^) Alemannisches Kinderlied S. 188. Nr. 326.
17»
260
Tobler gibt die Variante:
Es Itttet Mittag:
de Herren i's Grab»
de Bueben i d' Schuel,
de Meitschene i' Bichtstuel ').
Kinderreim und Schnaderhüpfel berühren sich wieder in
folgendem Spruch des Typus B:
S' ist nit alls an eim paar Hose,
s' ist nit alls an eim paar Schuch,
s' ist nit alls an der Hübschi gl^e:
s' ist au viel am ordelig-thne *).
Schnaderhüpfel verwenden das Motiv:
Is mer nix um en Kreuzer,
Is mer nix um a Geld,
Is mer nix um a Diendl:
Gibts mehr af der Welt^).
Mir is nix um 'n Reichtum,
Mir is nix um 's Geld,
Und a liebs feins Herzel
Is mir's Liebste af der Welt^).
Ein Kinderreim aus dem Lechtal bei Brixlegg lautet:
A schottener Bohrer,
A gusseisener Stoan,
Statt Papier a Sagmeahl:
Wie kannt dös schoan^)?
An den bekannten Kinderbackspruch erinnert das Tiroler
Schnaderhüpfel:
A Kistn voll Kloabim,
A Truchn voll Meahl,
And a Schmalz: nacher bachn wir
Uens Krapfen goldgeal').
^) Schweizerische Volkslieder 2, 227.
«) Rochholz S. 314. Nr. 746.
8) Pogatschnigg und Herrmann 1», 108. Nr. 521. Vergl. 1, 327.
Nr. 1427.
*) A. a. 0. 1, 148. Nr. 671. Vergl. Böhme, Kinderlied S. 108 f.
Nr. 476. 480.
^) Zeitschrift für österreichische Volkskunde 2, 103. Nr. 126.
') Greinz und Kapferer, 2. Sammlung S. 48.
261
Das Elsaß ist reich an Priamel-Beimen. Z. B.
Min Schatz isch von Adel,
Heißt Anne Marie,
Hett hiheri Wade
Un glesseri Knie^).
De Jnmfere Maier
Het viel Hühner und keine Eier,
Viel Rewen und keinen Win:
Wer, Dühenkers, wott doch Maier sin^)l
Ober fünfhundert Jahre im Elsaß geläufig ist der Wirt-
scbaftspruch:-
Wer im HoUmachet nit gawelt
Und in der Eme nit zawelt,
Und im Herbst nit frttej ufsteht:
Der kann luejen wie 's ihm im Winter geht^).
In ganz Deutschland verbreitet sind Abzählreime wie:
Ich und du,
Unds MüUers Kueh,
Unds Becken Stier:
Sind unsere yier*).
Nur leise angedeutet ist bisweilen in Haussprüchen der
Typus B. Ein Züricher vom Jahre 1655 lautet:
Der lentz bringt, das der vogel singt.
Der sommer, das aUes vorher springt.
Der herpst gibt, das man sich emehrt,
Der winter hilfft, das man verzehrt^).
Allgemein verbreitet ist der analog gebaute Haussegen:
Des Morgens denk an deinen Gott,
Des Mittags iß vergnügt Dein Brot,
Des Abends denk an deinen Tod,
Des Nachts verschlafe deine Not.
Nach Mitteldeutschland möge uns ein Weihnachtspruch
führen, den Kinder zu Landwust singen.
*) Martin und Lienhart,W örterbuch der els&ssischen Mundarten 1 , 833.
^ Ebenda 1, 176.
^ Ebenda 1, 179. 193.
«) Ebenda 1, 129.
^) Sutermeister S. 32.
262
A Pfitfil um Rcftnia
imd a Boibel zon Kleidn,
and a Kinkel xon Klingn:
wirds BoffiikiiiDcI bnogoi').
Eioen Bochlitzer Spielreim hat Z schalig aufgezeichnet.
Ron, ndl, nill:
Mä Dabb is Toll«
Mä Baach is ker,
Ificli hangert schr^.
Dem altenglischeD ,Samer is icnmen in^ ist der Jahreszeit-
reim ans Bochlitz verglichen:
In Smmner ist es oo so bibsch:
Da blakt das liewe Vieh.
Da habbt dr Bo^, da springt das Schwein,
Un bäsdn oo de Kih^.
Als Pappentanzlied sind folgende Verse aus Darmstadt
überliefert:
Hessenlander Weiberchen
Haben runde Häoberchcn,
Haben hohe SchökelGlien,
Tanzen wie die Kickelchcn*).
Die siebenbürgische Mutter tröstet ihr Kind am Winterabend
mit dem schönen Spruch:
wol fläjen de wnlkcn,
wol saosxt der wäint«
wol staewen de flohen ämeräink:
scfal6f nor, schlof nor, me goldig käint^)!
0 Dnnger, Kinderlieder S. 194. Nr. 1049. Über das Alter der
Weihnachtsfeier Mogk in der Sächsischen Yolksknnde S. 278. Yogt,
Weihnachtsspiele S. 91. 130 ff. 146. 299.
*) Bilder and Klänge ans der Bochlitzer Pflege. Leipzig nnd Dresden
1903. S. 106.
3) Zschalig, Bilder S. 9.
*) Anch anf die Sachsenhänser gemünzt. Siehe oben S. 238. Drosihn-
Polle S. 65. Nr. 98.
^) Schuster, Siebenbnrgisch- Sächsische Volkslieder S. 323 Kr. 6.
Mejer, Deutsche Yolksknnde S. 121 giht den Spruch irrtumlich als nord-
iriesisch.
268
Häufiger ist die ümkehrung C:
Schlof, Kinnel, schlof:
dein Voter is a Grof,
dein Mueter is a Edelfra,
dein Kinnermad sein Schätzela *).
Aus Sonneberg:
Schlouf, büüwla, schlouf:
Dei fatter is a schouf,
Dei mutter is a meerkatz,
Dun bist a kleener draakbatz').
Der bei fast allen mitteleuropäischen Völkern wiederkehrende
Maikäferspruch verfährt technisch genau so wie das Wiegenlied.
Maikäfer flieg:
Dein Vater ist im Krieg,
Dein Mutter ist im Pommerlandi
Pommeriand ist abgebrannt 3).
Ebenso der Kasseler Kinderreim, der elterlicher Züchti-
gung gilt:
Ach, du liebe Zeit:
Wie ist die Welt so weit.
Wie ist mein Rock so eng,
Und meine Mutter so streng^)!
Aus dem Erzgebirge stammt der Einderreim:
Hemmbengl,
Zuckerstengl,
Sympfieß:
Dei Mutter siehts^).
*) Dünger, Kinderlieder S. 58. Nr. 6. Treichel S. 117. Marriage,
Volkslieder aus der badischen Pfalz S. 375. Nr. 278 und S. 390.
') Schleicher S. 95. Nr. 15. Eine Amme singt diese Zeilen dem
Kinde des Herzogs Georg, der die Sängerin dann einmal durch die Be-
merkung erschreckt, sie gebe doch eine seltsame Beschreibung seiner
Familie. Schleicher S. 96.
3) Lewalter-Eskuche, Hessische Kinderlieder. Kassel 1891. S. 60.
Nr. 163.
*) Böhme, Kinderlied S. 119, Nr. 537.
^) A. Müller, Volkslieder aus dem Erzgebirge. Annaberg 1883.
S. 178. Nr. 8.
264
Auf unnütze Fragen des Kindes antwortet man im Vogtland:
Was? — ein alts Faß.
wenns regnet, wirds naß, ^
wenns schneit, wirds weiß,
wenns friert, wird Eis').
Echten Improvisationscharakter verraten niederdeutsche Volks-
und Kinderreime in Formen des Priamelvierzeilers. Ein Holz-
hacker bei Parchim improvisiert nach einem Gespräch ein Verschen
über die UnvoUkommenheit der Welt und seines Holzmaterials').
Hinter dem Trunkenen wird in Lübeck gerufen:
Höh, höh, höh:
De Keerl het en Floh,
De Keerl is besapen,
De Büxenklapp steiht apen^).
In Mecklenburg sagt man bei Sonnenuntergang:
Wenn de sünn so tickert.
Wenn de sttnn so mickert.
Wenn se upn gläden steiht:
Denn se bald ttnner geiht^).
Auf die Frage nach dem Hunde wird geantwortet:
Wenn uns oll tiff 'n köter wir,
un denn noch 'n beten gröter wir,
un'denn noch 'n beten bunt:
denn wir't 'n snakschen hund^). ^
Dem zuletzt beim Maikäferspruch beobachteten Verfahren
folgt der Braunschweigischo Neckreim:
Johann I spann an:
De Katte voran,
Den Kater vorup.
In de Fore herup*).
>) Dunger, Kinderlieder S. 124. Nr. 172.
>) Siehe oben S. 220.
^ Schninann, Volks- und Kinderreime aus Lübeck und Umgegend.
Lübeck 1899. S. 77. Nr. 292 b.
*) Wossidlo, Das Naturleben im Munde des Mecklenburger Volkes.
ZfVkde 5, 425.
s) Wossidlo 1, 11. Nr. 20.
^) Neckreime gesammelt yon Otto Schütte im Braunschweigischen
Magazin hg. yon Zimmermann 3, 205. Hildebrand im DWB 5, 283.
265
Wenn einer bei dem (schon im 12. Jahrhundert durch
Steinmetzzeichnungen im Wormser Dom bezeugten) Mühlenspiel
eine Mühle gewinnt, lautet der. Spruch in Niedersachsen:
Stripp strapp struU:
Mine Möl is vull,
Mine Mole gabt,
Dine Mole staht>).
Am Michaelistag heischen Qütersloher Kinder Gaben mit
dem Vers:
Wenn de Fru na Kerken gebt,
Wenn de Rock in Faulen steht,
Wenn de Kamern knappet:
Giäwet US docb n paar AppeP)!
In Ibren,
war alle Swiene gieren,
war de Kalfer blarren,
war de olde Wiefen gnarren.
singt man in Ostfriesland 3).
Als Inschrift erscheint dort der alte Vers:
De warbeit is to bemmel gbetogen,
en de trouwe is over dat wide meer gbeflogben,
de gerecbticbeit is allentbalven verdreven:
de vntrouwe is in de werldt gebleven^).
Gebräuchlich ist der Priamelvierzeiler als Inschrift überall.
£ine vom Jahre 1681 datierte Wirtshausinschrift aus dem Moll-
tal beruht auf einem Spruch des 15. Jahrhunderts:
Ein Gast, dem ein Wirtb gütlicb tbut
Und der dann zablt mit bösem Gut
Dem Wirtb, der ibm fUlit seinen Balg:
So ist der Gast ein arger S<ibalk^)l
»)Dro8ihn-Polle S. 125. Nr. 306. Weit verbreitet. Vergl. zur
Struktur den Rocblitzer Spielreim oben S. 262.
«) Drosihn-Polle S. 152. Nr. 394. Vers 2.
^ Globus 26, 108.
*) Inschrift von Oldersum 1580. Globus 75, 386.
») Falck, Inschriften S. 84. Göttinger Beitr&ge 2, 61. Nr. 32. Die
moderne Fassung schulmeistert die Stilistik des mhd. Spruches.
266
Ein noch älterer Spruch, aus dem 14. Jahrhundert, steht in
folgender Form an einem Hause in der Nähe von Brixen:
Beichten ohne Reu,
Lieben ohne Treu,
Beten ohne Innigkeit:
Sein drei verlorne Arbeit').
Ein halbes Jahrtausend alt wird auch wohl in der Haupt-
sache die Aufschrift an einem Hause in Kärnten sein:
Ein Schneider auf einem Roß,
Ein Jud auf dem Schloß,
Eine Laus auf dem Grind:
Sein drei stolze Hofgesind^).
In Innsbruck liest mau an einem Hause:
Weiße Raben, schwarzer Schnee,
Keusche Jungfern, blauer Klee,
Treue Freunde in den Nöthen:
Sind die größten Raritäten 3).
An einem Hause am Starnberger See:
Geh ohne Stock nicht durch den Schnee,
Geh ohne Steuer nicht zur See,
Geh ohne Gottes Gruß und Wort
Niemals aus deinem Hause fort^).
Ein Spruch des T^pus B von Rosegger ist in verschiedenen
Gasthäusern der Steiermark angebracht zu finden.
Der Adam hat d'Liab aufbracht.
Der Noah den Wein,
Und der Davidl 's Zithemschlagn :
Muß a Steyrer gwest sein^).
Ein Schwäbischer Ofenspruch lautet:
Goldgelb im Beutel,
Grasgrün auf dem Feld,
Leibfarb im Bett:
Das sind drei Stück, die jeder gern hätt®).
*) Marterl, Votivtafeln, Grabschriften, Feldkreuze, Leichenbretter,
Haassprüche etc. Gesammelt von mehreren Touristen. 2. Sammlung. München,
Schupp, 0. J. S. 14.
«) Ebda. S. 12. 3) Ebda. S. 9. *) Ebda. S. 13. *) Ebda. S. 9.
^) Aus der Gegend von Calw. Alemannia 4, 244. Nr. 56.
267
Reich an Inschriften ist besonders Siebenbürgen.
Die Alten sollen die Jungen lehren,
Die Jungen sollen auf die Alten hören,
Einer soll den anderen ehren:
Alsdann wird uns Gott vermehren^).
Eine drastische Verwendung findet der Priamelvierzeiler als
Bilderreim:
Tot Rotterdam op een Tappers Deur daar een
Aap een Kat en een Molen op geschildert stönd:
DEzen Aap en kan niet luizen,
Deze Kat en kan niet niuizen,
Deze Molen kan niet malen:
Die hier komt drinken rooet betalen of anders mag hem de Drommel halen ^ ) !
Nicht minder beliebt ist der Vierzeiler als Ortsreim.
Wer durch Hoflfe {= Hoffenheim) geht ungfoppt,
Durch Zuzehause ungschpott.
Durch Mcckse («= Meckesheim) unn Mauer ungschlage :
Der kann von Kunscht unn Wunner sage').
Elsaß.
Ze Thann im Range,
Ze Gebwiller in der Wanne,
Ze Türkheim im Brand:
Wachst der besti Win im Land*).
Drei Schlösser auf einem Berge,
Drei Kirchen auf einem Kirchhofe,
Drei Stadt in einem Thal:
Ist ganz Elsaß überall^).
An ehrlichs Geblüet
Und an aufrichtigs Gmiiet
Und an Herzerl a treus:
Das is d' Salzburger Weis^).
*) Hausinschrift zu Honigberg. Haltrich-Wolff S. 448.
^ Opschriften 1, 10.
') Gl eck, Lieder und Sprüche aus dem Elsenztale. Bonn 1897. S. 45.
!Nr. 33. In zahllosen Variationen fast überall verbreitet. Beispiele des
15. Jahrhunderts: von Düringsfeld, Internationale Titulaturen 2, 41.
*) Die deutschen Mundarten 3, 13. Weinspruch.
^) Stob er, Sagen des Elsasses S. 102. 113 f.
«) von Hörmann, Schnaderhüpfeln^ S. 357. Nr. 978.
268
Das Ausseer Salz
Und das bergrische Schmalz
Und der steierische Wein:
Macht die Diendlan so fein ').
Bayreuther Gebot,
Selber Brod,
Thiersteiner Bier:
Währt nur a Wochner vier*).
Adorf, Brambach, dazu Schöneck,
Milau, Treuen und Langefeld,
Oelsnitz, Plauen und Elsterberg:
Sind 9 Bier, ist keins ehrenwerth').
Typus R und C fehlen auch in dieser Verwendung nicht.
In Lauterbach hamm se kann Pfarrer mehr.
Und af der Kerch hamm se kann Thorm,
Af de Wochen do gieht der Schulmaster fort,
Und der Nachtwächter is scha gestorbn*).
Von Schemnitz das Silber,
Von Bleiberg das Blei,
Von Oestreich das Diandle,
Von Kartn de Treu»).
Drubn der Grti
hamm se böse Knie,
hamm se Grindle dra,
machen se Supp drva^).
Ebenso wenig genau bestimmbaren Alters wie die meisten
Volksreime dieser Art, die nicht auf bestimmte Begebenheiten,
Personen oder Zustände zielen, sind auch Weidsprüche. Zum
^ * Ein schläferiger Jäger und verdrossen,
Ein trabender Leit-Hund ungenossen,
Und ein zeltender Wind:
Das sind eins Herrn sein unnützes Hof-Gesind|[).
») Pogatschnigg und Herrmann 1', 382. Nr. 1786.
«) Dunger, Eundas S. 241. Nr. 1285; vergl. Nr. 1286.
») Dung er S. 242. Nr. 1287.
*) Dunger S. 241. Nr. 1281.
*) Pogatschnigg und Herrmann 1', 384. Nr. 1797.
«) Dunger S. 240. Nr. 1276.
^) Döbel, Eröffnete Jäger-Practica oder Der wohlgenbte und Erfahrne
s:er (Leipzig 1746) 3, 158. Köhler, Kleinere Schriften 3, 452 ff.
269
Noch vielfach läßt sich der Priamelvierz^iler aus Volks-
liedern ausscheiden, deren Unterlage er bildete^). Ich wähle
einige Beispiele aus Meiers Schwäbischen Volksliedern. In dem
Lied: Du bist mein (S. 94) sind die drei letzten 10 zeiligen
Strophen aus Vierzeilern aufgebaut; der zweite ist zweimal ein
Priamelvierzeilbr.
Keine Schöne krieg i nit,
Keine Wtlste mag i nit,
Und ledig bleib i nit:
Was fang i an?
Dreimal ist gar nit viel,
Sechsmal ist noch so viel,
Siebenmal muß au voll sein:
Schatz, du ghörst mein.
Die Liebesbeteuerungen folgen gern dem Vierzeilerschema.
So lang die Felsen tragen Reben,
Und darin fließt der rote Wein,
Und so lang Gott mir schenkt das Leben,
So lang sollst du mein eigen sein').
Oder:
Und so lang das Wasser fließet
Und die Felsen tragen Stein,
Und so lang das Feuer brennet
SoUst du Schatz mein eigen sein').
Mehrere Fassungen dieses vagabondierenden Vierzeilers sind
von der Volkslyrik in Goethes „Kleine Blumen, kleine Blätter",
„die anmutigste Blüte der deutschen Änakreontik" eingeflochten,
wie Erich Schmidt gezeigt hat^).
Zum Schluß möge je ein Beispiel der drei Grundtypen er-
wähnt sein, das uns die Entstehung neuer Priamelvierzeiler aus
unmittelbarer Improvisation noch einmal gleichsam mit Händen
greifen läßt. „Einer unter uns", berichtet Olearius, „indem er
der Mußcowitischen Bussen Arth, Leben und Wesen anschaute
und betrachtete, beschriebe es kürzlich mit folgenden Beimen:
') Zur Sache Strack in den Hessischen Blättern für Volkskunde 1, 59.
2) Meier S. 98. ^) S. 99.
^) Charakteristiken 2, 177 ff. Dazu Kopp in der Zeitschrift für
Volkskunde 12, 38 ff. Nr. 7. Euphorion 11, 513.
270
Kircheoi Bilder, Creutze, Glocken,
Weiber, die geschminkt als Docken,
Herren, Knoblauch, Brandtewein:
Sind in Mußcau sehr gemein^)«.
Es ist das Versehen, das Schiller sich in den CoUectanea
zum Demetrius aufschrieb^).
Minister Bosse erzählt aus seiner Jugendzeit, die Knaben
hätten auf ihre Lehrer folgenden Schulreim gemacht: '
Thieme ist ein guter Mann,
Kleinert, der geht auch noch an,
Scharfe ist ein Kribbelkopp,
Mahleke hängt die Jungens opp^).
Weihnachten 1903 improvisierte ein Berliner Straßenverkäufer,
der zwei kleine weiße Mäuse aus Blech, eine farbige Messing-
stange fortwährend herauf und herunter laufend, anpries:
Een Sechser de laufende Maus:
Det kleene Aas macht fom Daler Spaß,
Looft von Berlin bis nach Wien,
Ohne Petroleum und ohne Benzin.
5.
Der deutsche Friamelvierzeiler bis zum 16. Jahrhundert.
Will man den Friamelvierzeiler als Grundlage des klassischen
Priamels erkennen, so wäre eine Beschränkung unzweckmäßig,
die etwa vor dem 15. Jahrhundert halt machte: man muß weiter-
greifen, wenn das richtige Gesamtbild entstehen soll. Für die
Mitte Deutschlands bleibt die Überlieferung des vor-Bosen-
plütschen Vierzeilers zufällig und spärlich, erst die Reflexe
dieser Kunstübung in der Literatur des ganzen 15. Jahrhunderts
spenden das notwendige Licht, und mittelniederdeutsche wie
mittelniederländische, selbst späte Überlieferung müssen klaffende
Lücken ausfüllen helfen.
^) Adami Olearii Persianische Reise-Beschreibung. Hamburg 1696.
S. 106.
<) Schriften der Goethe-Gesellschaft IX 256.
^ Grenzboten 62, 290. Ebenso gebaut ist der neueste antisemitische
Reim auf den Burenkrieg, citiert in der Reichstagssitzung Tom 6. De-
zember 1904.
271
Bis ins 12. Jahrhundert hinein bleibt der Priamelvierzeiler
noch durchweg unliterarisch, wie wir ihn zum Teil im vorigen
Abschnitt kennen gelernt haben. Das erste improvisierte deutsche
Epigramm, der bekannte Spielmannsreim vom Jahre 783:
Nu habet Uodalrih
firloran er6noHh,
östar inti uuestar,
sid irstarp sin suester^)
ist ein Vierzeiler, freilich kein Priamelvierzeiler.
Mehr nähert sich einem Priamelschema^) der Spruch des
12. Jahrhunderts:
Tief furt truobe,
und schone wiphuore,
sweme dar wirt ze gäch,
den gemit iz sd^).
Bei Otfried glaubt man die äußere Struktur des priamel-
haften synthetischen Vierzeilers durchzufühlen in Strophen wie:
Allaz thaz gibirgi inti allo thio burgi
joh dales ebonoti — so wes iz allaz lobonti^).
1) QF 12, 14 f. MSD Nr. VIII. Koegel, Gesch. d. d. Literatur V 230.
Koegels Meinung, der yielumstrittene Spielmannsreim stamme erst aus
der Zeit des Berichterstatters (I* 203), scheint unannehmbar und hängt mit
seiner Theorie von Otfrieds Priorität in der Verwendung des Keimes
zusammen. Der Vierzeiler trägt so sehr das Gepräge einer wirklichen
Eingebung des Augenblicks, daß es nicht einleuchten will, er sei hundert
Jahr aus der Situation heraus durch die Sage ,gemacht'. Das Verfahren
wäre ziemlich ohne Beispiel. Dazu kommt ein andres: der Mönch von
St. Gallen, der den Spielmannsreim berichtet, zählte einen Waffengefährten
Eerolts, des Bruders Uodalrichs, zu seinen Gewährsmännern. MSD^ 2, 60.
Kelle, Geschichte der deutschen Literatur 1, 71.
') Es ist das Schema eines unechten Priamels, das nur äußerlich drei
Glieder entwickelt, wie der Vers vom Zers und Schmidt. Mehr derart bei
Henrici, Zur Geschichte der mittelhochdeutschen Lyrik S. 4 ff.
3) MSD3 XLIX 2.
*) I 9,35; vergl. 11, 13. In Anlehnung an die Bibelstelle Luc. 11,27
ergeht sich auch Otfried in den später als Priamelmotiv beliebten volks-
mäßigen Seligpreisungen: I, 11, 39 ff. Längere Perioden mit Häufung der
Vordersätze und Abschluß im Nachsatz eröffnen das II Buch 1 ff: vergl.
20, 1 ff. Parallel gehäufte Satzglieder: U 5, 7. 24, 3. IV 16. 15. u. o.
272
Thaz beilege io giredotun, ouh buah fon mir gesagetun,
Job forasagon tellent, tbio ziti iz nu irfuUent^}.
Mit fiuru sie nan brantin, mit wazaru oub irqualtin,
odo oub mit steinonne: mit wiu segenotis thu tbib tbanne?*)
Da sich Oifried in ausgesprochenen Gegensatz znm Volks-
gesang stellt, ist es nicht zu verwundern, wenn, besonders bei
Behandlung stofflich so entfernter Gegenstände, die volksmäßigen
Formen fast ganz verwischt sind^).
Der große Stilkünstler Notk er läßt diese Form sogar in
der Prosa seiner Psalmenübersetzung durchbrechen. Im 26. Psalm
überträgt er:
Dar tag äne nabt ist,
ddr Hb dne t6d ist,
dar lieb ane leid ist:
tara lastet mib zecbomenne^).
Auch in der Erinnerung glaubt man einen rügenden
Priamelvierzeiler zu hören, wenn Heinrich von Melk sagt:
Die pbaffen die sint gitic,
die gebour die sint nidic,
die cboufliut babent triwen nicbt,
der wibe chiuscbe ist enwicbt*).
Die allerhäufigste Stilisierung des späteren Priamels weist ein
Vierzeiler Wernhers von Elmendorf auf, der trotz seiner
Abhängigkeit von Wilhelms von Conches Philosophia mpralis
de honesto et utili doch auch aus volksmäßiger gnomischer wie
epische)* Dichtung schöpfte:
Swer dir vaste zu spricbet
und mit scharfen worten stiebet
und dicb dtner dumbeit berüfit:
daz is der diner eren gebrücbit^j.
») IV 14, 11.
9) V 1, 11 vergl. 23, 201. 24, 5.
3) Für Existenz der einfacbsten aus zwei Langzeilen bestehenden
Strophe, die dem Vierzeiler entspricht, ist Koegel eingetreten. Geschichte
der deutschen Literatur I« 18. 39 f. 650. Pauls Grundriß II» 50.
*) VergL Otfried I 18, 9. Über Notkers Verdienste als Stilkünstler
Koegel 1« 618 ff. Pauls Grundriß IP 146. Er bat auf obige Stelle
aufmerksam gemacht.
5) Er. 423; vergl. Priesterleben 676. Wilmanns, Beiträge 1, 56.
«; 123. ZfdA. 4, 284 ff.
273
Für die Selbständigkeit dieses Vierzeilers spricht hier der
umstand, daß in Wernhers Quellen das Korrelat fehlt^). Die
beiden letzten Dichter haben uns bereits in die zweite Hälfte
des 12. Jahrhunderts geführt, eine Periode, in welcher der priamel-
hafte Vierzeiler anfängt, in der Literatur wirklich Boden zu
gewinnen. Überblicken wir die bisherigen Zeugnisse, ohne den
Grad der Wahrscheinlichkeit zu überschätzen, die den aus ihnen
gezogenen Schlüssen innewohnt.
Man messe die Spärlichkeit unserer Beispiele zunächst an
der Überlieferung der vorliterarischen Lyrik, und man wird die
Zeugnisse für den priamelhaften Vierzeiler verhältnismäßig nicht
dürftig nennen können. Schon die Pointe sicherte dem priamel-
haften Vierzeiler ein zäheres Leben als dem lyrischen Vierzeiler^).
Der allgemein gnomische Vierzeiler ist reicher vertreten. Die
Erzeugnisse volkstümlicher Kleinkunst wurden natürlich als Dichtung
des niederen Volkes vorachtet; nur ausnahmsweise und christlich
umgedeutet wurden Zauberformeln der Aufzeichnung für wert
gehalten^). Sie machten ebenso wenig literarische Prätensionen
wie die Eingebungen des Augenblicks, die sich des gnomischen
Vierzeilers bedienten. Man schrieb diese ebensowenig auf, wie
die ersten Lautenisten ihre Priamel. Nirgends würde wieder
mit ausschließlicher Berücksichtigung der gleichzeitigen literarischen
Tradition weniger erreicht als in unserm Falle. Es muß schon
das 1 2. Jahrhundert einen ziemlich beträchtlichen Schatz gut
geprägter Priamelmotive besessen haben: das Vorhandensein
einiger ganz vollendeter Priamelvierzeiler in Freidanks Be-
scheidenheit wäre sonst unerklärlich, und außerdem lehrt das
vielleicht ein Blick auf fremde, insbesondere die mittelnieder-
ländische Überlieferung. Sie hat mit der deutschen, bei allen
selbständigen Verschiedenheiten, eine Fülle so nah verwandter
Motive gemein, daß man zu schließen geneigt ist, diese seien
älterer gemeinsamer Besitz gewesen. Für Entlehnung in diesen
») Schönbach Z. f. d. A. 34, 57 (Sauerland S. 30 f. 42 f.); vergl.
über den nicht genügenden Text in Mignes Patrologia 171, 1003 fif.
Schönbach, Die Anfänge des Minnesanges S. 41.
2) R. M. Meyer, Alte deutsche Volksliedchen S. 176.
^) Vergl. Burdachs Ausführungen über das volkstümliche deutsche
Liebeslied Z. f. d. A. 27, 345 f. Grazer Studien zur deutschen Philologie 5, 73 ff.
Ealing, Priamel 13
274
Fällen fehlen bis jetzt Beweise, und die ganz charakteristische,
dem Oeist des Niederiändischen völlig kongeniale Verarbeitnng
der Motive zeugt dagegen^). Zuerst sei auf ein später (S. 316)
zu behandelndes Motiv hingewiesen, das den Kern für das Rosen -
plütsche , Jaghunt, wilde swein und hasen' (Göttinger Beiträge
2, 53. Nr. XIV. Vers 4. 5. 6.) abgab; es ist nicht nur im Mittel-
niederländischen und Mittelniederdeutschen, sondern unter andern
auch im Picardischen des 13. Jahrhunderts, im Englischen und
Dänischen bezeugt. Mit der Annahme einfacher Entlehnung wäre
wenig erklärt; wahrscheinlicher ist sehr alte Gemeinsamkeit des
Motivs mit unaufhörlichen Angleichungen im Austausch herüber
und hinüber.
Ebenso sind zweifellos gegensätzliche Zusammenstellungen
mit ,ohne^ auch für volksmäßig gnomische Sede des Frühmittel-
alters vorauszusetzen, Zusammenstellungen wie wir sie selbst bei
den Altajem und Teleuten gefunden haben.
Ein gemeinsames Motiv liegt femer offenbar folgenden beiden
Priamelvierzeilern zu Grunde, den Eennerversen (12474 ff.):
Herren gunst, aberiilen weter,
frouwen gemüete und riusen eter,
Würfel, ros und vederspil:
triegent ofte, swerz merken wil.
sowie dem Spruch der Hulthemschen Handschrift:
Wintersche nachten,
Vrouwen gbedachten,
Ende herscap hulde:
Verkeren dicke ende menechfulde^).
Ebenso würde man wohl Entlehnung ausschließen, wenn man
den mittelhochdeutschen Priamel Vierzeiler:
') Natürlich fand ein ständiger Austausch und nie unterbrochener
Import statt, aber an der Gemeinsamkeit volkstümlicher gnomischer Über-
lieferungen ändert das nichts. Wenn in der Tat nur „sehr Weniges aus
der Poesie in der Volkssprache wirklich von dem Volke aufgenommen ward''
(Schönbach, Gesammelte Aufsätze. Graz 1900. S. VHI), so gehörten
wohl solche Sprüche dazu.
') Belgisch Museum 1, 111; yergl. S. 470. Meijer, Oude nl. Spreuken
8. 92. Zeitschrift für deutsche Philologie 35, 513.
275
Wer alle tag will ligen im luder
Und aus der schussel wil füren gute fuder
Und einen trunk übern andern wil sauffen:
Den sieht man wenig erb und eigen kaufTen^).
mit seinen mittelniederländischen Parallelen vergleicht. Das
Motiv ist da ganz selbständig behandelt; z. B. in der Fassung
der Dresdener Handschrift M 33a Blatt 5b:
Die nacht ende dach in tavernen leecht
ende niet en wynt ende niet en heeft
ende eet ende drynct ende weel betaelt:
mij ghieft wonder, waer hy tghelt haelt.
oder:
Die gherne dobbelt ende drinct
ende altoos die taveme mint
ende locker es mit sconen vrouwen:
cruus noch munt en sei hi behouwen.
Altdeutsche Bl&tter 1, 76. Nr. 23.
Die niet en wint ende niet en heeft
ende altoos in die taveme leeft
ende sinen waert wel betaelt:
mi heeft wonder, waer hijt haelt.
Ebenda Nr. 24. Germania 19, 304. Dieser Fassung folgt
eine Glasschrift „In den Haeg, op't Buitenhof in een Wynhuis":
Die niet en heeft, en niet en wint,
En hem altyt in 't gezelschap vint,
En de Waardinne wel betaalt:
Het geeft my wonder, waar hy 't haalt.
Koddige en emstige Opschriften 2, 51.
Ganz individuell verfährt eine andre Version, ^op een
Parkement geschreven, en in een Lyst opgehangen^:
De Sondags slaat het Quakelbeen,
En in de Week der Teerling-steen,
En*s Winters vischt, en Somers vinkt:
Die heft geen kuyp daar vleesch in stinkt.
Opschriften 2, 116.
») Göttinger Beitrage 2, 60. Nr. XXX. Zum Motiv auch Florilegium
Gottingense Nr. 56. MSD XLIX 6.
18*
276
Ebenso folgende:
Op't Krat van een Wagen.
Die op hooge paarden wil ryden,
£n slaapen aan schoone vrouwen haar zyden,
En drinken de wyn die klaar is;
Moet hebben een buidel die swaar is:
Opschriften 2, 31.
Glasschiift te Zevenhoven:
Docr den Wynstruik,
En Vrouwen Buik,
En Garsten koren:
Heeft menig Man zijn lijf verloren.
Opschriften 1, 80.
Bloße Übersetzung aus dem Deutschen kann man bei Ge-
staltung eines andern Motivs von wirklich selbständiger Behandlung
unterscheiden. In ein mittelniederländisches Arzneibuch ist 1586
eingetragen :
Die Eenen wolf geloeft op der Heyden
Ende eenen Jeuden by synnen eyde
ende eenen papen by synnen Missen:
Die is van drie schelmen beschissen^).
Nicht viel selbständiger ist die Olasschrift aus Sotterdam:
am
Die een wolf vertrouwt in*t velt
En een Jood zyn gelt
En een Paap zyn ziel:
Dat is wel een groote KakhieP).
Vergleicht man damit den älteren Vierzeiler derHulthemschen
Handschrift:
Nonnen minne, beghinen tongbe,
Morwe eyere, kinder jonghe:
Deze viere sekerlike
Beseiten meneghen op eertrike^),
SO erkennt man in der Anlage, in dem charakteristischen Schluß
^) Borchling, Mittelniederdeutsche Handschriften 2, 52. Hochdeutsch
Göttinger Beiträge 2, 51. Nr. IX.
9) Opschriften 2, 15.
') Belgisch Museum 1, 113.
277
und den Worten „beghinen tongbe** allerdings das Motiv; aber
alles andere weicht ab. Ebenso die OlasBchrift:
Op drie dingen wilt niet veitrouwen,
Oft zal u namaals deerlyk rouwen:
Op e6n vette Heremyt, devoot in schyn,
Op een zieckelyke Medicyn,
Nog op een arme Alchimist:
Ziet dat gy hier wel op gist^).
Weniger sicher erscheint es, ob in einem andern Beispiel
das gemeinsame Motiv schon priamelbaft gewendet war. Dem
erweiterten Vierzeiler ,W er seinen pulen nicht laicht'*) entspricht
zum Teil der von Hoff mann mitgeteilte Sprach:
Moes sonder smout,
mellic sonder sout,
minnen sonder cussen:
dat sal den duvel lusten^).
Allerdings taucht das Motiv auch in einem unsaubem Schnader-
hüpfel der Kpuirra6ia (4, 100. Nr. 103; vergl. Pogatschnigg und
Herrmann V, 89. Nr. 425b. Gundlach S. 62. Nr. 216.) wieder
priamelbaft auf. Doch im Hinblick auf nicht priamelhafte Ver-
wendung dieses Motivs (OA 28, 111 ff.) bleibt der Zweifel be-
stehen, der allerdings die Gemeinsamkeit des Kemmotivs nicht
berührt.
Oft rücken die Einzelheiten des anzunehmenden gemein-
samen Priamel-Motivs in ganz undeutliche Ferne: so wenn man
den mnl. Vierzeiler:
Wye boven maten climt,
Ende op sijn bueren altoes grimt,
Ende alle dinck opt hoechste haelt:
Soe siet men dicwijl dat hy daelt^)
mit deutschen Beispielen des Motivs von törichter Arbeit (etwa
Keller, Alte gute Schwanke Nr. 3 und 5 und die Ausgaben e f g h k
des Narrenschiffs Kap. 36 bei Zarncke 8. 38A.) zusanmienhält.
0 Opschriften 1, 50. Vergl. Meijer, Onde nl. Spreuken S. 91.
«) Göttinger Beiträge 2, 60. Nr. XXVIL
^ Weimar. Jahrbuch 1, 130 ff. Nr. 82.
^) Tijdschrift voor Nederlandsche Taal-en Letterkunde 16, 307. Nr. 6.
Zingerle 8. 69. 129. 196.
278
Noch eine ganze Beihe solcher Entsprechungen läßt, bis
Entlehnung nachgewiesen, die Vermutung alter Motiv-Oemeinsam-
keit zu; freilich ist die niederländische Überlieferung meist jung ^).
Die een bok zyn wyngaart beveelt,
En zyn Moestuin datier hat swyn in speelt,
£n zyn huishouden op Meid of Knegt laat dryven:
Die ziet men zelden wel beklyven.
Opschriften 1, 140 ~ Kell er Nr. 13. Mones Anzeiger 3, 202.
Die met de Honden wel kan huilen,
En met het küssen werpen builen,
Die liegen kan, en't feyt verzaken:
Die zal best door de werelt raken.
Opschriften 2, 117
entspricht dem Hauptmotiv der Bosenplütschen Handwerkspriamel.
Das in Bosenplüts Priameln wiederholt behandelte Motiv
vom unnützen Hausgesind ist auch in den Opschriften 2, 110
vertreten: F. C. Besteedster von Meysjens en Minne-moers, gaf
de Meisjens deze les, als zy in haar huur gaan zoude.
DOgters, die tot agten slaapen,
Een veeltyds door de Vensters gaapen,
Een lang voor de Spiegel staan:
Laeten 't Huys-werk ongedaan.
Gegensätze, wie im Priamel ,Wer sucht in eim kutrolfglaß
genß' (Göttinger Beiträge 2, 55. Nr. XVIII) verbindet eine
Luyffel-Schrift aus Haselünne.
Een swarte Swaan,
Een witte Moriaan,
En een beleefde Drent:
Die heb ik nooit gekent^).
Schon im Mittelniedorländischen sind solche, oft dann lang
ausgedehnte, Beihen häufig: z. B. in der Hulthemschen Hand-
schrift :
^) Dem niederländischen Vierzeiler ist jedesmal ein Hinweis auf das
landläufigste deutsche Priamel-Beispiel hinzugefügt.
«) Opschriften 2, 14. Renner 8426 f.
Oder:
279
Een man mechtich,
Loes ende loghenechdch,
Ende die es van haven rijc:
Dats een duvel op ertrijc^).
Een scoon man hoghe gheboren,
ende die na gheen doghet en wil hören,
ende om gode niet en ghevet:
het es scade, dat hi levet^).
Aus derselben Handschrift stammt der Sprach:
Een lantshere sonder ghenaden,
een paep, die staet na verraden,
een machtich man fei ende rijc:
dit sijn drie duvels op aertrijc^).
Eine besondere Ausgestaltung des (übrigens sonst schon in
sogenannt unechten Freidanksprächen verwendeten) Oegensatz-
Motives konstrastiert allerhand Wertloses, Schadhaftes und Törichtes
mit voUkommnem Häusrat und Hausgemach. Es wird Zufall sein,
daß gerade mittelniederländische Überlieferung in der Hulthem-
schen Handschrift das älteste Beispiel liefert.
Die een peert heeft dat qualijc gheet,
Ende een wijf die achter uut sleet,
Ende op elken tee twee exteroghen:
Die man leeft seiden sonder doghen^}.
Verwandt ist eine mittelniederdeutsche Fassung:
En wol bewandert wyflf,
en pert, dat up den haken ys styfT,
unde en knecht, de vele heren hefft gehat:
darup henge nemant synen schat^).
^) Belgisch Museum 1, 108.
^ Altdeutsche Blätter 1, 77. Nr. 29. Ho ff mann, Immergrün. Breslau
1828. S. 22. Nr. 74.
^) A. a. 0. 1, 77. Nr. 30. Gegenstück un Belgisch Museum 6, 213.
*) Belg. Mus. 1, 109.
») Nd. Jb. 3, 62. Nr. 13. Nd. Reimbüchlein 274 ff.
Bosenplüt steht nahe:
Die daer heeft een paert dat hinket,
ende een out wijf dat stinket,
ende een buis sonder dac:
die hebben seiden goet ghemac').
Mehrfach variieren die Opsohriften uoser Motiv.
Die daar heeft een danssend wyf,
En daar toe een zeer krank lyf,
En een doorgang in lyn koomen:
Die leefl zelden zonder hoornen*).
Eine andere Qlasschrift ist noch selbständiger:
Die lang Koopman wil weicn, blyven eo lyn.
Die moet hem wagten voor paarden, haring en wyn ;
Want als het putrt begint te hinkei),
En de haring begint te stinken,
En de wjn begint te lekken:
Dan moet d«n Koopman vertrekkeii').
Ob man aach ein anderes, aas dem besprochenen ent-
wickeltes, Einzelmotiv schoD hierher setzen soll, kann zweifelhaft
sein; jedenfalls ist es eins der lehrreichsteo : zeigt es doch,
heute nie vor Jahrhunderten beliebt uad improvisatorisch fort-
gebildet, den Zusammenhang des Priamels mit der Stegreif-
dichtQDg des Vierzeilers von beute. Ich stelle, wie oben, die
niederländische Fassung vorao; es ist eine Glasschrift.
Die daar heeft een steenigen akker,
En een wyf die met den aars is wakker,
En daar toe een stompe ploeg:
Die werd zyn arbeid zuur genoeg*).
Die tnnd. Fassungen werden in anderem Zusammenhange
ihre Stelle finden. Henisch bezeugt den Vierzeiler in folgender
Version:
Wei bat ein frech pfeid, jung und vacker,
Und einen harten iteinichlen acker,
Ein bSMn laun und gtumpfien pflüg:
Dem Witt lU schaffen ubiig gnug^).
[offmann, Weimar. Jb. 1, 130 ff. Ki. 28. Keller, Schwfaik«
Vers 1. 2. 7. 8.
pschriften 1, 57. *) Opscbiiften 2, 38. *) Opschriften 1, 81.
Tbl S. 330.
281
Als Schnaderhüpfel ist er weit verbreitet; in der Schweiz:
Wenn eine-n-es steinig« Acherli het
Und au e mutze Püueg,
Derzue-n-es rUdigs Fraueli:
So het er z'chratze gnueg^).
Im Aargaa:
Wenn einer en steinigen Acher hat
Und en hölzige Pflueg,
Und e bös Frouweli hat:
So ist er gschlage gnueg').
Im Vogtlande singt mans als Bunda so:
Wenn aner hot a stanigs Feld,
und hot an stumpfen Pflug,
und hot a biese Fra drzu:
do hot er Plog genug *).
Aus dem Elsenzthal:
Wer ein steinig Äckerle hott
Unn en stumpige Plug,
Unn e bös Weib dazu:
Der hott Kreuz genügt).
Steiermark (Bayern).
Wan oanar an stoaninga Aka hat,
Und dazua a stumpfatn Pflua;
Und wan oan sei Diandl Jungfa wird:
So hat er a z' jammern grad gnua^).
Südlicher Schwarzwald.
Wer a stainiga Acker hätt
Und a stutzga Pfluag
Und a böses Weib dahaim:
Der isch gschlaga ginuag^).
') Tobler, Schweizerische Volkslieder 1, 208. Gros&tti 3», 46. Nr. 33.
*) Yon Hörmann, Schnaderhüpfeln^ S. 194. Nr. 549.
3) Dunger Nr. 760.
*) Gl eck S. 52.
^) Werle, Almrausch S. 247. Vergl. unten das bayerische Tänzlein.
^) E. H. Meyer, Indogermanische Pflügegebräuche (Zeitschrift für
Volkskunde 14) S. 5 knüpft an Hesiod Opera et die9 40$ m*
282
Braunschweig.
Wem stiwen Acker hat
Unn Stumpen Plauch
Un dan bösen Kerel (Tröpken Kinder) tau:
Is dat nich Plage nauch?^)
Die Poesie der Spiunstabe biegt das Motiv um. Im Bocken-
bfichlein steht unter bayrischen Tänzlein:
Wenn ahner an stanen Acker hot,
und zu an stumpfeden Pfloug,
wenn ahn sei Schäzle nimmer mog:
is dös nit Jammers genoug?^
In Böhmen ist es zum Grundstock eines Doppel-Vierzeilers
und eines längeren komischen Oedichts geworden'). Der Acht-
zeiler lautet:
Wenn aina an staininga Acka haut
U haut an hUlzana Pflough
U haut a rechts bäis Wei dazou:
Dear is schon gschlagn grad gnough.
Dear mou st selwa Hulz eintrogn,
Dear mou si selwa Feia schlogn,
Dear mou si selwa haitzn an,
Mouß selwa Köchin san.
Gesungen wird heute in Nüstenbach:
Wenn einer e grasigs Äckerl^ hat,
Und hat e stumpügs Pflug,
Und hat e lausigs Weib zu Haus:
Der hat zu kratze gnug^).
Mit maßvoller Benutzung einzelner Züge solcher Improvisations-
dicbtung hat Bosenplüt aus diesen Motiven eine ganze Gruppe
>) Ebda S. 5.
") Palaestra 4, 145.
^ Hruschka und Toischer S. 221. Nr. 214 f. In Tiroler Hochzeits-
Yorsen kehrt das Motiv zu dem alten Prinzip der Zweiteiligkeit zurück:
Wenn aner an stanrigin Acker hat, braucht er an birchinin Pflug; wenn
aner an altn Tuifl hat, n acher hat er genug. Wenn aner an Stadl voll
Hai hat, werd im di Kuh nit mager; wenn aner a schiene Schw&ster hat,
krig er glei an Schwager. Zeitschrift für Volkskunde 10, 205. 403.
^) Marriage, Volkslieder aus der badisohen Pfalz S. 360, Nr. 265;
daselbst weitere Nachweise*
283
voD Priameln gebildet, die Stücke vom bösen und guten Hausrat,
Hausgemacb und Hausgesind ^).
Das Gegensatz-Motiv wird durch das Motiv des Zusammen-
gehörigen ergänzt, das niederländisch selbständig fortentwickelt
ist; z. B.
Wanneer de Bierdrinker is by de Tonne,
£n de Monnik by de Nonnen,
En de Paap by de Bagynen:
Dan is een ider by de zynen^).
Zes dingen zynder die my't herte verblyden:
Körte Predicatien en lange Maaltyden,
Jonk vleesch en oude visch,
Een schoone Vrou en wyn op den disch^).
Haal dog Rapen,
Hoeren en Papen,
Zoete koek en brandewyn:
Wil wel by malkander zyn*).
In der lateinischen Literatur des Mittelalters^) dieser Zeit
nach Spuren gnomischer Poesie zu forschen, wird verdienstlich
sein, aber für unsere so charakteristische Form kaum Wert haben,
weil bei der Verschiedenheit des deutschen und des lateinischen
Satzbaues in lateinischer Umschreibung die priamelhafte Form
regelmäßig sich verflüchtigt. Aus vielleicht priamelhaftem Inhalt
lateinischer Hexameter^) auf deutsche Priamelform fürs 11., 12.
oder 13. Jahrhundert zu schließen, scheint gewagt.
Wenn aus größeren Gedichten Priamelvierzeiler heraus-
gelöst werden, wie wir es schon bei Wernhers vonElmendorf
und Heinrichs von Melk Gedichten versuchten, so unterliegt
») Keller Nr. 16. 17. Göttinger Beiträge 2, 47. Nr. IV.
«; Opschriften 1, 11. S) Opschriften 1, 142. *) Opschriften 4, 57.
^) Schönbach, Die Anfange des Minnesanges S. 3 f. Gesammelte
Aufsätze S. YIII. Loewer hat für Freidanks Bescheidenheit einige
patristische Schriften mit Nutzen herangezogen; aber die Yergleichung
beschränkte sich mit Recht auf den Inhalt.
6) MSD3 XLIX 6 ff. Carmina Burana S. 245. Nr. 183, 3. Selbst
der von Koegel I 2, 181 hervorgehobene Spruch des Flor. Vind. dürfte
der Form nach kaum anders als Dung er, Bundas S. 289. Nr. 1541 zu
beurteilen sein.
284
das Verfahren gewiß mancherlei Bedenken^). Aber da müssen
einmal evidente Beispiele die unsicheren stützen. Dann verrät
sich die Selbständigkeit des kleinen Qebildes auf verschiedene
Weise. Einfache klare Bezeugung seiner Selbständigkeit findet
der Vierzeiler in Zitaten, wie (bei Hugo von Trimberg) Vier-
zeiler der Bescheidenheit. Dann lassen sie sich als Interpolationen,
in der Begel ohne rechten Zusammenhang mit den Texten der
Umgebung, vielfach ausscheidep. In andern Fällen zeugt ander-
weitiges Vorkommen von Selbständigkeit. Bei Werken, deren
Quelle vorliegt, erkennt man den Vierzeiler mehrfach, wo die
Vorlage versagt, als Zusatz. Bisweilen macht ihn der durch-
gehende Beim kenntlich. In jedem Fall hat er sich durch innere
Selbständigkeit, seinen epigrammatischen Inhalt und charakteris-
tischen Bau auszuweisen. Auch äußerlich beglaubigt wird der
Vierzeiler als bewußte Kunstform der Strophe, wenn, wie in der
Bescheidenheit, im Benner, in der Straßburger Bearbeitung des
Narrenschiffs vom Jahre 1494 und im Fastnachtspiel, mehrere
absichtlich an einander gereiht werden. Im Benner (17 586 ff)
folgen 4, ein ander Mal 2 aufeinander, bei Freidank (Paul 2112 ff.)
steht ein Priamelvierzeiler hinter zwei andern ausgeführten Priamel-
sprüchen (2106 ff.). Später haben wir die Kontrolle an den
Priamel-Spruchbüchern; diese bezeugen manchen Vierzeiler als
Priamel. Wirkliche Priamel und solche Vierzeiler, denen ein
solches oder seine Form nur zu Orunde liegt, genau zu sondern,
ist meist nicht gut möglich. Da sonstige selbständige Über-
lieferung in diesem Zeitraum noch so selten ist, war es notwendig,
zunächst alles priamelhafte bei Fr ei dank zu berücksichtigen.
Während für die ältere Zeit einige Vollständigkeit anzustreben
war, gebot die Massenhaftigkeit des Materials in späteren Perioden,
sich auf das Wesentliche und Typische zu beschränken.
Die Annahme einer einheimischen Liebeslyrik hat bis zu
einem gewissen Grade mit Möglichkeiten und Tatsachen fremder
Einwirkung zu rechnen, eine bodenständige deutsche Gnomik ist
nie bestritten. Man war sogar freigebig genug, den Germanen
der Urzeit schon die Gattung des Priamels zuzugestehen. Wenn
>) Besonnen hat Steffen ein ähnliches Verfahren (Syenska landsm&len
XYI 2 und Heft 66) geübt, weniger zu billigen sind Grasberge rs Aus-
fohrungen S, 13 ü.
285
nun auch im Ernst davon nicht wird die Bede sein können, so
spricht doch alles dafür, daß die Improvisationsform des Priamel-
vierzeilers mindestens ebenso alt ist, als die deutsche gereimte
vierzeilige Strophe. In volkstümlicher Kleinkunst und geistlicher
Poesie sahen wir den Priamelvierzeiler bereits vertreten, vom
12. Jahrhundert an wird er immer häufiger, bis am Schluß der
in diesem Abschnitt zu behandelnden Periode Hugo von Trimberg
beweist, daß die beliebte und ausdrucksfähige Form sich völlig
in der didaktischen Literatur eingebürgert hat.
Nicht auf direktem Wege scheint der Priamelvierzeiler sich
den Weg in die Literatur gebahnt und seinen Platz erobert zu
haben, sondern er machte wie das österreichische StaudenliedP)
den Umweg durch das Medium kunstvollerer Poesie. Die musi-
kalische Welt wurde auf die Volksmusik erst aufmerksam, seitdem
Joseph Haydn auf ihre unerschöpflichen Schätze zurückgegriffen
hatte. Bevor man wagte das Schnaderhüpfel dem Lesepublikum
zu bieten, hatte es in den Arien der Linde may er und Hafner
sich empfehlen müssen. Ebenso der Priamelvierzeiler in der
mittelhochdeutschen Literatur, der fast zwei Menschenalter vor
Freidank im älteren Minnesang erscheint.
Zweifellos war die uralte gnomische Dichtung des Volkes
nach Inhalt und Form die Voraussetzung für die Qedichte eines
Herger, Spervogel und aller in ihrem Qeiste schaffenden
späteren Dichter; und von der Grundlage dieser älteren volks-
mäßigen Gnomik gibt vielleicht Freidanks Bescheidenheit wohl
zuverlässiger Zeugnis als der Minnesang. Daher wird auch hier,
wie bei der Anordnung der späteren Kapitel, Freidank vor
Spervogel den Vortritt haben. Zu ausschließlich gepflegter
Spruchart, wie in den Sapta9atakam, ist der Vierzeiler nicht ge-
worden, noch weniger eine Kunstgattung, wie in den altfranzösischen
Quatrains moraux.
Daß Freidanks Bescheidenheit kein einheitliches Werk ist^),
dafür zeugen auch Stoffe und Formen der verarbeiteten Sprüche;
0 Nagl und Zeidler I 751.
') Paul, Über die ursprüngliche Anordnung von Freidanks Be-
scheidenheit I. H; besonders II 286. Ein Zeugnis für den kompilatorischen
Charakter Zs. 19, 104. Es scheint der Mangel an logischem Aufbau älteren
Spruchsammlungen eigen. San tob de Carrion verfuhr ähnlich in seinen
286
Gebet, Lügendichtung , Quodlibet, Fabel, Bätsei, Tischzucht,
Kettenspruch, Spielmannsreim, haben zur Bescheidenheit bei-
gesteuert. Beichlicher noch das Priamel, auch in seiner einfachen
vierzeiligen Form. Gnomische Vierzeiler nicht priamelhaften
Charakters sind bei Frei dank, wie im Cato, im Benner, in
der ganzen didaktischen Literatur sehr häufige und ihre Verwendung
hat sich später, z. B. in Brants Übersetzung des Cato, zum
Princip herausgebildet').
Der priamelhafte Vierzeiler ist von allen Priamelformen in
der Bescheidenheit am häufigsten vertreten, einigemal analytisch
und steigernd, meist synthetisch gebaut. Die synthetischen Vier-
zeiler sind bis auf zwei von echt volksmäßigem Gehalt, fast alle
von trefflicher epigrammatischer Prägung
Swer inme sacke koufet,
unt sich mit t6ren roufet,
unt borget ungewisser diet:
der singet dicke klageliet^.
Als selbständigen Spruch bezeugt ihn ausdrücklich Hugo
von Trimberg im Benner 6197. Das Motiv erscheint, positiv
gewendet, am einfachsten in einem Fechtreim des Marxbruders
Mathes Greßmann vom Jahre 1579: „Wer daz glück hat,
wird vf den abent singen ^)^. Am Ende des 15. Jahrhunderts
ist in der Sammelhandschrift FG der wenig geänderte Freidank-
spruch mit einem ähnlichen ganz äußerlich zusammengeschoben^).
Noch heute ist der Freidankvers in der Eifel verbreitet, aller-
dings in etwas modificierter Form:
Wer Kiesel säet,
Stoppeln mähet,
Im Sacke kauft,
Proverbios Morales. Stein, Untersuchungen über die Pr. M. von San tob
de Carrion S. 27 ff.
*) Vergl. jetzt auch Ernst Meyer, Liebesbriefe S. 31: „Es existierten
im Volke zwei — , vorwiegend aber vier zeilige Liebessprüche, wie wir sie
zum Teil im Freidank zu einem Kunstwerk (?) verbunden vorfinden."
») 85, 5 ff. Paul 2301 ff.
3) Schaer, Die altdeutschen Fechter S. 157. Auf diese Bedeutung
von singen geht der ausführliche Artikel des deutschen Wörterbuchs X 1067 ff.
nicht ein.
*) Göttinger Beiträge 2, 51. Nr. IX a.
287
Und sich mit Toren rauft:
Der begebet Ding,
Die töricht sind >).
£in Herausgeber des Frei dank hat sich darüber gewundert,
daß man mit toren nicht raufen soll, und will kalwen lesen;
er bedenkt nicht, daß die Narren kahl geschoren werden. Die
Heidelberger Handschrift Cod. Pal. Germ. 98, 203b (Bartsch
S. 25) hat auch ,narrenS die Wiener Hs. 4192, 187 ,kalen'
eingesetzt.
Alter wibe mtnne,
und junger liute sinne
und kleiner rosse loufen:
sol nteman tiure koufen^).
Ans später niederdeutscher Vorlage hat W. Grimm folgende
problematische Variante rekonstruiert:
Junges mannes strit,
und altes wibes h6cbgeztt,
und kleines pferdes loufen:
diu sol nieman tiure koufen').
Das hier verwandte Motiv stellt in Beihen von scheinbar
sich widersprechenden Begriffen wertlose, unnütze Dinge zusammen,
ein Motiv von nie erloschener Triebiähigkeit. Bald wird, wie in
Umdichtungen des ausgehenden Mittelalters, die Wendung des
Kaufes im letzten Vers durch eine allgemeine ersetzt; z. B. bietet
der nd. Magdeburger Freidank von 1460 (Grimm Q):
Papen konbeit
Unde nunen steticbeit
Unde ossen telden:
de werden gelovet seiden^).
Ähnlich verfährt eine mitteldeutsche Variante desselben
Jahrhunderts:
*) J. H. Schmitz, Sitten und Bräuche, Lieder, Sprüchwörter und
Rätsel des Eifler Volkes 1, 185. Nr. 41.
^) 85, 8afF. W. Grimm, Kleinere Schriften 4, 35 f. Mones Anzeiger
8, 545. Zu 3: MSD^ XXVIL 2, 54.
^) Schriften 4, 34; zwei andre S. 35.
*) Grimm, Bescheidenheit^ 199. , steticbeit' unsicher. Wiggert,
Zweytes Scherflein S. 78.
288
Der monche hobischeit,
Der pfafien freidikeit,
Und der kwe ccelden:
disse dry geroten seiden^).
Bald taucht die Wendung des Kaufes originell umgebildet
wieder auf.
Malle Luy, verrotte Peeren,
Boeken, die geen deugd en leeren,
£n vuyl' Eyeren overhoop:
Hoe meer om geld, hoe quader koop^}.
Versetzt sind endlich die Akzente wie die Einzelheiten bei
Wilhelm Müller.
Ein Trost in drei Nöthen.
Wenn morsche Bäume anfangen zu brennen,
Wenn faule Pferde anfangen zu rennen.
Wenn alte Weiber anfangen zu lieben:
Gott Lob, noch keines hat's lange getrieben^).
Kurzen man dSmüete,
unt r6ten mit güete,
unt langen man wisen:
die drie sol man prtsen^).
Das Verdienst dieser volkstümlichen Fassung tritt noch
klarer zu Tage, wenn man z. B. Brants Facetus-Übersetzung
(489 ff.) vergleicht:
Selten demuetig klein lUt syndt,
wenig getruw rott fUchs man findt,
Den wissen freidikeit gebrist,
Eyn langer selten witzig ist.
^) Toppen, Yolkstümliche DichtungeD, zumeist aus Handschriften des
15., 16. und 17. Jahrhunderts gesammelt. Ein Beitrag zur Geschichte der
schönen Literatur der Proyinz Preußen. Königsberg 1873. S. 7. ,geroten'
ist Konjektur statt ,gewten'.
3) Opschriften 2, 113.
») Vermischte Schriften. Leipzig 1830. S. 408. Nr. 86.
4) 85, 19 ff. Handschrift 1847 der Darmstädter Hofbibliothek (Germania
32, 343) Blatt 318b: „Raro breves humiles vidi longosque sapientes, albos
audaces vidi rubrosque fideles."
289
Satirisch klingt der Vierzeiler:
S6 der wolf müsen gät,
unt der valke keveren vät,
unt der.künec bürge machet:
so ist ir Sre geswachetf).
Während die kritischen Ausgaben 78, 1 7 ff. einen Sechszeiler
bieten, haben die Handschriften der zweiten Ordnung einen Vier-
zeiler erhalten, den W. Grimm vorzuziehen geneigt war.
Swer niht weiz unt niht vräget,
unt niht kan und in lerns betraget,
unt hazzet den, der rehte tuot:
disiu driu sint t6ren muot^).
Der Bibel entstammt der Inhalt des sechsten Beispiels für
den Typus A:
Des vogels fluc, des visches fluz,
des slangen sluf» des donres schuz,
wie geraten süln diu jungen kint:
der strdzen uns alle fremede sint^).
Bei der Überlieferung dieses Vierzeilers ist bemerkenswert,
daß ursprünglich (bei Paul Vers 2106 ff.) drei priamelartige Sprüche
hintereinander folgen (in der Grimmschen Ordnung stehen 69, 5 ff.
zwei solcher Sprüche hintereinander), woraus zu schließen ist,
daß man im 13. Jahrhundert sich der besonderen Eunstform be-
1) 73, 16 ff. Renner 22 722 ff. Wand er 5, 364 mit einem r&tselhaften
Citat des Liedersaals: gemeint ist Nr. 92, 89 ff. Mones Anzeiger 8, 213.
Vers 3: ,und der chAnig pub macht^ (Innsbrucker Hs. Nr. 669).
3) Grimm S. 241. 355.
3) Paul 2122 ff. Grimm 128, 6 ff. Vorrede S. CXIX. Gervinus 2^, 24.
ProY. 30, 18. Ecclesiastes 11, 5. Etwas Selbstgemachtes bei Wander
5, 1172. 2160; Der Zusammenhang, den R. M. Meyer, Z. f. d. A. 29, 230
mit volkstümlicher Poesie herzustellen sucht, erscheint für unsere Stelle
etwas gezwungen; im übrigen vergl. Weinhold, Die altdeutschen Ver-
wünschungsformeln S. 686. Ohne Zusammenhang mit alten Wunschformeln
Renner 7926 ff. Vergl. 18558 ff. 21213 ff. Wie wenig priamelhaft lateinische
Fassungen dieser Bibelstellen ausfallen, lehrt eine Probe des 13. bis 14. Jahr-
hunderts aus einer Weingartener Handschrift (Mones Anzeiger 7, 507): Aera
sulcat avis, coluber petram, mare nayis; haec sunt ignota. minus est juyenis
via nota. Vergl. Die Melker Hs. hg. von Leitzmann 16, 45 ff. Zingerle
S. 154 f.
Ealing, Priamel 19
290
Wüßt war. Was die Abhängigkeit von der Bibel betrifft, so ist
nur teilweise der Inhalt, nicht die Form entlehnt.
Das Thema von unmöglichen Dingen behandelt in Form der
Klostersatire der von Grimm als interpoliert bezeichnete, aus
der Hs. des Liedersaales (P) stammende Vierzeiler:
Swenne zom, haz unde nit
in allen kl6stern gelit,
unt hinderrede, verkertiu wort:
s6 ist aller ding ein ort^).
Hätte Pfeiffer recht, daß Klagen über gesunkene Klosterzucht
erst ins 14. Jahrhundert gehörten, so wären auch diese Verse
unecht. Aber derartige allgemeine höchst anfechtbare kultur-
geschichtliche Erwägungen verfangen eben nicht, wie die Debatte
über Heinrich von Melk zur Genüge gezeigt hat. Wenn auch
hier das Motiv der Unmöglichkeiten bei Zeitangaben zum ersten
Mal in der Priamel-Literatur auftritt, so ist die Einkleidung der
Bescheidenheit doch ganz zufällig; Frei dank will hier speciell
die Klöster treffen. Das allgemeine Motiv hat die Volksdichtung
von heute bewahrt:
Wann Sunn und Mond steaht,
Und die Welt untageht,
Und die Trag auferinnt:
Nochar liab i di gschwind').
I werd di schon liebn,
Wann die Zaunstecken blUhn,
Wann die Drau aufwärts rinnt,
Nacher lieb i di gschwind^).
Bai Sunn und Mo steht,
Und koa Wind nimmer geht,
Und der Bach aufwärts rinnt:
Aftn lieb i di gschwind^).
') 60, 9 ff. Vergl. 60, 7 ff. Renner 14391 ff. und MSD^ XXVII 2, 119.
2) Gundlach S. 137. Nr. 655.
3) von Hörmann, Sehn aderhüpf ein 3 S. 69. Nr. 187.
*) Gundlach S. 142. Nr. 684. Hauffen, Die deutsche Sprachinsel
Gottschee S. 168 ff.
291
Wenn Sunn und Mun arschling geht.
Und der Schneck spinnt,
Und der Ochs Esel werd:
Heirat i gschwind^).
Durch mnd. und mnl. NachbilduDgen ist die Selbständigkeit
der priamelhaften Verse 176, 16 flf. bezeugt:
Edele, zuht, schcene unde jugent,
witze, richeit ere unde tugent:
die wil der tot nit statte lan,
uns kumt das wir verdienet hän^).
Die Dichtung der Höfe wie der Spielleute ging bei geist-
licher Poesie in die Schule^). Wir trafen schon ein inhaltlich
der Bibel entlehntes Beispiel des Typus A. Die analytisch
gebauten Vierzeiler der Bescheidenheit sind alle biblischen oder
theologischen Inhaltes. Die bekannten vier unersättlichen Dinge
der Salomonischen Sprüche erscheinen in der Form:
Driu dinc niht gesäten kan:
die helle, fiur, den gitigen man:
daz vierde gesprach noch nie ,genuoc*,
swie vil man im zuo getruoc^).
Was das vierte sei, hat Freidank aus höfischem Anstand
verschwiegen: os vulvae. Auch die andern aufgezählten Dinge
stimmen nicht ganz überein. Der Vult^atatext lautet hier (30, 15):
Tria sunt insaturabilia, et quartum, quod nunquam dicit ,sufficit':
infernus et os vulvae et terra, quae non satiatur aqua; ignis
vero nunquam dicit ,sufficit'^). Selbst wenn der Spruch schon
Gemeingut der Gnomik war^), ging er doch auf die Bibel zurück.
Auch die spätere Gnomik verfährt frei mit diesem Spruch. Ver-
kürzt hat ihn Thomasin von Girclaria. Eine Donaueschinger
') vonHörmann, Schnaderhüpfeln ^ S. 348. Nr. 952. Pogatschnigg
und Herrmann P, 95. Nr. 452 ff.
') Selbständig im niederdeutschen Eeimbüchlein 1051 f. und in den
mnl. Bjmspreuken, hg. von Suringar, 2, 260. Nr. 87.
3) Wilmanns, Walther S. 4.
*) Paul 1497 ff. Grimm 69, 5 ff. S. CXVIII.
^) Vergleiche Prov. 27, 20, woraus vielleicht ,oculi hominum insatiabiles'
benutzt ist.
^) Kochholz, Alemannisches Kinderlied S. 204 f.
19 ••
292
(Hs. 94, 5 a) und eine Wiener Handschrift (4120, 157 a) bieten
folgende Gestalt:
Dreu ding Diemant ersatten kan:
die hell, das feur, den geitigen man.
man leidet mer arbait hertigleich
durch die hell dann durch das himmelreich ').
Noch freier verfährt ein an Alexanders Namen geknüpftes
alemannisches Einderrätsel (Bochholz Nr. 420.) Die Aufzählung
mit Zugabe ist nicht nur biblisch^), sondern allgemein volkstümlich.
Di tre cose il diavola si fa insolata:
di lingua d'advocati,
di dita di notaj,
e la terza h riservata^).
In ganz Kärnten wird gesungen:
I hab n'r drei Stund,
Drei Stund und mehr nit,
A guete, a schlechte,
Und de dritte geat mit.
Die guete is ba dir,
Die schlechte daham,
Die dritte, de mitgeht.
Wann i Nachts von dir tram*).
Ähnliche Aufzählung wird in einem altfranzösischen Spruch-
gedicht Des Villains, Villeniers, Vilnastres et doubles Villains
geübt:
Trois vices a villain parfaict,
Folie parole et villain faict;
Lc tiers mal doit finir sa vie,
Car il est faict par villenie^).
*) Vergl. Freidank 66, 1. Loewer, Patristische Quellen Stadien S. 31.
Zu Zeile 1 und 2 den lateinischen Pentameter bei -Rochholz.
2) Liber Ecclesiastici 23, 21. 25, 9. 26, 5; 25. Prov. 6, 16. 30
21; 29. Loewer, Patristische Quellenstudien zu Freidanks Bescheidenheit,
S. 6. 12.
») Wander 5, 1141. Nr. 1520. Siehe Nr. 1560. 1581. 1692. 1729.
*) Pogatschnigg und Herrmann 1,66. Nr. 289. 1, 264f. Nr. 1178.
Das Original ist freilich von Joh. Gabr. Seidl. Grasberger S. 91.
^) Montaiglon, Receuil 7, 70. Willkürlichere Aufzählung bei Oswald
von Wolken stein 103, 19 ff. Umschreibung von Zahlen durch Addition,
Subtraktion und Multiplikation: Detter und Heinzel, Edda 2, 350.
293
WahrschciDÜch der Form wegen ist an diesen Vierzeiler in
der Bescheidenheit ein gleicher angeschlossen:
Mir sint stsetecliche bi
vil starker viende dri:
diu werlt unt des tiuvels list,
min herze der dritte vient ist').
Demselben theologischen Gedankenkreise gehört der Vier-
zeiler an: swer driu dinc bedachte,
der vermite gotes sehte:
waz er was, unt waz er ist,
unt waz er wirt in kurzer vrist').
Von steigernder Form des Vierzeilers hat die Bescheidenheit
nur ein Beispiel, dessen selbständige Überlieferung durch die
ursprüngliche Ordnung, Hugo von Trimberg und die Hul-
themsche Handschrift bezeugt wird. In Orimms Text eröffnet
dieser Spruch das Kapitel ,von trunkenheite^
Trunkenheit ist selten guot,
si tobet und velschet wisen muot,
si ist ein roup der tugende gar,
si ist t6des bilde; nemet es war^).
Weniger glücklich ist die Fassung Hugos von Trimberg:
Trunkenheit ist selten guot,
si tobet und swachet wisen muot,
si ist ein roup der sinne gar,
des t6des bilde nimt si war^).
In der Mitte zwischen beiden steht:
Dronckenheit es seiden goet,
Want si den wisen dolen doet;
« Ende si es roeverse der zinnen
Ende bode der doot; wildijt bekinnen**).
1) 69, 9 ff. Paul 2107 ff. Grimms Anmerkungen und E^einere Schriften
4,71. Wander 5, 1143. Nr. 1577. Reinhold Koe hl er. Kleinere Schriften
2, 141 ff. 678.
^ 22, 12. Bezzenberger z. d. St. Innocentius, De contemptu
mundi 1, 1. Der Babylonische Talmud hg. von Goldschmidt 7, 1158.
Allerdings sind die 3 Gedanken ebenso rein menschlich wie der Spruch der
Toten an die Lebenden. Koehler, Kleinere Schriften 2, 27 ff. Benner 1926.
22660 ff. 23410. 24058.
3) Paul 791 ff. 94, 1 ff. Boethe zu Beinmars 111. Spruch. Loewer
S. 29. Florilegium Gottingense Nr. 327.
*) 10186 ff. Vorher: Da von sprach her Vridanc.
^) Suringar, Bijmspreuken 2, 215. Nr. 11.
294
Sprüche wie 44, 17 ff. können kaum als priamelhaft gelten:
ünrehter gewinne
unde unrehter minne
unde untriuwen ist s6 vil,
daz sich ir niemen schämen wil.
Daß dies wohl kein Priamelmotiv war, lehrt die formlose
mnl. Umschreibung^).
Zerflossene Form kommt in der Bescheidenheit öfter vor,
z. B. Paul 883 ff.:
Wisheit überwindet Übel:
als6 twinget vaz der kübel
daz ez niht rinnet zaller sit.
witze scheidet manegen strft.
Bloß äußerliche Entwicklung zeigt:
Swi grözer schade und dar zuo schände
sint beide in eines herren lande,
und hdt der herre fürsten namen:
er mac sich wol ir beider schämen^).
Beicher ausgebildete Priamelform und Anderes, was wenig
priamelhaft erscheint, wird später erörtert.
Es sind nicht viele Vierzeiler in der Bescheidenheit, die,
wie die ersten vier, die volkstümliche und für das Priamel
natürliche^ charakteristische Form wahren: einfache, selbständige
Beihen, nach Form und Inhalt in sich abgeschlossen, ohne daß,
von der Zusammenfassung abgesehen, Syntax oder Metrik äußer-
lich aus einer Zeile in die andere übergreifen. In der höfischen
Kunst kämpft der Qedanke mit der primitiven Form, droht sie
zu sprengen und füllt sie bereits mit doktrinärem Inhalt, so
wenig dieser eigentlich dem Wesen des Priamels entspricht.
Während der priamelhafte Vierzeiler trotzdem bei Freidank
meist in seiner ursprünglichen Gestalt erscheint, unterliegt er
in den Spruchbüchlein der Fahrenden des 12. Jahrhunderts einer
Umbildung : er muß sich gefallen lassen, den metrischen Systemen
der ältesten wahrscheinlich gesungenen Didaktik eingegliedert zu
*) Suringar, Rijmspreuken 2, 230. Nr. 33.
2) 78, 4 a ff. Ob der Spruch au8 FG aber schon ins 13. Jahrhundert
gehört, ist sehr zweifelhaft.
295
werden^). Die musikalische EuDSt war noch wenig imstande,
die Rompositionen nach dem Charakter der Gattungen individuell
zu behandeln^). Aus einem künstlichen Strophensystem des
älteren Spervogel läßt sich der Vierzeiler herauslösen:
Swer lange dienet da man dienstes niht verstdt, •
und einen ungetriuwen miteslUzzel hat«
und einen valschen nächgebür:
dem wirt stn spise harte sür^).
Auch in den einfachen Strophen Hergers scheint einmal
die Form des Vierzeilers durchzublicken:
Würze des waldes
und erse des goldes
und alliu apgrUnde:
diu sint dir, hirre, künde*).
Epigrammatische Nutzanwendung mit leise angedeuteter Klimax
zeigt der Vierzeiler:
Güsse schadet dem brunnen,
sam tuot dem rifen sunne,
sam tuot dem stoube der regen:
armuot hoenet den degen^).
Sind hier die parallelen Glieder inhaltlich gleich, so versucht
ein Vierzeiler des 14. Jahrhunderts, den Mone aus einer Löwener
Handschrift mitteilte^), die Steigerung mit demselben Ziel durch
Gegensätze.
Bedwanc duet goede zeden leren,
zorghe helt den man in eren,
wijsheit maect den man gestade:
armode is van nauwen rade.
Mit leichten Verschiebungen schließt sich daran der Vers
der Hulthemschen Handschrift:
') ,E8 fragt sich, ob nicht die Sprüche auch in bloßer rhythmischer
Becitation vorgetragen werden konnten/ Schönbach, Anfänge des Minne-
sanges S. 127.
>) Wilmans, Walther S. 294.
3) MF 21, 21. Schönbach hebt in den Wiener Sitzungsberichten 141,
13 den Improvisationscharakter hervor.
*) MF. 30, 27. Zs. f. deutsche Philologie 23, 226. Schönbach S. 30.
s) MF. 30, 34. Schönbach S. 30.
«) Anzeiger 4, 207.
296
Grote weide plompt den sin;
Sorgbe brinct wijsheit in;
Armoede peinst meneghen list,
Daer die weide niet op en ghist').
Von jetzt ab verschwindet der Priamelvierzeiler nicht wieder
und ist bald in der Spruchdichtung reich vertreten. Als besonders
bequem bot sich seine mühelose Improvisationsform dem Inter-
polator an. In den Gate wurde aus einer Tischzucht der Vier-
zeiler interpoliert:
Swer sniubet als ein lahs,
unde smatzet als ein dahs,
und TÜsset» s6 er es7.en sol:
diu driu dinc ziment niemer wol^.
In der Bossauer Tischzucht lauten die entsprechenden Verse:
Swer snüdet als ein wazzerdahs
Und smackitzet als ein lahs,
So er izzet^ als etelicher pfligt,
Wie gar sich der zuht verwigt').
Des Tannhäusers Hofzucht variiert:
Swer snüdet als ein wazzerdahs,
So er izzet, als etlicher phliget,
Und smatzet als ein Beiersahs,
Wie gar der sich zuht verwiget*).
Eine spätere Fassung des 15. Jahrhunderts hat Geyer re-
konstruiert.
Welcher schnaudet als ein dachs
Und schmatzet als ain wasserlachs,
Wo er pei den leuten sitzet,
Wie gar er seiner zucht vergisset*)!
Der Cato-Vierzeiler hat den Priamel-Parallelismus voll-
kommener durchgeführt. In den Quatrains der Tannhäuser-
>) Belg. Mus. 1, 112.
«) Zarncke S. 138. Vors 329. Vergl. 315 fF. 325 ff. Hätzlerin 2,
71, 96. Za den Tischzachten Milchsack, Scheidts Grobianus S. III ff.
Hauffen QF. 66. Germania 36, 118 ff. Bömer zu Dedekinds Grobianus
8. XI ff.
3) Vers 43 ff. bei Geyer S. 8.
*) Vers 61 ff. Geyer S. 10. Über das Verhältnis von A zu C: Martin
im Anzeiger 8, 309.
*) Geyer S. 17. Vers 107 ff.
297
Becension stellt sich der Priamelvierzeilor ungezwungen ein.
Typus A erschien in dem eben gegebenen Beispiel; Typus C
liegt in dem Eingangs vers vor:
Er dUnket mich ein zUhtic man:
Der aUe zuht erkennen kan.
Der keine unzuht nie gewan
Und im der zUhte nie zeran').
Nicht ganz volkstümlich klingt ein andrer Priamelvierzeiler
derselben Becension:
Swer den unfldt von der nasen nimt
Und von den ougen, als etlicher tuot,
In diu 6ren grifen niht enzimt,
So er izzet: diu driu sint niht guot').
Dagegen dürfte man wohl das Motiv als volksmäßig an-
sprechen.
In der Bossauer Tischzucht gehen den zitierten drei andre
Vierzeiler vorher (Vers 31 ff.) 2
Swer sich über die schUzzel habt *
Und gar unsüberlichen snabt
Mit dem munde rehte als ein swin,
Der schol bi anderm vihe sin.
Sumliche bizent ab der sniten
Nach gar gebiurischen siten
Und st6zents in die schttzzel wider:
Dise unzuht lant die hübschen nider.
Sumliche sint s6 vraezic gar,
Daz si niht nement ir mundes war
Und bizent in ir selber hant:
Solch gitikheit die hübschen lant.
Becension v hat sich diese Verse nicht entgehen lassen:
Welcher sich über die schüssel habt
Und dar zu rüdischen schnabt
Mit dem munt, als ein schwein,
Der sol pei andern sauen sein^}.
Etlich sint als frässig gar
Und nement niht irs mundes war
Und peissent sich selber in die hant:
Solich geitigkait ist ain grosse schant*).
») Geyer S. 9. «) Geyer S. 11. Vera 157 ff.
8) Geyer S. 17. Vers 108 ff. *) Vers 117 ff.
298
Einer dieser Vierzeiler ist zu einem guten Sechszeiler ge-
worden:
Etlich peissent ab den schnitten
Nach der groben pauren siten
Und stossent es in die schüssel wider
Und schmaltzigent ir vinger gelider:
Die habent pillich der weit fluch,
Wan sie sint gröber dan kiteltuch^).
Dieselbe Eecension mündet in zwei Rosenplütsche Priamel
aus: jSecht wo der sun für den vatter geet' und: ,Secht wo der
vatter förcht das kind'. Vorher geht der Eeimvers vom Hausknecht,
f&r Hausmägde und Knechte eingerichtet:
Ir haußmayd und ir knecht,
Merket ewer ampt und regel recht.
Dein arbait spat und frü bedenck u. s. w.
Zurückhaltender als Freidank steht Thomasin von Ciclaria ^)
der Form dieses volksmäßigen Gebildes gegenüber. Er läßt in
seinem Welschen Gast den priamelhaften Vierzeiler in etwas
undeutlichem Bau erkennen:
Barmunge, vorht, minn und unminn,
geheiz, gäbe, nit und unsin:
disiu dinc brechent gar
des gerihts veder, daz ist war^).
Ähnlich bald darauf;
Daz vüeget ouch barmunge, unsin,
nit, gäbe geheiz, minn und unminn,
daz ein man verliuset gar
sin reht, daz ist war*).
Swer mit stro viuwer lischet,
und mit horwe hör wischet,
daz dunket mich ein goukelspil:
swer daz kan, der kan ze vil^).
Nur der Form, nicht dem Inhalt nach priamelartig ist
folgender Vierzeiler:
«) Vers 111 fF.
') Schönbach, Anfänge des Minnesanges S. 34 ff. 72.
3) 12483 ff. *) 12489 ff.
') 12107 ff. Disciplina clericalis p. 695 A (Migne).
6
• • « .•
• • •
• •••
• •
299
Daz ist noch stset, swaz inder lebet,
kriuchet, gat vliug^t ode swebet,
und swaz ist niderhalbe des man:
daz muoz vier elemente bän^).
Auch ein analytischer Vierzeiler findet sich:
Nit und zorn machent dicke
vil trtieben muot und krumbe blicke,
unnütze rede, dwerhen ganc,
seltsaene gebserde und vil gedanc^.
Die naive Freude an breiter Ausladung der parallelen Glieder,
wie sie der volksmäßige Vierzeiler befriedigt, weicht bei Tho-
mas in meist der Vorherrschaft des Gedankens, der die Glieder
zusammendrängt'). Fast zu durchgeistigt ist ein mit deutlichem
Parallelismus und geringer Steigerung gebauter Vierzeiler Konrads
von Haslau:
Ein b6sheit von der andern wirt,
ein frumkeit ouch die andern birt,
ein schade dicke den andern bringet,
ein tugent nach der andern dringet^).
Sprichwörtlichen Charakter dieses Vierzeilers bezeugt Hugo
von Trimberg 16402 ff., Freidank 52, 18. Boher, 41, 74 ff.
und das niederdeutsche ßeimbüchlein (Seelmann 707 flf.)*).
Die synthetische Normalform kennt Eonrad auch:
Swer in n6t nach eren ringet
und sich üf rehte fiiore twinget
und vlizet sich der besten tugent:
daz frumet sin armuot in der jugent*).
Denselben Charakter der für höfische Kreise bestimmten
Spruchdichtung wahrt der Spiegel der Tugenden, den Haupt
in Sprachformen des 13. Jahrhunderts hergestellt hat^). Auch
in diesem Gedicht weist die Freiheit, mit der die Überlieferung
») 2277 ff. «) 683 ff.
^ z. B. 2833. ,Yient, vür, spil, tot und diebe, die kunnen machen
leit von liebe.*
^) Jüngling 463 ff. Quelle ist Isidor, Sent. lib. 2, 23. Migne 83,
635. Vergl. Preidank 124, 5.
») Vergl. Zingerle S. 102. 103. 107. 127.
«) Jüngling 1169 ff.
^ Altdeutsche Bl&tter, 1, 88 ff.
300
priamelbafte Vierzeiler in deo Handscbriflen von einer Stelle zor
andern versetzt oder ausläßt, auf eine gewisse Selbständigkeit
dieser kleinen Qebilde hin. Ihre Struktur ist hier immer die
gleiche, der Ton einförmig lehrhaft.
wzne w^nec, wiiie vjl,
sage dai beste, daz Ixesle bil,
besnh dfn woit, dCn Italien :
dai limet den wisen allen.
(Vera 157 ff.)
wis karc wider den kargen,
gpolle des müden noch des argen,
unt nft ouch niht den riehen:
96 lebestä tugenttichen.
(Vers 183 ff.) ')
wia ein kini an der eiche,
wli wise mit der «präebe,
wJE TergeiicD an der vfentschaft:
vergib, dat ist tugenlhaft.
(Vera -211 ff.)»)
Vermit höchvart unde ntt,
haiie niom zuo aller zO,
unde trag niht lange diaen loni:
so ist dfn heue wo! geborn.
(Vera 817 ff.)S)
habe leioez herze, guote sile,
luhl, kiuscheit da mite,
schäm und triuwe du niht verU:
s6 volget dir heil und ere si.
(Vera 359 ff;)*)
vUi dich sch<Bner gebsere,
sage niht schalkes maere,
wis biderbe unt wol gezogen:
%i biat lobes unbelrogen.
(19 ff)*)
Zur Abrundung des Bildes, das wir uns von der Überlieferung
Htii die Wende des 12. Jahrhunderts zum 13. zu machen haben,
^tttgon die dürftigen Spuren des Priamelvierzeilers in sonstiger
Itiiiiantia.. nini,tnng ffenig bei. Scherer traute wohl den öster-
aber noch zwei Verse.
ert, die Form ist leratört; es fragt sich auch, ob Vers
11 311/13 bildet. Haupt intcrpungiert hinter 212. Dem
amt keine Allgemeingfiltigkcit zu; vergl. im 3. Vera ^mir'^
len 2 voib ergeben den Verseil ausgelassen.
*) B weicht Töllig ab.
301
reichischen Adligen Improvisationen zu^); der spätere höfische
Minnesang aber verschmäht den Vierzeiler ebenso wie die höfische
Epik^)^ vielleicht Wolfram ausgenommen, der im Willehalm
280, 17 ff. an einer von den Quellen unabhängigen Stelle den
Vers improvisiert^):
wan jämr ist unser urhap,
mit jdmer kom wir in das grap,
ine weiz wie jenez leben erget:
alsus diss lebens orden stet.
Da könnte denn doch der Priamelvierzeiler eingewirkt haben.
Epigramme sind oft mit geschliffenen Steinen verglichen. Wenden
wir den Vergleich auf unsere Vierzeiler an, so dürften wir die
höfischer Standes-Dichtung entstammenden Exemplare trotz des
wohl zu erkennenden künstlichen Schliffes meist doch nur als
Halbedelsteine bezeichnen. Die kleine enge Form verlangt realen
Inhalt, Blut und Leben. Die Abstraktion ist des Priamels Tod.
Soll abstrakter vergeistigter Gehalt jene Vorzüge, wo sie fehlen,
aufwiegen, so muß, wie bei Goethe, ein ganz bedeutendes indi-
viduelles Moment Ersatz bieten.
An die Quelle volkstümlicher unverfälschter Gnomik leitet
seine Leser Hugo von Trimberg. Trotz gelehrter Anwandlungen
kehrt er im Alter zu deutscher Poesie zurück und schafft unter
Ohrensausen, Augenschwäche und Beschwerden des Alters in
kümmerlichsten Lebensverhältnissen ein Werk, das als vollgültiges
Zeugnis für volksmäßige Überlieferungen überaus wertvoll ist. Auch
für den Priamelvierzeiler. Hugo unterscheidet in seinem Werke
Wachs und Honigseim*):
honicseim bediutet der heiligen lere,
der beiden Sprüche habent ouch Sre
und sint manigen enden wert.
Wir wären ihm dankbar, wenn er das wertlosere Wachs be-
vorzugt hätte; aber die Quellenuntersuchung kann nur in einem
0 Kleinere Schriften 1, 702.
^) Wie zu erwarten, kommt priamelähnliche Stilisierung von 4 Zeilen
vor (z. B. Typus A: Armer Heinrich 422 ff. Willehalm 368, 17 ff. Tristan
3495 ff., Typus C : Erec 7339 ff.), aber kaum je als bewußte Kunstübung.
3) Über Wolframs Vortrag spricht Martin im Kommentar S. LXXIV.
*) 24464 ff.
302
alles erwägenden Zusammenhange erfolgreich sein, nnd deshalb
soll und kann hier Ehrismann nicht vorgegriffen werden^).
Den priamelhaften Vierzeiler liebt Hugo sehr. Vier hinter-
einander erscheinen 17586 ff.:
Swer niht wil lernen und lützel kan,
und swer stner künste nieman gan,
und swer genuoc kan und Übel tuot:
die drt uns^lde sint niht guot.
Swer hin gibt biz daz er betein g6t,
und liuget, biz nieman im gest^t,
und dröet, biz nieman üf in ahtet:
der hat sin 6re niht wol betrahtet.
Swer sich langer kriege rüemet,
und von vil wunden sich üf tüemet,
und daz er habe verspilt vil guotes:
der mac wol sin tummes muotes.
Swer rüemet sich, daz er niht enkan,
und swer niht ahtet üf den ban,
und pfaffen und geistliche Hute un6rt:
der lobe got, wirt sin heil gemärt*)!
An den ersten Vierzeiler fügt er wie die Volksimprovisation
von heute die Erläuterung durch einen zweiten:
Swer werltliches guotes lUtzel ahtet
und n&ch ewigen seiden trabtet
und hat einen wol erliuhten muot:
diu driu dinc sint besunder guot.
Vor dem ersten ist niht erlicher,
vor dem andern ist nibt niizlicher,
niht volbrengelicher vor dem dritten,
daz disiu zwei besliuzet mitten 3).
Gelehrte Beflexion zersetzt die Form:
Rouch, Übel wip, dUrkel dach
füegent manic ungemach,
diz schribet der wise Sdlom6n:
selic ist, der sich ziuhet da von.
1) Ehrismanns unermüdlicher Güte verdanke ich die Herstellung der
hier gegebenen Rennercitate.
*) Auch drei nicht echt priamelhafte Vierzeiler verbindet Hugo 5301 flf.
3) 21112 ff. Vergl.Hru8chkaundToischerS.221.Nr.214f.obenS.226.
303
Diu troufe ist boesiu gewonheit,
der rouch ist unverstandenheit,
unser schedlich vleisch bediutet daz wip:
disiu driu verderbent sele und lip ').
Die übrigen werden nach den drei Typen geordnet.
Typus A.
Vorzügliche Preidanksprüche und Freidankmotive wiederholt
und variiert er mit Wohlgefallen. So Freidanks ersten Priamel-
vierzeiler:
Man spricht: swer in dem sacke koufe
und ofte sich mit tören roufe,
und borge sin guot ungewisser diet:
der singe vil ofte daz klageliet^).
An einen oben wiedergegebenen Freidanksprach knüpfte die
2. Zeile des Priamelvierzeilers vom Märzengrün, der im 15. Jahr-
hundert mehrfach bezeugt ist und bis heute fortlebt:
Man sprichet: si der merze grüene,
und ein tummer pfaffe küehe,
und ein jungiu meit zu halt:
die werdent selten mit 6ren alt^).
Für folgenden Spruch ist oben ein älteres Motiv erschlossen:
Herren gunst, aberillen weter,
frouwen gemüete und riusen eter,
Würfel, ros und vederspil:
triegent ofte, swerz merken wil*).
Nach solchen längst festgewordenen Vierzeiler-Typen hat
Hugo nun viele neue Sprüche gebildet, die er meist mit morali-
sierendem Inhalt erfüllt.
Swelch münich üz sinem cl6ster loufet
und in der werlde sich besoufet
und niht durch got vert wider in:
der möhte lieber in der werlde sin*).
1) 20291 ff. Stoffgeschichtliches bei Köhler-Bolte 2, 127. Innocenz
(Patrologia 217, 710 c) 1, 119: Tria sunt, quae non sinunt hominem in domo
pennanere, fumus, stillicidium, et mala uxor; Die Deutung fehlt hier. Prov.
27, 15 sind nur 2 Dinge genannt.
2) 6197 ff. 3) 12456 ff. *) 12474 ff. *) 3050 ff.
304
Swem triuwe, zuht und bescheidenheit
leident und wäriu einveltikeit,
und die sich gar verschemet haben:
die süln mit boesen herren draben^).
Erfreuen die mnl. Vierzeiler, die gegen mittelalterliche Lebe-
männer sich richten, durch volle Lebendigkeit, gemischt mit ein
wenig Sarkasmus, so redet aus Hugo der Pedant:
Swer roubet, luodert unde stilt,
gesuochet, borget unde spilt,
und niht willen hat zu gelten:
der sol zu himel komen selten 3).
Wizzety daz tegellch gegihte,
und vor gerihte valsch getihte,
und alle tage krüt mit nihte:
sint driu jSmerlich gerihte 3),
Swer lebet im selber ordenlich,
Slnem ebencristen geselleclich,
und ouch gein got diemüeteclich:
des s61e ist s^iic 6wiclich^).
Eine lateinische Fassung dieses Spruches ist in dem Oedenk-
buch des Hans von Mengershausen aufgezeichnet: Si vis
habere bonam vitam, Ordinate vivas coram te ipso, Socialiter coram
proximo, Humiliter coram deo^).
Trabtet ein riebe man umb guot,
und hat ein armer tratzen muot
und hat ein alt tumme site:
da wonet lützel seiden mite^).
1) 6865 ff. 3) 7348 ff^ yergi. oben S. 275.
3) 8721 ff. (8721bff. Ehrismann).
^) 18064 ff. Als Sprach des h. Bernhard. Das Motiv der durch reichen
Beim verbundenen Begriffe ist von den Mystikern fortgebildet. Bartsch,
Quellenkunde S. 313. Hätzlerin 2, 61. Germania 1888 S. 162. Volkstüm-
liche Verse, deren Schluß Wörter auf ly ausgehen, Babees Book S. 58.
^) Spiel und Span genberg, Neues vaterländisches Archiv oder Bei-
träge zur allseitigen Kenntnis des Königreiches Hannover und des Herzog-
tums Braunschweig 1831, 2, 162.
^) 20932 ff. Im Grunde sind es die Gedanken des Liber Ecclesiastici
25, 3. Zu Vers 2: Loewer, Quellenstudien S. 27. Zur Dreiheit der Fehler
Loewer S. 88.
305
Die wile man kirchen und antliz suochet,
die wile man toufe und bihte geruochet,
die wile man messe und predige hoert:
so wirt unser geloube niht zestoert^).
Wan hier und met und starker win,
tanz, spil und tummiu frouwelin,
und viretegelichiu müezikeit:
tuont vil m6r Übels denne guot arbeit^.
Das Sprachmaterial dieser Art ist aber bisweilen weder recht
volksmäßig, noch echt priamelhaft; es trägt den Stempel des
Individuellen, nicht des Gemeingültigen.
Sit vride and barmherzikeit,
wärheit unde gerehtikeit
wonent dem obersten rihter bi:
welch rihter ist unrehtes vri*)?
Uozimlich schimpfen, unzimlich sehen,
unzimlich k6sen, unzimlich spehen:
machent leider sUnden vil,
der ich ein teil iu künden wil^).
In einem andern Fall hat willkürliche Beflexion ein volks-
mäßiges Motiv verunstaltet. Der so entstandene Vierzeiler ent-
behrt des Ebenmaßes der Form und nähert sich den Beispielen
des Welschen Gastes.
Swie gr6z, swie starc, swie rieh des guotes,
swie wol gevriunt, swie rieh des muotes
ist ein man, hat er nicht witze:
so muoz er als ein t6re besitze^).
Viele Sprüche bleiben denn auch priamelhaft unentwickelt.
Vergl. 831 ff. 9500 ff. 10786 ff. 10818 ff 13324 ff. 15358 ff.
17758 ff. 17816 ff.
») 21853 ff. Gegenstück 17082 ff. Fsp. 293, 10 ff. Vergl. das all-
gemeine Motiv oben S. 290.
«) 22476 ff. 8) 87i7i> ff. 4) 11774 ff.
^) 2152 ff. Das Motiv, inhaltlich umgekehrt, Göttinger Beiträge 2, 18.
Baling, Priamel 20
306
Typus B.
Halp visch, halp man ist weder visch noch man.
halp pfaffe, halp leie ist weder pfaffe noch man.
gar pfaffe, gar leie ist ordenlich:
halp diz, halp jenz ist effenlich^).
Boethe weist in Hugos Versen Nachahmung Beinmars
nach^). Zu Grunde liegt ein Volksspruch, der heute noch
improvisatorisch behandelt wird; z. B.
A Schwalbn macht koan Suma,
A Deandl koan Tanz;
I mag net das Halbi,
Was i wil, wil i ganz 3).
Halbs und halbs hast mi gearn,
Halbs und halbs net.
Sollst mi halb und halbs aa net han,
Liaba goar net^).
Halb und halb möchts mi schon,
Halb und halb nit,
Halb und halb mag i nit,
Lieber gar nit'^j.
Heimlich ist ein betelmüs,
heimlich unört wirt und hüs,
heimlich lestert sippe teil,
heimlich briuwet der s8le unheil^).
Ein gröz dinc, swer sin vleisch hie twinget,
ein grcezer, swer wider begerunge ringet,
daz aller groezte, swer eigen willen
13t durch got und sich kan stillen^).
1) 17898 a ff.
3) Reinmar von Zweier 129, 4. Roethe S. 603.
3) Werle, Ahnrausch S. 255. 144. 145.
*) Gundlach S. 144. Nr. 694. Pogatschnigg und Herrmann,
Deutsche Volkslieder aus Kärnten 1', 97. Nr. 462.
6) Pogatschnigg und Herrmann P, 338. ^r. 1594. Vgl. auch Nd.
Korrespondenblatt 23, 91. 93.
6) Renner 20657 ff.
^ 24128 ff. mit Berufung auf Gregorius. Vergl. zu Freidank 64, 18
und Herders Vierzeiler: Tapfer ist der Löwensieger.
307
Typus C.
Ein herre kn 6re zimt als wol:
als ein schoene sal mistes vol,
buoche äne loup, houbt äne här,
velt äne gras, tier zageis bar^).
Oenan so faßt moderne Vierzeiler-Improvisation Ketten von
Vergleichen pointiert zusammen.
Und a Liab ohne Freud:
Is a Wagn ohne Rad,
Is a Bam ohne Blat,
Is a Bild ohne Gnad.
Werle, Almransch S. 103. Greinz und Kapferer, Erste Samm-
lung S. 3.
A Bua ohne Geld:
Is a Nuß ohne Kern,
Wia a Kerzn ohne Liecht
In aner Lateru.
Pogatschnigg und Herrmann 2, 35. Nr. 127.
Auch die andern Typen sind für dieses Motiv entwickelt.
A Bam ohne Blüeh,
Und a Wagn ohne Rad,
Und a Lieb ohne Freud:
Is a Bild ohne Gnad.
von Hörmann, Schnaderhüpfehi' S. 341. Nr. 933^).
A Jahr ohne Mai,
A Zweig ohne Blatt,
A Lieb ohne Treu:
Is a Bild ohne Gnad.
Pogatschnigg und Herrmann 1', 384. Nr. 1795.
Und a BUchs ohne Hahn
Und a Dirndl ohne Mann
Und a Jaga ohne Schneid:
Alle drei tbuan's mir leidl
Greinz und Kapferer, Erste Sammlung S. 62.
A Fisch ohne Schragn,
A Stuhl ohne Fuaß,
's Mentsch ohne Schneid:
Is net guat, wan ma muaß.
Werle S. 33.
1) 970 fif.
2) Vergl. Indische Sprüche übersetzt von L. Fritze Nr. 360.
20'
308
Ein andres Schnaderbüpfel verbindet Steigerung mit Nutz-
anwendung. ^ ^^ ^^^ g„^„
Und ka Nacht ohne Stern,
Und ka Herz af dei Welt,
Das kan anders hätt gern.
Pogatschnigg und Herrmann 1, 365. Nr. 1556.
Das führt unmerklich zu einer neuen Improvisationswendung:
Is ka Berg ohne Land,
Und ka Bam ohne Lab,
Ka Mflhl ohne Stan,
I bleib nit allan.
A. a. 0. 2, 204. Nr. 617. P, 1. Nr. 4.
Is koan Bam ohne Lab,
Is koan MUhl ohne Stab,
Is koan Berg ohne Stoan :
I bleib a nit aUoan.
V. HörmannS S. 58. Nr. 156.
Variante der beiden letzten Verse:
Und koan Haat ohne Schnuar:
Und kan Dirn ohne Bua.
A. a. 0. 340. Nr. 928.
Auf den einfachen Vergleich reduciert erscheint das Motiv
bei Werle, Almrausch S. 132:
A Hoazat ohni Musi
Is a Liab ohni Freud;
Und das is a guats Fuata
FUr d' Langwaligkeit^;.
Wilhelm Müller hat das Motiv sich in seinen Epigrammen
wieder nicht entgehen lassen.
Was ist das Herz ohne Liebe?
Wie ein Land ohne Herrn,
Wie die Nacht ohne Stern,
Wie der Becher ohn Wein,
Wie der Vogel ohn' Hain,
Wie ohn' Aug* ein Gesicht,
Wie ohn' Reim ein Gedicht:
So ohne der Liebe Scherz und Schmerz
Das Herz 2).
1) Wie Prov. 11, 22.
2) W. Müller, Vermischte Schriften hg. v. Schwab. Leipzig IL 1880.
Epigramme. Erstes Hundert. Nr. 10.
309
Sus slahe wir der werlde trumtnen:
ein touber spottet ofle eins stummen,
ein alter töre eins jungen tummen,
ein lamer gickelt fif den krummen^).
Cristengeloube sich schier zetrennet:
swä ein orden den andern bennet,
swä man zu priester wihet kint,
swä geistliche Hute vreislich sint').
Wir sölten haben zu aller stunde,
driu dinc: gotes lop in dem munde,
an dem libe stner marter smerzen,
siner süezen minne viur in dem herzen').
Einige Drei- und Fünfzeiler kommen diesen Beispielen sehr
nahe. _. .
Typus A.
Wan mete, hier und guoter win
und alle tage mit voller spise:
machent vil manic herze unwise^).
FUnde wir einen tempel, in dem wir sezen,
mit spil, mit schimpfen trunken und Izen,
da man unsem willen tete
und unsers guotes uns niht bete:
di liefen junge und alte hin^).
Vergl. 7086 ff. 10302 ff.
Typus B.
Lazheit hat manige tugent vertriben,
lazheit verderbet manigen pfaifen,
lazheit machet tdren und äffen:
lazheit und boesiu gewonheit
verderbent noch die kristenheit^).
1) Kenner 16106 ff.
2) 17082 ff. Eine Umkehrung des Frei dank-Spruches 60, 9 ff. Gegen-
stück Renner 21853 ff.
8) 22684 ff.
*) 9397 ff. Andere Dreizeiler ohne entschieden priamelhaften Charakter
21185 ff. u. ö.
^) 5016 ff. 5043 ff. Während Hugo solche gewünschte Dinge in das
Reich der Vorstellungen verweist, ist spätere Dichtung herzhafter (Altdeutsche
Blätter 1, 75. Nr. 12. Hätzlerin 2, 57, 208 ff. Göttinger Beiträge 2, 79,
Nr. 65), die Yierzeilerpoesie begehrlich (Pogatschnigg und Herr mann 1,
42. Nr. 197. Dunger, Rundas Nr. 243).
6) 16863 ff.
312
Vieles andre Sprichwörtliche hat Jakob Cats im Spiegel der
alten und neuen Zeit^) zusammengestellt.
Dagegen folgt die lateinische Übersetzung der Wiener Hand-
schrift 3192, Bl. 10 offenbar dem deutschen Priamel.
Decipiunt multos, ut dos docaere priores,
Et favor haut durans principis atque ducum
Et miüiebris amor, nee non Aprile serenum
Stabile ut folium, quod rosa pulchra gerit,
Nisus et accipiter roulto discrimine equusque
Tractatur, tocies tessera vota negat.
Sententia.
Herren gunst, abereilen wetter,
frawen liebe und rosen bletter,
roß, wirifel und iederspil:
betriegend manchen, der eß glauben wil.
Dem fün&ehnten Jahrhundert gehört die Fassung:
Herren gunst und apprel wetter,
Frawen muot und rosen pletter,
Ross, wttrffel und sedenspil:
Die trigen mangen, der in gelauben wiP).
Die Fassung des letzten Verses scheint ursprünglicher zu
sein, als die Hugos. Noch Cats kennt das Motiv in aer sehr
einfachen Prägung :
Wintersche nachten,
Vrouwen gedachten,
En gunste van Heeren:
Siet men fast verkeeren').
Der Spruch vom Bayern-Wein, jungen Wölfen und Juden
(22570 ff.) scheint formell unfertig.
Im übrigen ist der ßau des Priamel Vierzeilers bei Hugo oft recht
volkstümlich. Die Priamelform liebt auch äußere Gleichförmigkeit
am Ende und am Anfang der Zeilen. Durchgereimt sind 8721 ff.
17758 ff. 18064 ff.; die Wiederholung des Anfangswortes durch
zwei oder alle Zeilen verschmäht Hugo nicht (20657 ff. 11774 ff.
Mone nicht an; die 506 f. sonst erwähnten stammen aus dem 12. bis 14. Jahr-
hundert. MSD» XXVII 208. 61. 2, 148 f.
1) S. 230 ff. Yergl. Zs. f. deutsche Philologie 19, 457. Preußische
Jahrbücher 85, 365 ff. und Wand er.
8) Clm. 4394, 192. Catalogus HI 2, 158 f.
») Cats S. 281.
313
17898 ff.)? ^16 sie Doch die Improvisation des heutigen Schnader-
hüpfels mit guter Wirkung übt*). Individueller Witz fehlt;
was davon vorhanden ist, gehört der Überlieferung. Ein glück-
liches Bild fällt Hugo ein, wenn er ausfährt, wie wir die Ver-
kehrtheiten der Welt mitmachen: wir schlagen die Trommel der
Welt (16106 ff.). Selten wird er satirisch (17082 ff.), auch wenn
er gegen Halbheit (17898 ff.), Heimlichtuerei (20657 ff.), böse
Herren (6865 ff.), Richter (8717 ff.), Mönche (3050 ff. 17816 ff.),
verkehrte Rinderzucht (9500 ff.) eifert.
Für den niederdeutschen Priamelvierzeiler des 13. Jahrhunderts
fehlen, wie es scheint, die Belege. Vorhanden war er doch wohl.
In durchgereimter lockerer Form zeigt ihn Gottfried Hagens
mitteldeutsche Beimchronik (5326):
Meineidigen inde logenere,
vereder inde drogenere:
verleisent gerne ir werelt ere,
dar zo sint si gode unmere.
In den 1 50 Jahren literarischer Überlieferung, die wir soeben
durchgemustert haben, sahen wir den Priamelvierzeiler in stetiger
Ausbreitung sich seinen Platz in der Literatur sichern. Im Süden
spärlicher, aber trefflich vertreten, blüht er am üppigsten in
Mitteldeutschland, dessen lehrhafter Neigung er entgegenkam.
Der deutschromanische Thomasin hat kein rechtes Verständnis
für diese eminent volkstümliche Form, der Verfasser des kleinen
Lucidarius, der Dichter des Buchs der Bügen und viele andre
Süddeutsche üben sie nicht. Norddeutschland ist erst durch
ein literarisches Beispiel vertreten, nicht als ob der Priamel-
vierzeiler dort in volkstümlicher Dichtung 2; gefehlt haben könnte,
sondern die Dürftigkeit mittelniederdeutscher literarischer Über-
lieferung des 13. Jahrhunderts ist schuld daran, wenn er nicht
bezeugt wurde.
Der Priamelvierzeiler ist so praktisch und volksmäßig von
Natur, daß er in der künstlicheren Poesie des Minnesanges
untergehen muß. Nur der älteste Minnesang wies Spuren von
ihm auf. Die Poesie der Bildung ist ihm nicht günstig, sie
droht ihn durch Vorwiegen des Gedankens aufzulösen und erzeugt
') Hauffen, Zs. für Volkskunde 4, 15. Grasberger S. 59. 38.
^) yergl. spätere Freidank- und Bennerübersetzungen.
314
Gebilde, die etwas zwitterhaftes und unbefriedigendes haben.
Selbst bei Hugo von Trimberg sind die echt volkstümlichen
Exemplare in der Minderzahl, aber gerade diese haben ihre
Lebenskraft auf viele Jahrhunderte hinaus bewahrt.
Die Form hat etwas Konstantes, wie alle Volkspoesie, und
vereinigt den Charakter einer primitiven Improvisation mit der
Bestimmtheit und Stabilität des reifen Alters ^). Die Entwicklung,
die der Vierzeiler durch die Literatur erfahrt, konnte allerdings
seinen Inhalt unendlich erweitern und vertiefen, an seine lyrische
Vorform anknüpfend das Moment der Stimmung mehr zur Geltung
bringen, aber der festgefügten bereits fertigen Form, abgesehen
von stilistischer Verfeinerung und größerer syntaktischer Regel-
mäßigkeit eigentlich nichts Wertvolles hinzufügen. Zauberformel,
Segen, Wunsch, Gruß, Rätsel, Kinder -und Volksreim bedienen
sich der ungemein bequemen Form, ohne daß der Inhalt mit ihr
stets zu einer in höherem Grade charakteristischen Einheit ver-
schmilzt; ebensowenig kann die mehr oder weniger individuelle
Verwendung bei höfischen und gelehrten Dichtem die Grundlage
für Ausbildung des Priamelvierzeilers als specifischer literarischer
Gattung schaffen. Was aber in dieser Form echt volksmäßig-
epigrammatischen Inhalt bietet, das hat sich auf die Folgezeit
gerettet; man hatte diesen kleinen glücklichen und vollendeten
Gebilden nachdenklicher oder heiterer Volksphilosophie eben nichts
hinzuzufügen.
Sammelwerke wie Freidanks Bescheidenheit und Hugos Renner
sind im 14. und 15. Jahrhundert nicht mehr unternommen, und
das ist der Grund, weshalb die Produktion jetzt zunächst bei
oberflächlicher Betrachtung weniger reichlich zu werden scheint.
In Wirklichkeit ist es umgekehrt. „Sowie im Laufe des 14. Jahr-
hunderts die mittelalterlichen Dichtungskreise sich ausleben, rührt
sich in den poetischen Leistungen der Zeit wieder die un verlorene
Volksart. Es schlägt der Ton durch, es entbindet sich der Geist,
darin die geschiedenen Stände sich als Volk zusammenfinden und
verstehen*)." „Now for the first time sinco the decay of classic
literature, people at large began to give way to emotional intro-
') Comparetti, Der Kalewala S. 33.
v2) Uhland, Schriften 3, 4.
315
spection; now for the first time they dared to throw oflf the
disguises of rank and Station and lay bare the human heart which
is hidden under it all. — It is as though the circulation of the
national body had been quickened and its sensibilities heightened,
as though people were seeing with keeuer eyes and listening with
more receptive ears, as they were gathering the thousandfold
impressions of the inner and outer world^)."
Vorderhand wandelt Süddeutschland in den alten Bahnen
fort, man improvisiert unermüdlich über die einmal angeschlagenen
Motive. Die sogenannten unechten Freidankverse leiten zunächst
vom 13. Jahrhundert ins 14. hinüber.
Keiser mit demuot,
und ritter mit guot,
und langen man wisen:
der lob sol man prisen^).
Freidank, dem dieser Spruch nachgebildet ist (85, 19),
klagte noch nicht über die verarmten Ritter. Von W. Grimm
aus mittelniederdeutscher später Vorlage rekonstruiert ist folgen-
der Vierzeiler:
Alter pfaffen kuonheit,
junger nunnen staetekeit
und ohsen zelten:
wirt gelobet selten 3).
Aus dem Ende des 13. Jahrhunderts stammt der bayerische
Freidank-Vierzeiler:
Swer über haupt vicht,
und in dem wazzer drischt,
und welibt auf den regenbogen:
der wirt vil dicke betrogen*).
Die sorglose metrische Form und die sprichwörtlichen Wen-
dungen sichern diesen Versen wie den folgenden den volksmäßigen
Ursprung:
')Kuno Francke, Social forces in German Literature. New- York
1896. S. 105. 118.
*) Liedersaal Nr. 253, 43. Auch in der Hs. des Liedersaales sind
die Vierzeiler lose in größere Spruchreihen eingefügt.
3) a. a. 0. 34. Die mittelniederdeutsche Fassung oben S. 287.
*) Pfeiffer, Freie Forschung S. 233. Vers 3 ,und der', Grimm
a 84. Üatalogus XXI, 2, 19. Zingerle S. U9f.
316
Ez sint drtt dinc alleine
aller manne gemeine:
pfaffen wip und spiler win,
begozzen brot magz dritte sin *).
Eine vielleicht ältere rohe Fassung mit bloßer Assonanz
wahrt die synthetische Form^).
In der Handschrift des Liedersaales ist mit Benutzung zweier
Freidankyerse (41, 6) der Vierzeiler gebildet:
Wer gern verlüset und gern hilt,
und gern fint und gern stilt:
wil man nennen den nach recht,
so haist er ein böser knecht^).
Dieselbe Handschrift bietet noch folgenden Priamelvierzeiler:
Ein katz und ain muz,
zwen han in aim huz,
ain alt man und ain jung wib:
belibent selten an kib*).
Hier sind zwei verschiedene Fassungen kontaminiert; die
eine kontrastiert einfach Gegensätze, die zweite stellt jedesmal
zwei Bivalen einander gegenQber. Diese ist rein erhalten in dem
picardischen Proverbe, in nl. und englischer Überlieferung; jener
folgt auch der Vierzeiler der Hulthemschen Handschrift:
Daar twe hauen sijn in een huus,
Ende een catte ende een muus,
Ende een oudtmann ende een ionc wijf:
Dat huus steet seiden sonder kijf*).
*) Mones, Anz. 4, 58. W. Grimm, Kleinere Schriften 4, 33. Bezzen-
berger 109, 13a. Renner 17536 ff.
') Diutisca 1, 325. Assonanz im Schnaderhüpfel : Grasberger S. 34.
^) Grimm S. 218. Die Verbesserung ,nennen' statt ,nemen* hat
Grimm yorgeschlagen. Ich habe die Stelle im Liedersaal nicht gefunden.
*) LS. 197, 11. Göttinger Beiträge 2, 52f., Nr. 13, 14. Freidank
138,13. LS. 236, 71. Vintler 8954 ff. Ord-Bog S. 180. Zingerle
S. 74, 169. Zum Motiv Kpu7rcfl?5ia 4, 121. Nr. 206 und der picardische Spruch
des 13. Jahrhunderts S. 76. Reimbüchlein 2222 f., 2438 ff. Gundlach
Nr. 758. Wegen er S. 231. Nr. 789. Nur modernisiert und verballhornt
ist der Spruch in F 86b, Sp. 2: „Ein kacz vnd racz vnd ein maus Vnd
zwen bannen jn eym haws Ein jung weip vnd ein alter man Dj sehen selten
gutlich an einander an.**
^) Belgisch Museum 1, 112. Ähnlich Meijer, Oude nl. spreuken S. 108*
317
Nabe stehen sich andrerseits die Glasschrift:
Twee kalten aan een muus,
Twee vrouwen in een huis,
Twee honden aan een been:
Komen zelden over een ^).
und der englische Vierzeiler:
Two cats and a Mouse,
Two Wives in one House,
Two Dogs and a Bone:
Never agree in one^).
Een Moeder te Sevenhoven, vragde haar Son, welke die strydige dingen
waren, die nooit konsten gepaart worden: daar hy op antwoorde.
Twee Wolvcn, by een Schaap,
Twee Geuzen, by een Paap,
Twee Snyers, by een Luis,
Tween Katten, by een Muis^).
Verblaßt, fast blind geworden, scheint das Motiv in einem
Lübecker Vers:
Eija Bruramsuse:
Twee Wegen in enen Huse,
En uppe Deel un en upn Böhn,
En lUtt Dochter un en lUtt Söhn,
Wenn de beden ümrocr gnnrrn:
Da kann man woU wunnerlich warden^).
und im Schnaderhfipfel :
Zwa Berg und zwa Tal,
Und zwa Räpplan in Stall,
Und zwa Buebn af a Diendle:
War z' viel af amaP).
Zwa Köpf und oan Sinn,
Zwa Herzl, a Freud,
Zwa Biabl treu liabn:
Lauta Unmöglichkeit^).
>) Opschriften 3, 44.
^) Xanthippus S. 155 des Separatabdrucks.
'; Opschriften 2, 39.
*) Schumann, Nachtrag S. 189. Nr. 39b.
^) Pogatschnigg und Herrmann 1^, 141. Nr. 696.
«) Ebenda V, 144. Nr. 712.
318
ZwcM sdmeewdßi Strtaipf,
Zwo« Ring af oan Fingai:
Is a sakrachcs Dii^*).
A söhs Büabl Mahn,
Dös ba rwoa Diandln leidt:
Das is jnst wias Messa,
Das af boad Seitn sdmeidt^.
Vielleicht lehnt sich an die Bescheidenheit (49, 9) ein noch
heute ans der Eifel bezeugter Sprach der Straßborger Hand-
schrift vom Jahre 1384:
Müsige hant,
und schönes gewant»
und Hht gewunnen guot:
Die drü dinge die machent grosen tibennuot').
Schmitz gab den Vers als Sprichwort des Eifler Volkes so
wieder:
Blächtige Hand,
schönes Gewand
und leicht gewonnen Gut —
machen großen Obennut ^).
Erst ans dem 15. Jahrhundert ist als Freidankvers über-
liefert:
Vil gegerd und nicht gevangen,
vil gehört und nicht verstanden,
vil gesait und nicht gemerkcht:
das sint alles verloren werich*).
Wenig weicht eine mnl. Fassung desselben Jahrhunderts
ab, wahrscheinlich zu Brügge aufgeschrieben:
») Werle S. 33.
3) Werle S. 158.
') Diutisca 1, 326. Normalisierte Lautgebong in Wacker nageis
Lesebuch P, 1168.
^) Sitten und Brftuche u. s. w. 1, 185. Nr. 42.
^) Grimm 4, 28. Cato 51: ,swer liset des er niht verstät, wie gar
er sich versümet hat.' Mehr Temperament zeigen mnd. und romanische
Sprüche derart. Reimbüchlein 1820. Archiy für nenere Sprachen 43, 69.
319
Vele ghejaget ende niet ghevanghen,
Vele ghehoort ende niet verstanden,
Vele ghesien ende niet te merken:
Dat zijn alle verlooren werken^).
Von späteren Fassungen sei zur Erläuterung erwähnt:
Vill gejagt und nihts gefangen,
vill gelessen und nihts verstandten,
vill gehörtt und nihts gemörckht:
das sein 3 verlohren werckh').
Glas -Schrift.
Wagten en niet te komen.
Sonder slapen in't bed te dromen,
Dienen en noit van pas te maken:
Zyn drie dingen om om den hals te raken^).
Herder brachte diesen Vierzeiler in folgender Form wieder
in Kurs: ^r i • . r
Viel gejaget, wenig gefangen,
Viel gehört, wenig verstanden.
Viel gesehn, nichts gemerkt;
Sind drei vergebliche Werk*).
Das Kontrast-Motiv dieses Pseudo-Freidankspruches benutzt
der Vierzeiler:
Lieb [han und ntit] sehen,
für gon und nUt jehen,
ist das für druren guot:
so git es mir mengen hoen muot^).
*) Priebsch, Deutsche Handschriften in England 1, 175.
^) Aus dem Reimbüchlein des Klosters MüUn bei Salzburg. Seufferts
Yierteljahrsschrift 6, 446. Wenn auch die Niederschrift dem 17. Jahrhundert
angehört, sind die Bestandteile doch zum Teil viel älter.
') Opschriften 1, 8.
*) Suphan 25, 519. Nr. 7.
') Mones Anz. 3, 291. Es folgt der Zusatz: ich verswig und lid
und vertrag, biß es besser werden mag. Hoffmann, Findlinge
S. 460. Nr. 209. Liedersaal 184, 3—6.
Sitzen und gedenken,
Ligen auf hörten benken,
Ist das für truren guot:
So hän ich oft ein guoten muot.
Cgm. 270, 220a. Mones Anz. 7, 500 ff. No. 17,
Beimbfichlein 795 ff. YgL 1269 ff. 2214 f.
310
Ein Vierzeiler individueller Form, in dem sieb Analyse und
Synthese verbindet, ist folgender:
Driu dinc sol man niht üf sparn:
siechen bihte und ir bewarn,
kindelin toufen und selgerete:
vil sselic were, swer di« tete').
Nocb individueller ist folgendes Priamel eingekleidet:
Mir Seite ein priester: daz beiriscb win,
Juden und jungiu wölfelin
allerbeste sin in der jugent,
in dem alter wehset ir untugent^).
Hugo fügt hinzu:
als bat noch tugent in siner jugent
manic mensche und in sfm alter untugent.
Ohne rechte Entwicklung der vorhandenen Qlieder bleibt
es in zwei aufeinander folgenden Beispielen folgender Art:
Diu heilige schrift, wazzer und gluot
sch6nent nieroannes und sint doch guot.
swer niht der heiligen schrift geloubt,
rechtes gelouben er sich beroubt.
Kunst jugent, friunde, ere und guot
verleitent maniges menschen muot,
daz er der werlde bi gestet
und ndch fleischlichem sinne g^t').
Drei schöne Bilder verbindet der formell recht unentwickelte
Vi 6 rz ei 1er *
Alters fröude und 4bentschin,
mUgen wol gelich ein ander sfn,
Si troestent wol und varent hin,
als in einem regen ein mttede bin^).
Noch formloser bleibt:
Swem guot, ^re, wip oder kint
lieber denne got üf erden sint,
der ist an zwifel ein tummer man
und betet hie sin abgöte an^).
>) 20365 ff. 2) 22570 ff. ^) 21827 ff.
*) 10362 ff. Vergl. 23009 ff. Roethe, Reinmar S. 281. J. Grimm,
Kl. Schriften 1, 205.
5) 11865 ff. 14406 ff. Vergl. die Erläuterungen des 1. Gebotes des
Dekalogs. Nicht als Priamel anzusprechen w&ren (Uhl, Die deutsche
Priamel S. 287 ff.) 548 ff. 3677 ff. 10017 ff. 11774 ff. 18800 ff. 19419 ff. 20359 ff.
311
Hugo von Trimberg verschmilzt Volkstümliches und mittel-
alterliche Bildung zu einer Individualität, in der sich ernste
Bedlichkeit, behagliche Trockenheit und eindringlich-lehrhafte
Pedanterie mischen. Die meisten seiner Vierzeiler ergehen sich
in allgemeinem Moralisieren, viele haben geistlich-gelehrten Inhalt^);
der ßest ist volkstümlich^). Das Alter solcher Motive volks-
tümlicher Dichtung ist chronologisch kaum zu bestimmen. Wenn
bei Hugo (970 ff.) zum ersten Mal im Priamel-Vierzeiler Zusammen-
gehöriges mit ,ohne' erscheint, so haben wir es doch schon in
Zaubersprüchen kennen gelernt, und die ältesten Bätsei benutzen
das Motiv wie der sogenannte Seifried Helbling. Moralisch
gewendet wird es in geistlicher Literatur, besonders in der Predigt.
In dem Gyprian zugeschriebenen Tractatus de duodecim abusioni-
bus saeculi (Patrologia ed. Migne 4, 947 ff.) wird im 6. Kapitel
der dominus sine virtute behandelt, wie im ersten bis zwölften:
sapiens sine bonis operibus, senex sine religione, adolescens sine
obedientia, dives sine eleemosyne, femina sine pudicitia, christianus
contentiosus, pauper superbus, rex iniquus, episcopus negligens, plebs
sine disciplina^ populus sine lege. Jünger sind törichte Streiche,
die Freidank (85, 5) und Hugo (6197) in übereinstimmender
Priamefform zusammenstellen; die Form wird wohl erst im
12. Jahrhundert geprägt sein. Kaum so alt dürfte die priamel-
hafte Form der Sprüche von Märzengrün (12456) und von
Herrengunst (12474) sein. Die Einzelheiten dieses Vierzeilers
sind der verschiedensten Herkunft. Lateinische Sprüche des
12. Jahrhunderts lauten:
Ridenti domino nee coelo crede sereno oder diffide poloque sereeno,
ex facili causa dominus mutatur et aura^).
So sind die Vers 548 f. aufgezählten Substantiva Umschreibung für Alle:
der Dreizeiler ist nicht epigrammatisch, ohne selbständigen Inhalt und ohne
selbständige Form. Es liegt auch, wie der Zusammenhang ergibt, kein
Dreizeiler vor. In der Übersetzung des bekannten lateinischen Satzes ist
(3677 ff.) weder Parallelismus noch Pointe zu ersehen. 19419 ff. erscheinen
gehäufte Subjekte und Objekte. U. s. w.
») 21112 ff. 20291 ff. 8717 ff. 18064 ff. 24128 ff. 22684 ff. 7348 ff.
3) 970 ff. 6197 ff 12456 ff. 12474 ff. 22570 ff. Satirisch 17082 ff. Geist-
lich 22684 ff.
') Mones Anz. 7, 507. Das Alter der Kloster -Neaburger Hs. gibt
322
14. Jahrhundert kurze gereimte Sprüche^), so gab es schon zu
Anfang des 1 5. Jahrhunderts deutsche prosaische Einzelsprüche in
Triaden und Quatrains. Mone hat Proben davon aus der Inders-
dorfer Handschrift 196 veröffentlicht^). Manche dieser Sprüche
sind priamelhaft bearbeitet^; andere schwanken wie die Sprüche
der Straßburger Handschrift zwischen Vers und Prosa; z. B.
Alter an witz,
weishait an werch,
hochfart an reichtum,
reichtum an ere,
adl an tugent,
herrschafil .an dienst,
volle an zucht,
stat an gericht,
gewalt an nutz,
jugent an forcht,
fraw an schäm,
geistlich leben an fried:
diese zwelf stücklach,
di machen in der werlt vi! ungemach^).
Den Niederschlag von Predigt und Traktatliteratur geben die
zahllosen Sprüche der deutschen Mystiker wieder^), welche zum
*) wie (Bartsch, Qnellenkimde S. 268 ff.) Sinnsprüche der Tagenden
nnd Laster.
^) Anzeiger 7, 500. Germania 33, 170 f. Lateinische Vorlagen za ein-
zelnen im Facetus bei Saringar, Van Zeeden S. 34 f.
>) Göttinger Beiträge 2, 81. No. LXIX. Mone No. 5. Pacetns 27.
Rasch, Nichts wehrt A II, 4; No. LXX. Germania 33, 170. Rasch B I;
No. LXXm. Facetas 29; No. XCIX. Facetus 87 and Saringar S. 57.
Mone Nr. 5 entspricht der No. 5 des Braoder Thüring in den Sprachen
deatscher Mystiker (Germania 3, 239), als Qaelle wird die Predigt bezeichnet.
Zam Schwanken zwischen Vers and Prosa: Geffcken, Bildercatechismas,
Beilagen S. 1 a. ö.
^) Indersdorfer Handschrift 196, 24. Leipziger Hs. H. 134b: 1 Weisheit.
6 lant. 9 genad. 12 orden. 13 Die zwelf stück. Die pringen der
werlt groß angelück. Vgl. Gedenkbach des Hans von Mengershausen
in Spiels Archiv 1831, 2, 162. No. 8. Reimbachlein 2491 ff. Weim. Jahrb.
3, 424. Goedeke, Gengenbach S. 424. Petri VI, J. Herder 25, 599 and
Redli ch 688. In FG 85 b, 2 darchgereimt. Nd. Jb. 7, 9. No. IL ühl S. 251 f.
Wanderhom 2, 790. Altdeatsches Herz and Gemüth S. 5. Borchling,
Reisebericht 2, 112.
") Preger, Geschichte der deutschen Mystik 2, 133 ff.
323
großen Teil aus Aufzählungen gewisser Gnaden, Sünden, Tugen-
den, guter Werke u. s. w. bestehen und in späteren Triaden und
Quaternionen benutzt sind. So trifft der Improvisationsvierzeiler
mit Formen gelehrter Didaktik zusammen. Bald stellt sich in-
haltlich neben die weltliche altvolksttimliche Überlieferung gegen
Ausgang des Mittelalters eine immer mehr erstarkende geistlich-
theologische mit der Tendenz, ebenfalls volkstümlich zu werden.
Volkstum und christliche Bildung sehen wir allmählich mit ein-
ander verschmelzen. Was Preidank und Hugo vonTrimberg
aus scholastischer und mystischer Theologie verarbeiteten, ist meist
nicht ins Volk gedrungen ; das war auch noch nicht möglich ; erst
mußten sich die Bettelorden und andere Verbreiter einer praktisch-
mystischen Frömmigkeit der Bildung des Volkes annehmen. Das
14. und 15. Jahrhundert fand bereits ein anderes Publikum, hatte
aber auch eine Theologie gezeitigt, die über die ältere Scholastik
und die romanische Mystik hinaus den Weg zu Eopf und Herz
des deutschen Bürgers gewann.
Wenig volkstümlich sind meistens die Beste eines Büchleins,
das sich ,sand Augustinus spruch^ nennt, erhalten in der
Handschrifb Cgm. 351, 173a. Bartsch hat sie ins ältere Mittel-
hochdeutsche übertragen^). Sie stellen einen ganzen Cyclus von
meist vierzeiligen Sprüchen dar, in denen jedesmal drei Tugenden
und drei Untugenden abwechseln, und erinnern an die französischen
Quatrains moraux: mit mancherlei Unterschieden. Die Quatrains
gehen nie, wie diese sogenannten Sprüche des Augustinus, über
die Vierzahl hinaus; im Französischen herrscht überall mehr
Reflexion, Begel und Formgefühl, weniger Volkstümlichkeit. Die
Quatrains sind meist direkt lehrhaft oder gelehrt, waren viel ge-
lesen, in Schulen eingeführt und die von Pibrac, Favre und
Matthieu bis ins 17. Jahrhundert im Gebrauch^). Man ver-
schmäht sichtlich den primitiven Parallelismus des Priamels zu
gunsten feinerer syntaktischer Mittel. Ein paar Beispiele mögen
das veranschaulichen.
^) In der Einleitung zu den Meistcrliedern der Kolmarer Handschrift
S. 125 ff.
^ Altdeutsche Blätter 1, 267.
21*
314
Gebilde, die etwas zwitterhaftes und unbefriedigendes haben.
Selbst bei Hugo von Trimberg sind die echt volkstümlichen
Exemplare in der Minderzahl, aber gerade diese haben ihre
Lebenskraft auf viele Jahrhunderte hinaus bewahrt.
Die Form hat etwas Konstantes, wie alle Volkspoesie, und
vereinigt den Charakter einer primitiven Improvisation mit der
Bestimmtheit und Stabilität des reifen Alters ^). Die Entwicklung,
die der Vierzeiler durch die Literatur erfahrt, konnte allerdings
seinen Inhalt unendlich erweitern und vertiefen, an seine lyrische
Vorform anknüpfend das Moment der Stimmung mehr zur Geltung
bringen, aber der festgefügten bereits fertigen Form, abgesehen
von stilistischer Verfeinerung und größerer syntaktischer Regel-
mäßigkeit eigentlich nichts Wertvolles hinzufügen. Zauberformel,
Segen, Wunsch, Gruß, Rätsel, Kinder -und Volksreim bedienen
sich der ungemein bequemen Form, ohne daß der Inhalt mit ihr
stets zu einer in höherem Grade charakteristischen Einheit ver-
schmilzt; ebensowenig kann die mehr oder weniger individuelle
Verwendung bei höfischen und gelehrten Dichtern die Grundlage
für Ausbildung des Priamelvierzeilers als specifischer literarischer
Gattung schaffen. Was aber in dieser Form echt volksmäßig-
epigrammatischen Inhalt bietet, das hat sich auf die Folgezeit
gerettet; man hatte diesen kleinen glücklichen und vollendeten
Gebilden nachdenklicher oder heiterer Volksphilosophie eben nichts
hinzuzufügen.
Sammelwerke wie Freidanks Bescheidenheit und Hugos Benner
sind im 14. und 15. Jahrhundert nicht mehr unternommen, und
das ist der Grund, weshalb die Produktion jetzt zunächst bei
oberflächlicher Betrachtung weniger reichlich zu werden scheint.
In Wirklichkeit ist es umgekehrt. „Sowie im Laufe des 14. Jahr-
hunderts die mittelalterlichen Dichtungskreise sich ausleben, rührt
sich in den poetischen Leistungen der Zeit wieder die un verlorene
Volksart. Es schlägt der Ton durch, es entbindet sich der Geist,
darin die geschiedenen Stände sich als Volk zusammenfinden und
verstehen^)." „Now for the first lime since tho decay of classic
literature, people at large began to give way to emotional intro-
') Comparetti, Der Ealewala S. 33.
^3) Uhland, Schriften 3, 4.
315
spection; now for the first time they dared to throw oflf the
disguises of rank and Station and lay bare the human heart which
is hidden ander it all. — It Is as though the cireulation of the
national body had been qulckened and its sensibilities heightened,
as though people were seeing with keener eyes and listening with
more receptive ears, as they were gathering the thousandfold
impressions of the inner and outer world^)."
Vorderhand wandelt Süddeutschland in den alten Bahnen
fort, man improvisiert unermüdlich über die einmal angeschlagenen
Motive. Die sogenannten unechten Freidankverse leiten zunächst
vom 13. Jahrhundert ins 14. hinüber.
Kaiser mit demuot,
und ritter mit guot,
und langen man wisen:
der lob sol man prisen^).
Freidank, dem dieser Spruch nachgebildet ist (85, 19),
klagte noch nicht über die verarmten Bitter. Von W. Grimm
aus mittelniederdeutscher später Vorlage rekonstruiert ist folgen-
der Vierzeiler:
Alter pfaffen kuonbeit,
junger nunnen staetekeit
und ohsen zelten:
wirt gelobet selten 3).
Aus dem Ende des 13. Jahrhunderts stammt der bayerische
Freidank-Vierzeiler:
Swer über haupt vicht,
und in dem wazzer drischt,
und welibt auf den regenbogen:
der wirt vil dicke betrogen*).
Die sorglose metrische Form und die sprichwörtlichen Wen-
dungen sichern diesen Versen wie den folgenden den volksmäßigen
Ursprung:
0 Knno Francke, Social forces in German Literature. New- York
1896. S. 105. 118.
*) Liedersaal Nr. 253, 43. Auch in der Hs. des Liedersaales sind
die Vierzeiler lose in größere Sprachreihen eingefügt.
^) a. a. 0. 34. Die mittelniederdeutsche Fassung oben S. 287.
*) Pfeiffer, Freie Forschung S. 233. Vers 3 ,und derS Grimm
S. 84. Oatalogus XXI, 2, 19. Zingerle S. n9f.
316
Ez sint drtt dinc alleine
aller manne gemeine:
pfaffen wip und spiler win,
begozzen brot magz dritte sin*).
Eine vielleicht ältere rohe Fassung mit bloßer Assonanz
wahrt die synthetische Form^).
In der Handschrift des Liedersaales ist mit Benutzung zweier
Freidankyerse (41, 6) der Vierzeiler gebildet:
Wer gern verlüset und gern hilt,
und gern fint und gern stilt:
wil man nennen den nach recht,
so haist er ein böser knecht^).
Dieselbe Handschrift bietet noch folgenden Priamel Vierzeiler:
Ein katz und ain muz,
zwen han in aim huz,
ain alt man und ain jung wib:
belibent selten an kib^).
Hier sind zwei verschiedene Fassungen kontaminiert; die
eine kontrastiert einfach Gegensätze, die zweite stellt jedesmal
zwei Bivalen einander gegenüber. Diese ist rein erhalten in dem
picardischen Froverbe, in nl. und englischer Überlieferung; jener
folgt auch der Vierzeiler der Hulthemschen Handschrift:
Daar twe hanen sijn in een huus,
Ende een catte ende een muus,
Ende een oudtmann ende een ionc wijf:
Dat huus steet seiden sonder kijf*).
*) Mones, Anz. 4, 58. W. Grimm, Kleinere Schriften 4, 33. Bezzen-
bergerl09, 13a. Renner 17536 ff.
') Diutisca 1, 325. Assonanz im Schnaderhüpfel : Grasberger S. 34.
^) Grimm S. 218. Die Verbesserung ,nennen* statt ,nemen' hat
Grimm vorgeschlagen. Ich habe die Stelle im Liedersaal nicht gefunden.
*) LS. 197, 11. Göttinger Beiträge 2, 52f., Nr. 13, 14. Freidank
138,13. LS. 236, 71. Vintler 8954 ff. Ord-Bog S. 180. Zingerle
S. 74, 169. Zum Motiv Kpu7rc<3t8ia 4, 121. Nr. 206 und der picardische Spruch
des 13. Jahrhunderts S. 76. Reimbüchlein 2222 f., 2438 ff. Gundlach
Nr. 758. Wegen er S. 231. Nr. 789. Nur modernisiert und verballhornt
ist der Spruch in F 86 b, Sp. 2: „Ein kacz vnd racz vnd ein maus Vnd
zwen bannen jn eym haws Ein jung weip vnd ein alter man Dj sehen selten
gutlich an einander an.''
^) Belgisch Museum 1, 112. Ahnlich Meijer, Oude nl. spreuken S. 108*
317
Nabe stehen sich andrerseits die Glasschrift:
Twee katten aan een muus,
Twee vrouwen in een huis,
Twee honden aan een been:
Komen zelden over een *).
und der englische Vierzeiler:
Two cats and a Mouse,
Two Wives in one House,
Two Dogs and a Bone:
Never agree in one^).
Een Moeder te Sevenhoven, vragde haar Son, welke die strydige dingen
waren, die nooit konsten gepaart worden: daar hy op antwoorde.
Twee Wolven, by een Schaap,
Twee Geuzen, by een Paap,
Twee Snyers, by een Luis,
Tween Katten, by een Muis^).
Verblaßt, fast blind geworden, scheint das Motiv in einem
Lübecker Vers:
Eija Bruramsuse:
Twee Wegen in enen Huse,
En uppe Deel un en upn Böhn,
En lütt Dochter un en lütt Söhn,
Wenn de beden Umrocr gnnrrn:
Da kann man woll wunnerlich warden^).
und im Schnaderhüpfel :
Zwa Berg und zwa Tal,
Und zwa Räpplan in Stall,
Und zwa Buebn af a Diendle:
War z' viel af amal^).
Zwa Köpf und oan Sinn,
Zwa Herzl, a Freud,
Zwa Biabl treu liabn:
Lauta Unmöglichkeit^).
») Opschriften 3, 44.
^) Xanthippus S. 155 des Separatabdrucks.
»; Opschriften 2, 39.
*) Schumann, Nachtrag S. 189. Nr. 39b.
*) Pogatschnigg und Herrmann 1^ 141. Nr. 696.
6) Ebenda 1^, 144. Nr. 712,
318
Zwoa kohlschwarz! Schuachla,
Zwoa schneeweiß! Strumpf,
I Zwoa Ring af oan Finga:
Is a sakrisches Ding^).
A sölts BUabl liabn,
Dös ba zwoa Diandln leidt:
Das is just wias Messa,
Das af boad Seitn schneidt^).
Vielleicht lehnt sich an die Bescheidenheit (49, 9) ein noch
heute aus der £ifel bezeugter Spruch der Straßburger Hand-
schrift vom Jahre 1384:
Müsige hant,
und schönes gewant»
und liht gewunnen guot:
Die drü dinge die machent grosen übermuot^).
Schmitz gab den Vers als Sprichwort des Eifler Volkes so
wieder:
Mächtige Hand,
schönes Gewand
und leicht gewonnen Gut —
machen großen Übermut^).
Erst aus dem 15. Jahrhundert ist als Freidankvers über-
liefert:
Vil gegerd und nicht gevangen,
vil gehört und nicht verstanden,
vil gesait und nicht gemerkcht:
das sint alles verloren werich^).
Wenig weicht eine mnl. Fassung desselben Jahrhunderts
ab, wahrscheinlich zu Brügge aufgeschrieben:
«) Werle S. 33.
3) Werle S. 158.
3) Diutisca 1, 326. Normalisierte Lautgebung in Wackernagels
Lesebuch l^ 1168.
*) Sitten und Bräuche u. s. w. 1, 185. Nr. 42.
^) Grimm 4, 28. Cato 51: ,swer liset des er niht verstät, wie gar
' er sich yersümet hat.' Mehr Temperament zeigen mnd. und romanische
Spruche derart. Beimbüchlein 1820. Archiv für neuere Sprachen 43, 69.
319
Vele ghejaget ende niet ghevanghen,
Vele ghehoort ende niet verstanden,
Vele ghesien ende niet te merken:
Dat zijn alle verlooren werken 0.
Von späteren Fassungen sei zur Erläuterung erwähnt:
Vill gejagt und nihts gefangen,
vill gelessen und nihts verstandten,
vill gehörtt und nihts gemörckht:
das sein 3 verlohren werckh^).
Glas -Schrift.
Wagten en niet te komen.
Sonder slapen in't bed te dromen,
Dienen en noit van pas te maken:
Zyn drie dingen om om den hals te raken^).
Herder brachte diesen Vierzeiler in folgender Form wieder
in Kurs: ^ 1 • . r
Viel gejaget, wenig gefangen,
Viel gehört, wenig verstanden,
Viel gesehn, nichts gemerkt;
Sind drei vergebliche Werk*).
Das Kontrast-Motiv dieses Pseudo-Freidankspruches benutzt
der Vierzeiler:
Lieb [han und nüt] sehen,
fUr gon und nUt jehen,
ist das fUr druren guot:
so git es mir mengen hoen muot^).
^) Priebsch, Deutsche Handschriften in England 1, 175.
') Aus dem Reimbüchlein des Klosters Mülln bei Salzburg. Seufferts
Yierteljahrsschrift 6, 446. Wenn auch die Niederschrift dem 17. Jahrhundert
angehört, sind die Bestandteile doch zum Teil viel älter.
^ Opschriften 1, 8.
*) Suphan 25, 519. Nr. 7.
') Mones Anz. 3, 291. Es folgt der Zusatz: ich verswig und lid
und vertrag, biß es besser werden mag. Hoffmann, Findlinge
S. 460. Nr. 209. Liedersaal 184, 3—6.
Sitzen und gedenken,
Ligen auf hörten benken,
Ist das für truren guot:
So bän ich oft ein guoten muot.
Cgm. 270, 220a. Mones Anz. 7, 500 ff. No. 17.
Beimbüchlein 795 ff. Vgl 1269 ff. 2214 f.
320
Selbst späte Mystik knüpft beliebte Sprüche an Freidanks
Namen :
Wiltu sin mit ruowen und gemach:
red lützel, verantwurt nit all sach,
vergib, übersieh und gib dinen obren vor,
wo bös gesellschaft si, da hüt dich vor^).
Schon im 13. Jahrhundert war doktrinärer, biblischer und
theologischer Inhalt reichlich in die Form der Vierzeiler einge-
drungen, nnd Hugo von Trimberg berief sich neben älteren
Autoren gern auf den heiligen Bernhard und den vielgepriesenen
Hugo von St. Victor. Begelmäßig kennzeichneten sich solche
Priamelvierzeiler durch geordnete Aufzählung und Einteilung.
Orientalische Dichtung, Bibel, Predigt, Traktate^), Kirchenväter-
und Mystiker-Anthologien liebten Aufzählungen oder konnten aus
praktischen Zwecken der Disposition nicht entraten. Mit der
Ausbreitung und Vertiefung der religiös - volkstümlichen Bildung
machte sich das Bedürfnis nach praktischen Kompendien geltend,
und so entstanden Zusammenstellungen, wie sie die Handschrift
Cgm. 523, 208b ff. aufbewahrt hat: ,Das ist die tauel Erysten-
licher weißhayt' % In der Abschrift 1439 beendet (Blatt 237b),
behandelt diese Tafel die oberen und unteren Kräfte der Seele,
die sieben Todsünden, die zehn Qebote, die sogenannten evange-
*) Aus dem ,Betbüchlein der ewigen Weisheit' Mones Anzeiger 3, 374.
BezzenbergerS. 243. Priebsch, Deutsche Handschriften in England 2, 148.
Ebenso, nur etwas verdorben im Keisebüchlein von 1583, Anhang. Meier,
Schwäbische Volkslieder S. 267. Zu 2: Vintler 8642; zu 3: Vintler 5516 f.
3) Vergleiche den oben erwähnten, dem h. Cjprian und Augustinus
zugeschriebenen Tractatus de duodecim abusionibus saeculi und von späteren
z. B. Seuse S. 50. 58. 47. 52 ff. u. s. w. oder Ingolds Goldenes Spiel S. XXIX.
2, 1. 29. 3, 19. 5, 23. 9, 25. 10, 23. 15, 32. 19, 14 u. s. w.
^) Vgl. von Heinemann, Handschriften der Herzoglichen Bibliothek
zu Wolfenbüttel II 4, 98 ff. 86. 3. Aug. fol. 2903. und 11 4, 86 ff. 85. Aug.
fol. 2882. Im allgemeinen: Geffcken, Der Bildercatechismus des 15. Jhs. I.
Leipzig 1855. Zeitschrift für katholische Theologie 28, 1 ff. Zum Titel
,Tafel': Der Inhalt des Opusculum tripartitum, bestimmt Johann Gerson,
solle auf Tafeln geschrieben und in Pfarrkirchen, Schulen und geistlichen
Stätten angeheftet werden. Geffcken S. 36. Beilagen S. 36. Weber, Die
Bamberger Beichtbücher aus der ersten Hälfte des 15. Jhs. mit einem An-
hange über die Bamberger Pönitentialbücher. Kempten 1885. Bihtebuoch
dabey die bezeichenunge der heil, messe. Beichtbuch aus dem 14. Jh. mit
Glossen, herausgegeben von Oberlin. Straßurg 1784.
S21
tiscixexi ftätd, s^wölf Früchte des heiligen Öeistes; desscm sieblBfL
Gaben, die Sünden geg^n den heiligen Geist, die^ sieben christlichen
Tugenden, die sieben Werke der leibli<;hen Barmherzigkeit, sieben
;Werk der heilichen parmherzigkait', die acht Seligkeiten, die neun
fremden Sünden, sechs Arten der Nachrede (,in sechszerlay weisz
geschieht nachrede^), gibt praktische Anweisungen und Sprüche, z. B.
,Die machent krieg in der werlt und hader: Schöne weyber, Ere
und ampte, Gotzgab und pfrünt, Guot und wilder muot, Üppigkeit,
spot, zorn, neyd und haß' (Blatt 211 bj. Dann folgen Anweisungen:
wie erkennt man den Geizigen, Unkeuschen, eine fromme Magd,
einen frommen Knecht, einen frommen Hauswirt, eine fromme
Ehefrau, den rechten Richter, den guten Ratsherrn, den frommen
Ritter, den weisen Mann u. s. w., oder was ist der Nutzen des
wohlverdienten Ablasses, wie gibt man recht Almosen, welches
sind die Schäden des Spiels, des Wuchers. Man sieht also, es
gab Katechismen religiös -praktischer Lebensweisheit, und wer
einen Vierzeiler zusammenstoppeln wollte, brauchte nicht eben
weit zu gehen, um Stoff und Form zu haben. Eine unerschöpf-
liche halb geistliche, halb populäre Literatur von Traktaten,
Sprüchen und Kompendien war aufgeschossen. Die Handschrift
der Tafel der christlichen Weisheit enthält auch volkstümliche
Didaktik, Freidank- ^) und Rennerverse, nebst eigenen Zutaten:
das Werk des sogenannten Bernhard Freidank. Unter der
Überschrift Jeremias steht der mystische Spruch:
Biß gern allain.
Und halt dein gedenk rain,
Hab vor äugen gottes gepotl:
Über all ding so minne got^).
Mit den abenteuerlichsten Verfassernamen wird geprunkt:
Johel, David, Amon, Bapplas, Demetrius, Damascenus, Zephela,
Demesund, Averoes, Albunosor, Mesahel stehen neben den üblichen
Augustinus, Paulus, Kato, Freidank und vielen andern ^). Liebte das
*) F r e i d a n k 40, 5 wird S e n e c a beigelegt. Pfeiffer, Freie Forschung
S. 239 ff.
9) Blatt 132a. Pfeiffer Nr. 68. (Ord-Bog S. 297.)
^) Vgl. Schönbach, Studien zur Erzählungsliteratur des Mittelalters
2, 27.
Enling, Priamel 21
822
14. Jahrhundert kurze gereimte Sprüche^), so gab es schon zu
Anfang des 1 5. Jahrhunderts deutsche prosaische Einzelsprüche in
Triaden und Quatrains. Mone hat Proben davon aus der Inders*
dorfer Handschrift 196 veröffentlicht^). Manche dieser Sprüche
sind priamelhaft bearbeitet'); andere schwanken wie die iSprüche
der Straßburger Handschrift zwischen Vers und Prosa; z. B.
Alter an witz,
weishait an werch,
hochfart an reichtum,
reichtum an ere,
adl an tugent,
herrschafit »an dienst,
Volk an zucht,
stat an gericht,
gewalt an nutz,
jugent an forcht,
fraw an schäm,
geistlich leben an fried:
diese zwelf stttcklach,
di machen in der werlt vil ungemach^).
Den Niederschlag von Predigt und Traktatliteratur geben die
zahllosen Sprüche der deutschen Mystiker wieder^), welche zum
*) wie (Bartsch, Quellenkimde S. 268 ff.) Sinnsprüche der Tagenden
und Laster.
^) Anzeiger 7, 500. Germania 33, 170 f. Lateinische Yorlagen zu ein-
zelnen im Facetus bei Suringar, Van Zeeden S. 34 f.
8) Göttinger Beiträge 2, 81. No. LXIX. Mone No. 5. Facetns 27.
Rasch, Nichts wehrt A II, 4; No. LXX. Germania 33, 170. Rasch B I;
No. LXXTTL Facetus 29; No. XCIX. Facetus 87 und Suringar S. 57.
Mone Nr. 5 entspricht der No. 5 des Bruoder Thnring in den Sprüchen
deutscher Mystiker (Germania 3, 239), als Quelle wird die Predigt bezeichnet.
Zum Schwanken zwischen Yers und Prosa: Geffcken, Bildercatechismus,
Beilagen S. 1 u. ö.
^) Indersdorf er Handschrift 196, 24. Leipziger Hs. H. 134b: 1 Weisheit.
6 laut. 9 genad. 12 orden. 13 Die zwelf stück. Die pringen der
werlt groß ungelück. Vgl. Gedenkbuch des Hans von Mengershausen
in Spiels Archiv 1831, 2, 162. No. 8. Reimbüchlein 2491 ff. Weim. Jahrb.
3, 424. Goedeke, Gengenbach S. 424. Petri VI, J. Herder 25, 599 und
Redlich 688. In FG 85 b, 2 durchgereimt. Nd. Jb. 7, 9. No. H. ühl S. 251 f.
Wunderhom 2, 790. Altdeutsches Herz und Gemüth S. 5. Borchling,
Reisebericht 2, 112.
^) Preger, Geschichte der deutschen Mystik 2, 133 ff.
323
großen Teil aus ÄufzähluDgen gewisser Gnaden, Sünden, Tagen-
den, guter Werke u. s. w. bestehen und in späteren Triaden und
Quaternionen benutzt sind. So trifft der Improvisationsvierzeiler
mit Formen gelehrter Didaktik zusammen. Bald stellt sich in-
haltlich neben die weltliche altvolkstümliche Überlieferung gegen
Ausgang des Mittelalters eine immer mehr erstarkende geistlich-
theologische mit der Tendenz, ebenfalls volkstümlich zu werden.
Volkstum und christliche Bildung sehen wir allmählich mit ein-
ander verschmelzen. Was Freidank und Hugo von Trimberg
aus scholastischer und mystischer Theologie verarbeiteten, ist meist
nicht ins Volk gedrungen ; das war auch noch nicht möglich ; erst
maßten sich die Bettelorden und andere Verbreiter einer praktisch-
mystischen Frömmigkeit der Bildung des Volkes annehmen. Das
14. und 15. Jahrhundert fand bereits ein anderes Publikum, hatte
aber auch eine Theologie gezeitigt, die über die ältere Scholastik
und die romanische Mystik hinaus den Weg zu Kopf und Herz
des deutschen Bürgers gewann.
Wenig volkstümlich sind meistens die Beste eines Büchleins,
das sich ,sand Augustinus spruch^ nennt, erhalten in der
Handschrift Ggm. 351, 173a. Bartsch hat sie ins ältere Mittel-
hochdeutsche übertragen^). Sie stellen einen ganzen Gyclus von
meist vierzeiligen Sprüchen dar, in denen jedesmal drei Tugenden
und drei Untugenden abwechseln, und erinnern an die französischen
Quatrains moraux: mit mancherlei Unterschieden. Die Quatrains
gehen nie, wie diese sogenannten Sprüche des Augustinus, über
die Vierzahl hinaus; im Französischen herrscht überall mehr
Reflexion, Begel und Formgefühl, weniger Volkstümlichkeit. Die
Quatrains sind meist direkt lehrhaft oder gelehrt, waren viel ge-
lesen, in Schulen eingeführt und die von Pibrac, Favre und
Matthieu bis ins 17. Jahrhundert im Oebrauch^). Man ver-
schmäht sichtlich den primitiven Parallelismus des Priamels zu
gunsten feinerer syntaktischer Mittel. Ein paar Beispiele mögen
das veranschaulichen.
^) In der Einleitung zu den Meisterliedem der Kolmarer Handschrift
S. 125 ff.
3) Altdeutsche Blätter 1, 267.
21 ♦
324
Si tu le sens de ce monde savoyes,
Ou temps present et point d'argent n'avoyes,
Et tu feüsses aussi bon com saint Pol,
Si tu n'as riens: on te tendra pour foP).
Dagegen:
Wer ich geporn von Judas art,
Und wer der pöst, der je wart,
Und wer mein muoter ain huor und main vater ain dieb:
Ich hett gelt, ich wer danest lieb ').
Hours, lyon, chat, singe et chien,
Les V bestes aprenion bien;
Mais on ne puet par nul engien
Mauvaise femme aprenre bien').
Auch BeimküDste, noch so bescheidener Art^) verschmäht
gegenüber den Qnatrains unser deutscher Vierzeiler, z. B.
Enfant qui veult estre courtoys.
Et ä toutes gens agreable,
Et principalement a table,
Garde ces regles en fran^oys.
Das Buch der Sprüche S. Augustins beginnt:
Augustinus spricht also, das got an dem menschen nicht so vil gevellet
als drei tugent:
das erste cheusch in der jugent,
das ander genügsame mässichait,
das drit gedult in widerwertichait^}.
») Altd. Blätter 1, 276.
^) Göttinger Beiträge 2, 18. ümkehrong Florilegium Gottingense
No. 116.
3) Altd. Blätter a. a. 0. Liber Ecclesiastici 25, 23.
*) Altdeutsche Blätter 1, 266. Contenance de table.
^) Angesichts der Tatsache, daß die Sprache der Erbauungsschriften)
wie wir oben sahen, und mystische Literatur zwischen Prosa und Vers hin
und herschweben (BemydeGourmont, Le Latin mystique. Paris 1892.
S. 325 ff. hat das für die Imitatio Christi gezeigt), halte ich die radikale
Textkritik Bartschs nicht für gerechtfertigt. Manche Kapitel De con-
temptu mundi von Linocenz m. sind teilweise durchgereimt; z. B. 1, 11.
1, 14. Ebensowenig konnte ich, wie Panzer in der Zs. f. d. Phil. 34, 75 ff.
wieder verlangt, aus Reimen und Formeln einer Prosalegende nur auf ein
Gedicht als Quelle Kisteners schließen.
825
Drei untugent.
An drein sUnden leit Schadens vil:
der uncheusche im alter pflegen wil,
der reich ist an guet,
und hochvart in armuet^).
Jetzt folgen ein Zebnzeiler und ein Ächtzeiler; alsdann:
Drei tugent.
Swer in glUcke fUrhtet got (midet spot?)
und gedingen hdt in got,
und willic lidet gotes zuht —
di dri habent gr6ze vernuft.
So lautet der kritische Text bei Bartsch; in der Hand-
Schrift stfiht *
Wer in gelUck furchtet got,
und gedingen hat in got,
und willichleich leidet gotes sucht:
die drei habent grosse vernufft.
In diesem Falle läßt sich Bartschs Herstellung aus drei
Wiener Handschriften (3026, 10^ 3650, 1»; 4117, 48») kon-
trollieren und als mißlungen erweisen. Da lautet der Vierzeiler
in völliger Übereinstimmung der Handschriften:
Wer in gelttck fürchtet got,
Und hoft zu im in aller not,
Und willikleich leidet gotes zucht:
Die dreu pringent grosse frucht.
Diesem wohlgefügten Text gegenüber erkennt man in Vers 2
der einen von Bartsch benutzten Handschrift nur Verderbnis.
Ferner macht es das Vorkommen dieses einzelnen Vierzeilers
außerhalb der ,Sprüche Augustins' wahrscheinlich, daß diese erst
später aus mündlicher verdorbener Oberlieferung zusammengestellt
sind. Dann wäre also das Büchlein nicht Quelle unseres Priamel-
Vierzeilers. x^ .. .
Drei untugent.
Wer in ungelUck zagleich tuet,
von chlainen tugenden hat Ubermuet,
und über sein übel frävel treit:
die dreu sint gote harte leit^).
0 Benutzt ist hier wie sp&ter, wo sie zu billigen war, Bartschs Her-
stellnng. Ecclesiast. 25, 3.
^) Yen Bartsch sehr verbessert.
326
Drei tugent
In eren diemuetichait,
in annuet guetlich miltichait,
in verstantnUss geistliche ainvaltichait :
an den drein leit grosse werdichait.
Drei untugent.
Verpargen schätz, verpargneu chunst,
die sind unwirdig aller gunst^},
und in reichtung unparmherzichait :
die dreu sint got hart laid.
Drei tugent.
Der in grosser tugent sich selber versmächt,
und gotes gab mit dank empfecht
und guetes fUrsatz stätes phligt:
mit (den drein ^) tugenten er sigt.
Es folgen zwei Sechszeiler und als Schloß der zerstörten
Sprachsammlung :
Drei untugent.
Wer versmächt gueten rat,
und sein torhait^) für sinne (hat)
wer sich frewet, so er übel tuet:
diese dreu sint niemant guet.
Drei tugent.
In der jugent gevölgichait,
in dem alter rat und verständichait,
in allen dingen mas und beschaidenhait :
die dreu pringent grosse wirdichait.
Nur einer von diesen Vierzeilern hat größere Verbreitung ge-
funden; die andern verdienten es auch kaum, sind sie doch ziem-
lich mühselig zusammengezimmert, ohne Oeist und Leben. Von
direkter Benutzung zitierter Gewährsmänner kann fast nie die
Bede sein; oft sind sie fingiert. Der erste Spruch z. B. wird in
einer Predigt des Bruoder Thüring, d. h. in einem daraus
gezogenen Spruch, dem h. Oregorius zugeschrieben und anstatt
*) Liber Ecclesiastici 20, 32. Frei dank 147, 9. Strauch zu Mar-
ner XV 51. Laiendoktrinal S. 62. Wander 4, 110.
2) Von Bartsch ergänzt.
3) Bartsch; Hs. salichait.
327
dreier Tugenden werden vier aufgezählt^). Bemerkenswert war
es, daß auch volkstümliche Gnomik in diese mystischen Sprüche
eindrang.
Folgender später Luther zugeschriebene Vierzeiler zeichnet
sich durch ein niedliches Bild aus:
Sünde vermiden si din schrin,
Gedult in liden lege darin,
Guot für boes das lege darzuo;
Freud in armuot: nuo schlüß zuo').
Weniger ursprünglich gibt die große Wolfenbütteler Sammel-
handschrift den Spruch wieder:
Die sundt vermeid, das ist ein schrein;
gedult in leiden leg darein;
als gut fUr übel leg darzu;
pis frolich in armut spot und fru').
Der redselige Verfasser oder Schreiber setzt in dem ,Schatz
der andechtigen sele^ (Diß ist aller Schatz der andechtigen zele,
den sie uß heiliger schrift hat, Wiener Handschrift 3009, 35 a)
noch hinzu:
,und halt der evangelien satz : das ist der seien türster schätzt
Hier lautet der Schluß des Stückes:
Sttnd vermiden,
Geduld in liden,
Boes für guot^),
Freud in armuot,
- Der evangelien satz:
Ist der seele schätz.
Amen.
Unser Vierzeiler ist das Original für den von Preger nach
G. Schmidt wiedergegebenen Spruch:
0 Geimanis 3, 240. No. 9.
^) Wiener Hs. 3009, 35 a. Ungewöhnlich ist das Bild des Schreines
nicht: LS. 178, 313 ff.
>}G119b. Dazu Beimbüchlein 1806 ff. Borchling, Reisebericht 2,81.
Hohenzollem- Jahrbach 3,65. Xanthippus, Preußische Jahrbücher 86, 90.
^) Die Handschrift: ,far lydenS
328
,Neig dich in Leiden': das lass sein
Dein'n Schrein;
Und ,minnc die Feinde',
Das leg darein;
,Meid dein Freund'
Das leg dazu;
,Sei geduldig in Widerwärtigkeit',
Und schließ wieder zu*)!
Diese spätere Fassung ^j ist mit üblem Erfolg ausgeweitet,
und das alte Original verdient sicher mehr als sie die aner-
kennende Bezeichnung sinnig und volkstümlich.
Ein verwandtes Bild verwendet der bayerische Vierzeiler:
Ain Word für dein äugen,
ain schloß für deinen mund,
lass deine oren verdamen:
so wird dein sei gesund').
Hier mögen sich einige Sprüche desselben Gedankenkreises
anschließen.
Bis gerne allein,
acht dich selber klein und halt dich rein,
und buwe uf nit, daz do möge zergan:
wilt du uf bloßer warheit bestan*).
Im Cgm. 523, l32a ist der Spruch vom Typus A zum Typus
B hinübergeführt ^).
Mensch, laß din eigenwillikeit,
blib fest in widerwertikeit,
durcbbrich die unerstorbenheit:
so wirt dir gleich lieb unde leit^).
^) Geschichte der deutschen Mystik 2, 136.
^) wie andere, z. B. bei Lohe, Altdeutsche Sinnsprüche S. 49.
^ Mones Anzeiger 8, 545; Cgm. 809.
*) Wackernagel, Kirchenlied 2,317. Nr. 481c. Wackernagel hat
unnötig ,Wis' geändert. Vgl. Bartsch, Quellenkunde S. 315.
*) Oben S. 321. Erweiterung aus Cod. Pal. Germ. 348 hei Bartsch,
Katalog 1,186h. Xanthippus, Preuß. Jb. 85, 152.
ß) Wackernagel 2, 318. Nr. 481 e aus einer Pergamenths. der Wasser-
kirchhibliothek zu Zürich. An diesen Vierzeiler sind dann aber doch die
Plusverse der Straßburger Hsn. gehängt.
329
Zit verlieren selten,
nit widersprechen in schelten,
in liden dankperkeit:
bringet den menschen in die höchste volkumenheit').
Fast alle diese von mystischer Beligiosität beeinflußten Vier-
zeiler entstanden auf alemannischem Gebiet; spärlicher und
weniger formvollendet setzt sich diese Literatur im Ostschwä-
bischen sowie im Bayerisch-Österreichischen fort. Eine
sehr wichtige, wunderliche Spruchsammlung befindet sich im
Britischen Museum, Blütenlesen aus mehreren Jahrhunderten der
Spruchdichtung, nicht so sehr des Inhalts wegen merkwürdig
(der weicht von sonstigen Anthologien wenig ab^), als wegen der
Dichternamen, die über den einzelnen Stücken stehen, wenn auch
kaum ein einziger Name literarische Eigentumsrechte zu begrün-
den vermag: diese Überschriften zeugen nämlich von großer
Kenntnis derjenigen Literatur, die man im 15. Jahrhundert auf
ostschwäbischem Boden las, liebte und schätzte. Aber auch Gott,
Kirchenvätern, Propheten, Philosophen, Helden und Heldinnen
mittelhochdeutscher Epen sind solche Verse in den Mund gelegt.
Eine Bl. 133a begonnene Spruchreihe enthält wohl durchweg
Vierzeiler, darunter wahrscheinlich wenige priamelhafte: so der
erste :
Gott der herre spricht.
#
Wer getaufft ist und in rechtem glauben statt,
Und wer mich und sein nechsten lieb hatt,
Und hie leidet durch mich ungemach und pein:
Der wirdet behalten und ewig bei mir sein^).
Vielleicht demselben bayerisch-schwäbischen Gebiet gehören
einige Verse gleicher Prägung aus einer Donaueschinger Hand-
schrift an.
^) Ebenda Nr. 481 f. Erweiterungen werden uns später begegnen.
Gegenstück: Göttinger Beiträge 2, 97. Nr. 100.
8) Priebsch, Deutsche Handschriften in England 2, 147. Nr. 175.
Der Beginn der Blatt 133 a einsetzenden Reihe kehrt im Keisebüchlein von
1584 hinter dem 130. Spruch wieder.
^ Priebsch 2, 148. Man vergleiche aus dem Beisebüchlein noch
etwa die Albertus Magnus und Cato zugeschriebenen Priamelvierzeiler, um
die Geringfügigkeit solcher Leistungen zu ermessen. Vorläufig war mir die
Handschrift unerreichbar.
336
Bestehen manche volkstümliche Gedichte aus Schönheifs-
Beschreibung oder ihrer Parodie, so pflegt anch einstrophige
Stegreifpoesie solche Motive gerne.
Einen Wortwitz mit beliebter Zahlensteigemng gibt der fol-
gende ostschwäbische Fünfzeiler:
Ain ai ist ain munt vol,
ain prtistlin ist ain hant vol,
[ain weib ist ain arm vol],
ain ars ist ain schoß vol:
ain fut ist ain nimmer voP).
Es kann nicht zweifelhaft sein, daß Vers 3 eingeschoben ist;
er stört die Oradatio.
Schon früher beschäftigte uns seiner Form wegen der bayerische
Spruch: Pinissen mos,
und magreu ros,
und praun fud an weißen peichen:
di dreu seit niemand scheichen^.
Der werbende Bursche singt heute in Tirol:
Diendl, dei Treu,
und dei Aufrichtigkeit,
und dein schöne Manier:
hat mi herbracht zu dir^).
Häufiger sind in diesem Stadium der Liebe epigrammatische
Beschreibungen der Geliebten; Dutzende solcher Schnaderhüpfel
fangen an mit dem Wandervers:
Mei Diendle is sauber^).
• ») Cgm. 379, 95a. 270, 203b; mit Änderungen: Futilitates S. 6. Zur
Zahlensteigerung KpuirrdSca 4, 93. Nr. 64. Garnerius S. 780, wo es auch
heißt: Jjes femmes disent: Un oeuf n'est rien etc., mais elles s'entendent
bien^ Meier, Schwäbische Volkslieder S. 95 f.
Drei mal ist gar nit viel,
Sechsmal ist noch so viel. «
Siebenmal muß au voU sein,
Schatz, du gehörst mein.
Gundlach Nr. 27. von Hörmann Nr. 911. Politis 2, 602. Wander
u.^d. W. Ei.
«) P 331 b. Zu Vers 3 KpuTrrflfSta 4, 93. Nr. 66.
») von Hörmann3 S. 75. Nr. 207. Hruschka undToischer S. 335.
Nr. 601 nebst Nachweis.
*) Pogatschnigg und Herrmann P, Uff. Kpuirrd8ta 4,95. 103.
Dunger, Rundas S. 13ff. Werle, Almrausch S. 446 f.
881
Clamitat in celum vox sanguinis et zodomorum
Vox oppressoram merces detenta laboruro.
Czu himel ruffen vnd räch geren
Vier swer sunden auff erden
Manslechtig vnd stummen sunden hon gethon
Dy armen vnderdrucken vnd freuelich Halten auff ir verdintes Ion *)
Ad papam feriens cierum falsarius vrens
Ecclesias simon audens celebrare ligatus.
Wer prister beraubet oder kircben brennet
Der geystliche ding ym kauffen wendt
Der messe helt yn verbanttem leben
Das mag der habest alleyne vergeben').
Secretasque preces et opus pietatis amato
Omnia peccata plangat contricio vera.
In deynem gebethe suche heimliche gemach
Czu guten wercken sey dir gach
Mit warer rewe ^Ue deine sunde beweyn
Wiltu deyn leben machen reyn').
Sperne voluptates ludos spectacula mundi
Desere consortcm prauum populique tumultum.
Wiltu von sunden weichen icht
Fleuch woUust spil vnd weltlich geschigt
Vor boßer geselschaft dich bewar
Vnd auch vor tummer leut schar ^).
Confessor mitis affabilis atque benignus
Sit sapiens iustus ac dulcis compaciensque.
Der beichtiger almal wesen sol
Gutig senffte vnd gelimpfes vol
Süsser worth gerecht vnd weyß
Mitleyden haben das ist eyn preyß^).
Aus einer Bamberger Hs., deren Überlieferung bis in das
Ende des 14. und den Anfang des 15. Jahrhunderts zurückleitet,
sei hinzugefügt:
^) Penitencionarius Bl. 3b. Geffcken, Beilagen 8.195. Weber 8.18.
') Penitencionarius Bl. 3 b. Geffcken, Beilagen 8. 195.
3) Penitencionarius Bl. 2 a. Geffcken, Beilagen 8. 189.
^) Penitencionarius Bl. 2a. Geffcken, Beilagen 8. 189.
*) Penitencionarius Bl. 5 a. Geffcken, Beilagen 8. 191,
328
iNeig dich in Leiden*: das lass sein
Dein'n Schrein;
Und ,minne die Feinde',
Das leg darein;
,Meid dein Frennd'
Das leg dazu;
fSei geduldig in Widerwärtigkeit*,
Und schließ wieder zu*)!
Diese spätere Fassung^) ist mit üblem Erfolg ausgeweitet,
und das alte Original verdient sicher mehr als sie die aner-
kennende Bezeichnung sinnig und volkstümlich.
Ein verwandtes Bild verwendet der bayerische Vierzeiler:
Ain Word für dein äugen,
ain schloß für deinen mund,
lass deine oren verdamen:
so wird dein sei gesund').
Hier mögen sich einige Sprüche desselben Gedankenkreises
anschließen.
Bis gerne allein,
acht dich selber klein und halt dich rein,
und buwe uf nit, daz do möge zergan:
wilt du uf bloßer warheit bestan*).
Im Cgm. 523, l32a ist der Spruch vom Typus A zum Typus
B hinübergeführt*).
Mensch, laß din eigenwillikeit,
blib fest in widerwertikeit,
durchbrich die unerstorbenheit:
so wirt dir gleich lieb unde leit^).
^) Geschichte der deutschen Mystik 2, 136.
^) wie andere, z.B. bei Lobe, Altdeutsche Sinnspruche S. 49.
') Mones Anzeiger 8, 545; Cgm. 809.
*) Wackernagel, Kirchenlied 2,317. Nr. 481c. Wackernagel hat
unnötig ,Wis' geändert. Vgl. Bartsch, Quellenkunde S. 315.
^) Oben S. 321. Erweiterung aus Cod. Pal. Germ. 348 bei Bartsch,
Katalog 1,186b. Xanthippus, Preuß. Jb. 85, 152.
^) Wackernagel 2, 318. Nr. 481 e aus einer Pergamenths. der Wasser-
kirchbibliothek zu Zürich. An diesen Vierzeiler sind dann aber doch die
Plusyerse der Straßburger Hsn. gehängt.
329
Zit verlieren selten,
nit widersprechen in schelten,
in liden dankperkeit:
bringet den menschen in die höchste volkumenheit^).
Fast alle diese von mystischer Beligiosität beeinflußten Vier-
zeiler entstanden auf alemannischem Oebiet; spärlicher und
weniger formvollendet setzt sich diese Literatur im Ostschwä-
bischen sowie im Bayerisch-Österreichischen fort. Eine
sehr wichtige, wunderliche Spruchsammlung befindet sich im
Britischen Museum, Blütenlesen aus mehreren Jahrhunderten der
Spruchdichtung, nicht so sehr des Inhalts wegen merkwürdig
(der weicht von sonstigen Aothologien wenig ab^), als wegen der
Dichternamen, die über den einzelnen Stücken stehen, wenn auch
kaum ein einziger Name literarische Eigentumsrechte zu begrün-
den vermag: diese Überschriften zeugen nämlich von großer
Kenntnis derjenigen Literatur, die man im 15. Jahrhundert auf
ostschwäbischem Boden las, liebte und schätzte. Aber auch Gott,
Kirchenvätern, Propheten, Philosophen, Helden und Heldinnen
mittelhochdeutscher Epen sind solche Verse in den Mund gelegt.
Eine Bl. 133 a begonnene Spruchreihe enthält wohl' durchweg
Vierzeiler, darunter wahrscheinlich wenige priamelhafte: so der
erste :
Gott der herre spricht.
Wer getaufit ist und in rechtem glauben statt,
Und wer mich und sein nechsten lieb hatt,
Und hie leidet durch mich ungemach und pein:
Der wirdet behalten und ewig bei mir sein^).
Vielleicht demselben bayerisch-schwäbischen Gebiet gehören
einige Verse gleicher Prägung aus einer Donaueschinger Hand-
schrift an.
^) Ebenda Nr. 481 f. Erweiterungen werden uns später begegnen.
Gegenstück: Göttinger Beiträge 2, 97. Nr. 100.
^) Priebsch, Deutsche Handschriften in England 2, 147. Nr. 175.
Der Beginn der Blatt 133 a einsetzenden Reihe kehrt im Reisebüchlein von
1584 hinter dem 130. Spruch wieder.
^ Priebsch 2, 148. Man vergleiche aus dem Reisebüchlein noch
etwa die Albertus Magnus und Cato zugeschriebenen Priamelvierzeiler, um
die Geringfügigkeit solcher Leistungen zu ermessen. Vorläufig war mir die
Handschrift unerreichbar.
334
Kurzer Bestand.
Das Feuer im Stroh,
Das Wasser im Siebe,
Auf dem Nagel der Floh,
Die Geduld bei der Liebe:
Sag an, wems gefällt,
Was am längsten sich hält*}.
Wie das heutige Schnaderhüpfel hat der Priamelvierzeiler
des 14. Jahrhunderts seine Wanderverse, die, durcheinander ge-
schoben, ohne lyiühe neue Exemplare ergeben. Den Anfang (Vers
1 und 2 umgestellt) teilt unser in Straßburg aufgezeichneter Vier-
zeiler mit dem bekannten Spruch:
Bicht an rüw,
frünt an trüw,
buol an stettikeit:
sind dri verloren arbeit').
Kebitz wiederholt ihn mit der Einleitung:
Wo du nit treu vindest pei,
da laß von, wie lieb es dir sei :
wann peicht on reu,
und lieb on treu,
und feur on prend:
die treu hand pald ein end').
Mit zwei oben zitierten Versen Kebitzens und dem Vier-
zeiler des Benners ist in F 38b ein neues Stück kompiliert:
Herren dienst und auch aperillen wetter,
Frauen lieb und rosen pletter,
Kinder häuf und der werlt freud,
Lob und rom und wie man geud.
Armer leud hoffart nimpt auch ein ent
Pald wie der schatten an der went.
Wieder anders verfährt mit überliefertem Material der ost-
schwäbische Spruch:
>) Vermischte Schriften 2, 457. Nr. 94.
3) Liedersaal 186, 17.
^) Mones Anz. 8, 545. Nr. 4. Münchener Sitzungsberichte 1891. S. 678. \
Von Kebitzens Autorschaft (Keinz S. 679) kann natürlich wieder keine |
Bede sein. i
335
Lieb aun trew,
peicht aun rew,
peten aun Innigkeit:
sein drei verlorn arbait*).
oder der mnl. Vierzeiler:
Biechten sonder rouwe,
ende vriendt sonder trouwe,
ende ghebet sonder innichheyt:
Dats al verloren arbeyt').
Oanz geistlich - mystisch geworden ist der Spruch in andern
Fassungen:
Bycht on ruwe,
Liebe on truwe,
Bidde on innekeit:
Ist verlorn arbeit^).
Bichten sunder berouwe,
Leifhaven sunder trowe,
Bedden sunder inicheit:
Is alle verloren arbeit*).
Bichten sonder rouwe»
lieff hauen sonder truwe,
und beden sonder innicheit:
dat is verloren arbeit*).
Minne sonder trouwe,
Biechte sonder rouwe,
Bedinglie sonder innecheit:
Dats al verlorn aerbeit«).
*) Mones Anzeiger 7, 50L Ähnlich Cod. Pal. Germ, 229, 132 (Kata-
log 2, 35.)
«) Dresdener Hs. M 33 a, 5 b.
») Bartsch, Quellenkunde S. 337. Nr. 27.
*) Zeitschrift für vaterländische Geschichte und Altertumskunde, hg.
von Geisherg und Giefers. N. F. 8. Munster 1857. S. 310.
*) Geistliche Gedichte des 14. und 15. Jhs. vom Niederrhein, hg. von
Schade S. 103; aus dem alten Druck der Eatherinen Fassie.
«) Belg. Mus. 6,187. Suringar. Mnl.^ Rijmspreuken 2, 191. Vgl.
oben Kap. HI, S. 79 f.
33g
Bestehen manche volkstümliche Gedichte aus Schönheit^-
Beschreibung oder ihrer Parodie, so pflegt auch einstrophige
Stegreifpoesie solche Motive gerne.
Einen Wortwitz mit beliebter Zahlensteigerung gibt der fol-
gende ostschwäbische Fünfzeiler:
Ain ai ist ain munt vol,
ain prüstlin ist ain hant vol,
[ain weih ist ain arm vol],
ain ars ist ain schoß vol:
ain fut ist ain nimmer voP).
Es kann nicht zweifelhaft sein, daß Vers 3 eingeschoben ist;
er stört die Qradatio.
Schon früher beschäftigte uns seiner Form wegen der bayerische
Spruch: pinissen mos,
und magreu res,
und praun fud an weißen peichen:
di dreu seit niemand scheichen^.
Der werbende Bursche singt heute in Tirol:
Diendl, dei Treu,
und dei Aufrichtigkeiti
und dein schöne Manier:
hat mi herbracht zu dir^).
Häufiger sind in diesem Stadium der Liebe epigrammatische
Beschreibungen der Qeliebten; Dutzende solcher Schnaderhüpfel
fangen an mit dem Wandervers:
Mei Diendle is sauber^).
• ») Cgm. 379, 95a. 270, 203b; mit Änderungen: Futilitates S. 6. Zur
Zahlensteigerung KpuTrrdcBta 4, 93. Nr. 64. Garnerius S. 780, wo es auch
heißt: Jjes femmes disent: Un oeuf n'est rien etc., mais elles s'entendent
bien'. Meier, Schwäbische Volkslieder S. 95 f.
Drei mal ist gar nit viel,
Sechsmal ist noch so viel. •
Siebenmal muß au voll sein,
Schatz, du gehörst mein.
Gundlach Nr. 27. von Hörmann Nr. 911. Politis 2, 602. Wander
u.^d. W. Ei.
«) P 331b. Zu Vers 3 KpuictdfSta 4, 93. Nr. 66.
8) von Hörmann3 S. 75. Nr. 207. Hruschka und Toischer S. 335.
Nr. 601 nebst Nachweis.
*) Pogatschnigg und Herrmann P, 14fF. KpuirröfSia 4,95. 103.
Dunger, Rundas S. 13ff. Werle, Almrausch S. 446 f.
337
Dann kommen die Vorzüge der Erwählten an die Seihe, von den
Augen und den Grübchen im Kinn bis zu den intimsten Beizen,
oft in der ausgelassensten, lustigsten Karikatur, oft in zügelloser
Derbheit.
So verfährt der Priamel Vierzeiler:
Schoiner äugen anplick,
Tütlein hert und ars dick,
Haiß fut und mündlin rot:
Pringent mengen man in not^).
Zu vergleichen sind:
Deine hochroatn Wanglan,
Deine goldfarbn Haar,
Deine lichtblown Äuglan:
Verfühm mi gar.
Deine kohlschwarzn Augn,
Dei gilbilats Haar,
Und dei klanverdrats Herz:
Das yerfUhret mi gar.
Dei wunderschens Äugerl,
Dei kohlschwarzes Haar,
Dei gar so liebs Gschau:
Das verführet mi gar').
Mit die feurign Blick,
Die aufglUehn af d' Nacht,
Hast du mir mei Herzl
In Flammen gebracht ').
Und wie der verlassene Bursch, dem die Geliebte untreu
geworden, im Galgenhumor sein Alleluja^) singt, schließt auch
ein armes vom Kirchendienst geplagtes Schreiberlein denselben
Spruch in wenig veränderter Fassung :
Schöner frawen plick,
herte tütlein und erß dick,
heiß mautzen und mündlen rot:
die bringen manchen guten gesellen in not.
») Cgm. 379, 218b. Putilitates S. 5.
2) Pogatschnigg und Herrmann l», 67. Nr. 319.
3) Ebenda Nr. 317.
*) von Hörmann^ S. 157. Nr. 443. Pogatschnigg und Herrmann
1', 358. Nr. 1685. 2, 43, Nr. 169. Greinz und Kapferer 2, 51. Hruschka
und Toischer S. 356. Nr. 774.
Euling, Priamel 22
1
338
Alleluial hilff mir aus nötenl
I
I
Ora pro nobis wil mich töten ^).
Im Übrigen ist nichts irriger als die Meinung, das Priamel
an sich habe eine Vorliebe für Unanständigkeiten; der Priamel-
vierzeiler ist an sich ebenso wenig unanständig, als der Vierzeiler
überhaupt oder etwa das BätseP); aber wie Volksdichtung über-
haupt ersetzt das Priamel den Witz oft durch die simple Unan-
ständigkeit, doch ohne Verständnis für die infame Mischung von
Oestank und Parfüm zu besitzen, welche die kultivierte Zote so
ekelhaft macht. Im Gegenteil ist der Priamelvierzeiler dieser
Zeit meist von durch und durch gesunder Natürlichkeit, seine
Empfindung nüchtern und praktisch; seltener streift er Uhlands
stille Tiefen des Gemütes.
Einen hausbackenen guten Vierzeiler hat Boner 76, 55 über-
liefert, vielleicht selbst improvisiert.
wer umb ein phenning git ein pbunt,
und ein phert umb einen hunt,
und umb ein helbling kriegen kan:
der dunkt mich nibt ein wtser man.
Elsässisch derb in Form und Inhalt scheint der Spruch:
Hoch gesessen,
und tief geschissen
uf einen breiten stein:
ist der su unheiP).
Die Stockholmer Vogelsprache erläutert das Motiv:
De svaleke.
Vacke hoghe gheseten,
Und dar by ovele ghegheten,
Dat ys eyne tucht to have,
Der ick nicht sere en lave*).
Welcher drastisch anschaulichen Wirkung alemannische Vier-
zeiler-Improvisation schon im beginnenden 15. Jahrhundert fähig
ist, beweisen Strophen Michel Scherers:
») Lnneburger Hs. 2. (Göttinger Beiträge 2, 10 d) 223b. W. Meyer,
Die Handschriften in Göttingen 2, 497.
2) Wossidlo, Mecklenbui'ger Volksüberlieferungen I. S.V.
3) Diutisca 1, 324.
*) Nd. Jb. 14, 137. 142, 26.
339
Das Volk das schrei,
Der pfafTe sang:
Man begruop den man:
Die glocke klangt).
Hier hat sich schon, wenn auch vielleicht nicht streng priamel-
haft^), das Genrebild eingestellt, die Zierde der Schnaderhüpfel-
poesie unserer Tage. In der schweren Kunst, mit wenigen Strichen
ein Bildchen von höchst lebendigem Gehalt zu entwerfen, sucht
die Vierzeiler-Improvisation ihresgleichen. Da selbst Grasberger
nur auf Groteskes derart eingegangen ist^), mögen dafQr einige
teils priamelhafte, teils nicht priamelartige Belege zeugen.
Bei der erstn Httttn is koan Nachtquartier,
Bei der zweitn HUttn is mar d' Sentin z'schiacb,
Bei der dritten HUttn war ma d' Sentin grecht:
Sitzt da Jaga drin mit seini Knecht.
Werl 6, Almrausch S. 16.
Bald Uempert di Glockn,
Bald tröpfelt da Schottn,
Bald gramlt da Stier:
Koan Fried is da nia.
Werle, Almrausch S. 11.
Jetz waß i nit, plnngezt die Glockn,
Oder tropfezt der Schoten,
Oder muDggezt die Kueh,
Oder juchezt mei Bue.
yon Hörmann, Schnaderhnpfeln> S. 246. Nr. 686.
Wie wispelt die Goasl,
Wie rumpelt der Wagn,
Und ietz kimmt ja mei Btiebl,
I kenn'n am Fahm.
Ebenda S. 282. Nr. 781.
0 Germania 20, 340. B&chtold berichtet da über eine Pariser Hand-
schrift Konrads von Ammenhausen, die der Schreiber, gelangweilt durch
seine Arbeit, gelegentlich zur Abwechselung mit Yolksreimen und Priameln
durchflocht. „Ich Michel Scherer schreip dis buoch noch gottes
geburt 1418 jer; bittent got für in, gesessen uf sant Steffans
plon zuo Strosburg^. Ergänzungen bei Vetter, Das Schachzabelbuch
Kunrats Ton Ammenhausen. Frauenfeld 1892. S. LII— LIII Tafel (Nr. 14).
^) Man müßte sonst im 3. Yers das gemeinsame Bindeglied sehen wollen.
^) Naturgeschichte des Schnaderhüpfels S. 60.
22*
340
Ban OfnthUrl hat er aussigschaut,
Mitn Kochlöffl hat's 'n aufighaut,
Mitn SchUrhakl hat's 'n einigrent:
Und der dumi Kerl hat's do net kent.
Werle S. 255.
Mit dö Augengläser hat's 'n angeschaut,
Mitn Kochlöffl hat's 'n aufighaut,
Mit da Fuierzangan hat's 'n brennt:
Und der dummi Kerl hat's nit kennt.
Greinz und Kapferer 1, 90.
Mei Weib hat mi mitn
SchUrhakln ausgjagt;
Z' Nachts nimt's goar
D' Ofngabl, hat's gsagt.
Werle S. 255.
Mei Schatz is a lanka,
A lankar, zaundttra,
A buklata Hund:
Aba ba Tanzn hübsch rund.
Dei angschnibne Weis,
Und der tolfuaßat Gang,
Dei Plattn, dei Schottn:
Der währt ma schier zlang.
O Du mei Herzerl, mei Tauserl;
Hast an Kopf wiar a Mauserl
Und a Herz, a woachs,
Krumpi FUaß wiar a Dachs.
Und's Diandl hat a Pratzei,
Und a Gsichtei hat's a,
Als wan 'n Kachbam sei Ochs
Driibar abö grutscht wa.
Werle S. 261.
Werle S. 201.
Werle S. 263.
Werle S. 262.
Die Kellrin von Woadring,
Hat gar an schian Gang,
Mitn oan Fuaßl macht's KUahgras,
Mitn andern rechent's zsamm,
Greinz und Kapferer 2, 16. Pogatschnigg und Herrmann 1,
22 f. Fsp. 261, 5 ff. 513, 19 ff.
Und's Dirndl is a Köchin,
Kocht uns a Muaß,
Sie hockt afn Pfannastiel,
RUahrt mitn Fuaß.
Greinz und Kapferer 1, 114. Vgl. M. Beimbüchlein 1691 ff. 1800 ff.
341
Heidideldum : mei Weib is Icrümin,
Hat an böasn Zeachn,
Tappt die Stubn au a;
Thuat gar gwalti fluachn.
Ebenda 1, 122.
Mei Deandl is a saubras Bröckl,
A Nasn hats wia a Groschnwecki,
A Maal hats wia.a Ofenloch:
Gern hab is doch.
D' Strumpf YoUa Löcha
Und schiaftrettne Schuah,
Aba große Tournür:
Solche Madl gibts gnua.
Es rauscht was, es kimmt was,
Verstohln auf mi zua,
Ho glabt's is mei Büabal:
Derwei is's a Kuah.
Schnadahüpfl aus Oberbayern. Miesbach 1891. S. 27 f.
Gang i eine ins Wäldle,
Hat mi schier verdrossen,
Hab gmeint, i schieß ein Hirschle,
Hab ein Kuh getroffen.
Gundlach Nr. 958.
Aft tramt ma, Du warst
Mitn Busserln glei da,
Wan i wach wia, so küss i
Mein' Polstazipf a.
Werle S. 219.
Min kUssi hett ich ghalsen schon,
Ich wand ich het sie selber da.
Wil si mich Schimpfes nicht erlan,
Ich glob ich werd von senen gra.
Hugo von Montfort XVIII 13flf.
Auf der Alm han i gschlaflfo,
Auf der Alm hats mi gfreut,
Hab gmoant i hals d' Schwoagrin:
Hab d' Waschbank umgkeit.
Gundlach Nr. 467.
Bei der Nacht hats mr tramt,
Hab is lachn müeßn,
Han i glabt is der Schatz,
Is de Katz boan Füeßn.
Pogatschnigg und Herrmann 1', 36. Nr. 182.
342
Mir san gsössen beinand,
Hast a Glasl umkeut:
Wird a Kindstauf bald wem,
Sagn dö gspoaßinga Leut.
Kaltenbrunner. Gnndlach Nr. 725.
Han amal an Schatz ghabt,
Kan'n net vagessn,
Denk alwal dran,
Wan ma Suppn essn.
Werle S. 219. Zum Motiv Gummere, Beginnings S. 413.
Mitm Maul schweigt sie still,
Mitn Augn redt sie viel,
Mit da Hand schiabt s' mi weg,
Wann 's moant, i waar z'keck.
Gundlach Nr. 485.
s' Diendle ist krank.
Liegt dahoam auf der Bank,
Kirnt der Bader dazua.
War ihr lieber der Bue.
von Hörmann^ S. 110. Nr. 307.
Mei Diendle is sauber
Im Suntag-Gwandln,
Und vor lauter Lieb fibbem
Die FUrtachbandln.
von Hörmann^ S. 114. Nr. 316.
Hübscher Bue, feiner Bue,
Schnür mr mei Mieder zue.
Daß i amal sagen kann:
Du bist mei Bue.
Ebenda Nr. 318.
Z' Abenster bin i gsessn
Mitn Diendl aufn Herd,
Hab aufs Hamgehn vergesen,
Habs Betläutn nit gehört.
Ebenda S. 118. Nr. 328.
Wenn is Diendl halsen thue,
Druckts ihre Äugln zue,
Thuet, als obs schlafen that
Und lost fein stat.
Ebenda S. 131. Nr. 367.
Beim Bett ist sie gsessen.
Beim Fensterl is 's gloahnt.
Wie der Bue nit kommen ist,
Hats Hascherl gwoant
Ebenda 8. 171. Nr. 482.
343
Den gleichen genrebildartigen Charakter, wie der erste Vier-
zeiler, hat Scherers Spottreim auf das Eonstanzer Konzil:
Wer zehen wurste wol bereit,
Und zuo jeder wurst ein wecken gekeit,
Und darzuo eine Hasche mit win:
Do mohte daz kuntzilium zuo Kostanz sin').
Der dritte Priamelvierzeiler Michel Scherers:
Unmuot duot we,
Armuot noch vil me').
Doch geselle nit verzage:
Glücke kumet alle tage^)
ist für chronologische Festlegung einer der bekanntesten Motiv-
Beihen von Wichtigkeit; zahlreiche Sprüche desselben Grundtypus
führen vom Beginn des 15. Jhs. bis in die Gegenwart, Verse, an
denen wie Luther, Herder und Karoline Schlegel sich die
Generationen eines halben Jahrtausends immer neu erbaut haben.
Stets handelt es sich um den Typus A. Eine der Grundformen ist
zu erkennen , wenn man zur Ergänzung des Schererschen Verses
den noch aus demselben Jahrhundert in der Wiener Hs. 3027
331b bezeugten Vierzeiler heranzieht:
Sweig, meid, leid und vertrag,
nicht vil leuten deinen chumer klag,
doch nicht verzag:
gelück chumbt alle tag^).
Bedet aus diesem Verse Trost im Unglück, so empfiehlt seine Um-
kehrung im Glücke Mäßigung. Schloß der erste Vers: ,Glück
kommt alle Tage*, so endet der andere mit der Warnung: ,Un-
glück kommt baldS Was voraufgeht, wechselt in bunter Mischung
») Germania 20, 339.
^) Heinrich Seuse (Denifle) I, 191: „Lipliche Übung die tnot we.
Aber ains gelassnen menschen undergang noch tusent stund me.
3) Germania 20, 339.
*) ,geluckt' Hs.; Bruchstücke: Nd. Jb. 15, 16. Z. f. d. A. 34, 53. Nr. 34.
Wander, 4,47. UhlS. 250. Reimbüchlein 2228 jff. 3646 ff. ZingerleS.47.57,
Einfacher Mones Anz. 3, 32. Nr. 2. 292. Varianten: Beisebüchlein Nr. 107
Uhl S. 312. 254. Xanthippus, Preuß. Jb. 85, 582. Brandes, Glosse S. 252.
Die Wiener Hs. 3009, 134 b gibt einen prosaischen Kommentar dieses Spruches
natürlich nicht nach Epiktet. Herder 25, 599. 29, 513.
344
durcheiDandergeschobeDen Spruchmaterials. Es ist vielleicht wieder
nur ein tückischer Zufall, daß diese ümkehrung oberdeutsch
gerade im 15. Jh. handschriftlich nicht bezeugt zu sein scheint.
An hochdentscher Herkunft ist wohl um so weniger zu zweifeln,
als der Spruch auch von Geiler von Keisersberg gern gebraucht
wurde. Den die Grundform umkehrenden Typus stellen mittel-
niederdeutsche, mittelniederländische und neuhochdeutsche Fassun-
gen dar^). Es genügt hier eine anzuführen:
Die wel is. die blijve,
die wat weet, die swijghe,
die wat heeft, die houdet:
verlies comt boude").
Selbständige spätere Ausweichungen aller Art erweisen, wie dieses
Motiv immer flüssig geblieben ist. Alle Kombinationen über
Geilers, Luthers oder Anderer Autorschaft erledigen sich durch
diesen Sachverhalt.
Als Inschrift erscheint der Priamelvierzeiler seit Ende des
14. Jhs., zunächst in den sogenannten Jahreszahlrätseln ^). Auf
eine im Jahre 1356 in Basel wütende Feuersbrunst und Pest
bezieht sich:
Ein ringe und sin dorn, CIC
TrU roßisin erkorn, CCC
Ein simmeraxst und der gelten zal: LVI
Da fiel Basel Uberal^).
Ain rink mit aim dorn
vier roßeisen ußerkom.
swae kreus und dreier fändel zal:
wart HohenzoUer zerstört gar.
d.h. 1423^).
') Zeitschrift des historischen Vereins für Niedersachsen 1850 S. 314,
aus der Ebstorfer Handschrift. Nd. Reimbüchlein 2190 ff. 1879 f. Weimarisches
Jahrbuch 1, 130ff. Nr. 16. Uhl S. 313. Xanthippus 86,85. Seufferts
Yierteljahrschrift 4, 379 ff. 1, 189. 6, 441. Dr eselly, Grabinschriften, Sprüche
auf Martersäulen und Bildstöcken etc., dann Hausinschriften, Wirtshaas-
schilder, Trinkstubenreime, Geräte-Inschriften u. a. Salzburg o. J. (1898)
S. 121. Nr. 619.
«) Hoffmann Nr. 16.
8) Zeitschrift für Volkskunde 10, 187 ff.
«) Ebenda S. 189.
^) S. 190. Steiff, Geschichtliche Lieder und Sprüche Württembergs
S. 14. Nr. 2.
345
Ain A mit aim J gestickt,
daurzu vier hufisen geschmitt,
und ain zimmerackst mit der aposteln zal:
geschach die niderlag im Neckartal.
d.h. 14621).
Als Tor - Inschrift fanden wir einen Vierzeiler von epi-
grammatischer Schärfe am Weißentorturm in Straßburg 1418
angebracht. Der Priamelvierzeiler vom Rathaus zu Wernigerode,
bald 1492, bald 1498 datiert, scheint nur in moderner Form
erhalten :
V
Einer achts.
Der andre verlachts,
Der dritte betrachts :
Was machts ?')
Besser geordnet ist der Spruch als Hausinschrift in Oberbayern:
Einer achts,
Der ander betrachts,
Der drit verlachts:
Was machts l ^)
Im 16. Jahrhundert nimmt die Sitte der Haussprüche und
Inschriften mit der Blüte des Profanbaus, insbesondere der Holz-
architektur einen gewaltigen Aufschwung^;. Wirtshausinschriften
des 15. Jahrhunderts besagten:
1) Mones Anzeiger 3, 232. Steif f S. 46. Im Jahre 1600 schrieb man
dem Freiherm von Paar als Spottreim einen Vierzeiler über die Tür, wie
Grasberger S.25 meint, das älteste steirische Schnaderhüpfel. Ein anderes
Schnaderhüpfel hat der Fürst von Plcß im großen Saale seines 1867 neu
erbauten Jagdschlosses anbringen lassen. vonPadherg, Hausinschriften '
S. 118. von Hörmann ^ S. 339. Nr. 927.
^ von Padberg » S. 37. Mones Anzeiger 2, 261.
») Dreselly S. 99 Nr. 494. S. 137. Nr. 711 auf einer bemalten Truhe.
*) Curtze, Die Hausinschriften im Fürstentum Waldeck. Arolsen 1871.
S. 4ff. S eel mann, Reimbüchlein S. VI. Suterm eis t er, Schweizer Haus-
Sprüche. Zürich 1860. S. Iff. Während wir ein C.JGr und 0 JL besitzen,
fehlt ein CJGerm.
346
Die gest, die ungern bezaln,
US dem kese machen schaln,
Bartholomeus us dem brode:^)
die hab ich in mime huse node^}.
Gegen Hausfreunde richtet sich Sebastian Brants Vierzeiler:
Wer brennend kol jnn gören leidt,
Vnd schlangen jnn sym büsen treyt,
Vnd jn synr teschen zücht eyn muß:
Solch gest lont wenig nutz jm huß').
Das Gegenstück zu dem alten .Wirtsspruch liefert der moderne
elsässische weit verbreitete Vierzeiler des Typus C:
Solche Gäste liebe ich,
Die erbar discurriren,
Die gut und redlich zalen mich,
Und frölich abmarschiren*).
Oben sahen wir, daß ein Priamel des 15. Jhs. 1681 als
Wirtshausspruch angewandt wurde*).
Bei der Übersicht über die sonstige Produktion des 15. Jhs.
mögen zunächst die eigentlichen Priamelspruchbücher ausge-
schlossen werden; es empfiehlt sich, sie nachher zusammen zu
behandeln.
Dem formalen Ungeschick Hugos von Montfort lag der
Vierzeiler bequem; bisweilen wirkt dabei dann die Priamelform
ein, so daß eine Spielart des Priamelvierzeilers entsteht. Z. B.:
^) d. h. die Butter dick aufstreichen. Zs. f. Volkskunde 8, 439 f.
Latendorf, Agricolas Sprichwörter S. 222, 65.
') Aus einer Frankfurter Hs. des 15. Jhs. Mones Anz. N. F. 2, 34.
3, 104. Hätzlerin S. 42. Mones Anz. 2, 229. 13, 140.
3) Narrenschiff 33, 91 ff. ühl S. 339. Wand er 1, 609. Nr. 133.
*) Alemannia 7, 229 ff. Volkstümliches aas dem Elsaß I, Sprüche in
Wirtsstuben, Nr. 7. Meier, Schwäbische Volkslieder S. 267; über der Haus-
tür des Adlerwirts in Amtzell. Deutsche Haussprüche aus Tirol. Gesammelt
von W. 0. Innsbruck 1871. S. 37. Falck, Art und Unart in deutschen
Bergen. Berlin 1890. S. 52. 84. 86.
^) Vielleicht bezieht sich auch auf Inschriften T a u 1 e r s Tadel : „Njmandt
benüget , jderman gedencket, wie er vil müge gesammen, vnd bawen große
heÜBzer ynd malen die mit affenhait ynd darein tziehen sj wunder vnd irer
sinnen lust** u. s. w. beiHasak, Der christliche Glaube. Begensburg 1868.
S. 348.
347
Wer nicht muot hat Ton wiben
Und hat sie nicht in eren,
Guot lob tuot von im schiben:
Sin Unglück wirt sich meren.
(XXXIII 89 ff.)
Also sond ir die sach verstan,
Und frölich sin mit eren,
Got vor allen dingen lieb han:
Üwer glück das wirt sich meren.
(XXXVin 109 ff.)
Formlos dagegen bleiben die Saligia:
O wip, gula und git,
Wes band ir dwelt verfüeret,
Hoffart, zorn, hass und nitl
Das sind sibn stück, der todes sünde snüere.
(xxxvm 103 ff.)
Heinrich Wittenweiler überliefert:
Gemachtez haus, gescribens buoch,
Beschlaffens weib, versnitten tuoch,
Dar zu hefen alter plunder:
So wolfeil sind» es ist ein wunder.
(Bing 31c, 35 ff.)
Maus im sak.
Und laus im nak,
Mäusz im haus und feur im kübel:
Die bezalent iren wirten übel.
(Bing23d, 9ff.>).
Gleichzeitig mit der Durchbildung einer eigenen bürger-
lichen Kultur gewinnt das Improvisationsgebilde des Priamel-
vierzeilers immer mehr an inhaltlicher Vielseitigkeit. Die Haupt-
masse der gnomischen Anthologien des 16. Jahrhunderts ist wohl
noch mittelalterliches Gut; trotzdem sei hier die Beschränkung
auf handschriftlich fürs 15. Jahrhundert Bezeugtes festgehalten.
Am ergiebigsten ist von den nicht eigentlichen Priamel-
handschriften die Wiener Hs. 3027 (P); sie belegt manchen
später unzähligemal wiederholten Spruch.
1) Vgl. Uhl S. 396. Vers 3: Diep? Freidank 47, 18. 141, 15,
348
Ain mal mit eren.
zwai tuet freuntschafl vercheren,
das dritt mit schand,
das viert mues lassen ain pfand *).
Alt äffen,
jung pfaffen,
wilt pern:
sol ain man in sein haus nit ehern ^.
Wer helst an lust,
und trinkt an durst,
und ist an hunger:
der stirbt also junger^).
Mittelniederländisch :
Die drinckt sonder durst,
cust sonder lust,
ende eedt sonder honghere:
sterft seuen iaren te ionghere^).
Klaine vischel,
schmaleu tischel,
engeu stübel:
daz zimbt an edeln fürsten übel^).
Trew und wahrhait,
mild und parmherzigkait:
da peleib stät an,
so gesigstu deinen veinten an^).
Wer falken und habich zu tauben tuet,
und wolf zu schaffen,, tuet nimer guet,
jung roaid bei pösen weihen
mugen in die leng nit keusch peleiben ^).
1) P 330b. Vers 4: ,pfand mit schänden.' Wander 1, 792.
3) P331a. Keller, Altd. Hsn. Tübingen 1872. S. 29 aus Ottners
Hs. Vers 3: ,alt bem'. Wand er u. d. Wörtern Affe, Pfaffe, Bär. Mones
Anzeiger 3, 32, Nr. 16. Reimbüchlein XV f. Hoffmann, Spenden 1, 30.
Wander 5, 720 lateinisch. Opschriften 1, 147. Dann iunge pfaffen | alt
äffen | eichomer | vnd raben, Soll kain weyser man in seinem hauß haben.
Was nutz Ton almiisen kumpt o. 0. u. J., S. 6.
3) P 331 a. Wand er 3, 171. Kpwr(£8ta 3, 345. Reimbüchlein S.XIX.Nr.44.
*) Meijer, Oude nederlandsche sprenken. Groningen 1836, S. 93.
5) P331a. 6) P 332 b.
^) P 333b. Vers 4; mugen jnjn.
349
Es sind Bennerverse: 12 520 f. 12 530 f., die man hier in
schwacher Steigerung zu verbinden sucht. Wie wenig fest die
Form geworden ist, lehrt ein Vergleich mit einer andern Fassung:
Ein turteltaube beim raben,
Ein mägetletn beim jungen knaben,
Die sein gewiss so wol behüt,
Als wenn man schaffe zum wolffe thut^).
Um die Wende des Jahrhunderts sind noch folgende einzelne
Vierzeiler schriftlich aufgezeichnet:
Peter nickel, falbe rösz,
Stiele pech und tiefife m6sz,
HoUerin wied, rött pärtt und oerlein pogen:
Thon di guot, so sol mansz loben ^).
Aigner nucz,
Alter haß,
Un weiser rat:
Des verderbt offt mannige gutte stat^).
Sauer sechen hilft nit.
Schon reden kann ich nit.
Gelt hilft, daz hab ich nit:
Puolschafft, schyt dich der ritt^)l
Nach Alemannien weist der Vierzeiler:
Nadel in der täschen,
Wasser in der fläschen,
in dem winter ain schinhuot:
bedütet groß armuot^).
») Toppen Nr. 42. S. 80.
3) Mones Anz. 8, 546. Nr. 20. Aus Cgm. 809 (1490—1524). Catalogus
S. 137. W. Meyer, Die Handschriften in Göttingen 2, 310. Erweitert in
F. Oöttinger Beiträge 2,73. Nr. 53; ygl. Keller, Schwanke S. 74. Zin-
gerle S. 124 f.
^ Mones Anz. 8, 546 f. Nr. 32. 3, 294. 2, 261. Niederdeutsches Jahr-
buch 16, 4. Zeitschrift des historischen Vereins für Niedersachsen 1849,
8. 327. Unten S. 357.
*) Mones Anz. 7, 500 ff. Nr. 18 aus Kuppitschens Hs. Nd. Reim-
bfichlein 2158 ff. Diutisca 1, 324. Zingerle S. 36.
^) Karlsruher Handschrift (Ottner). Längin Nr. 183. S. 102. Keller,
Altd. Hsn. Tübingen 1872. S. 29. Keller -Sleyers S. 35 (63).
350
Im südwestlichen Deutschland ist der Sprach noch hente
unverändert heimisch. Die schweizerische Form lautet:
Nadle in der Tasche,
Wasser in der Flasche,
Im Winter e'n Schatthitft:
Ist e grosse Armuet*).
Aber auch im Norden ist er bekannt; z. B. in dänischer
Fassung:
Meget Vand in Flasken,
Jngen Penge i Tasken,
One Vinteren Kroppen bar:
Er TIS Armod haard*).
Von der Beliebtheit des Vierzeilers, selbst zu der Zeit, als
Bosenplfits Priamel schon in Bayern viel bekannt sein konnten,
zeugt das Bfichlein, das sich Hans Kebicz anlegte. Da ist der
Priamelvierzeiler (einige sind bereits angeführt) mehrfach ver-
treten, bald ernst, bald heiter, bigott und lasciv. Auf Originalität
kam es dabei nicht an.
Seider ein posser haller gilt eim guoten geleich,
und der guot dem posen muost entweichen,
und im der pös vorgat:
so ist ez nit wunder, daz ez übel in der weit stat^).
Nach dem Motiv mit ,seit' wird heute noch improvisiert:
Seit de Baurebible
Runde Hitle trage,
Darf e Bauremädle
Gar Icei Wörtle sage.
Seit de Bauremädle
Lange Röckle trage,
Darf e Baurebible
A kei Wörtle sage^).
.1) Wander 3, 857. Nr. 24.
*) Ord-Bog S. 56. Aodere Nachweisungen bei Wand er 4, 1817.
Nr. 398.
3) Pfeiffer in Mones Anz. 8, 545. Vgl. Schmeller BWB 2\ 168.
Eeinz in den Münchener Sitzungsberichten 1891, S. 678.
«) Marriage, Volkslieder aus der badischen Pfalz 8. 379. Nr. 286.
Vergleiche:
351
Pfaffen fraidikait
junkfra gailhait,
merzen pluot:
die tond selten guot').
Pfaffen kyen,
Mertzen gryen,
Metzen zu geile behende:
Nemen selten ein gut ende').
Juncfrauwen claffer vnde pfaffen küne,
Hüner flog vnd mercze grüne:
Diess vier yn mynem müt
Seiden han eyn ende gut 3).
Seit man macht ritter an part,
und plüet füd sard,
und pfaffen ungelert,
seider hat sich die weit fast verkert^).
Das Motiv haben wir auch schon als Freidankmotiv kennen
gelernt.
•
Trefflich hat Sebastian Brant das lateinisch ausgeführt;
die deutsche Übersetzung läßt die im Vierzeiler enthaltenen volks-
tümlichen Motive deutlich erkennen.
Sidt bludte meytlin wurden wertt,
Vnd rytter, die nit brachen swert,
Vnd rattes herren one berdt,
Prelät vnd pfaffen vngelert,
Der kunst vnd tugend nyemans gert,
Vnd recht mit vnrecht wurt versert,
Vnd sand für tugend wurd geerdt,
Vnd man all glyder gotts verswerdt,
Beschysz, Tutruw sich täglich mert,
On nott wurt menschlich blüt verrert:
^) Mones Anzeiger a. a. 0. Nr. 1.
3) Serapeum 28, 231.
3) Borchling, Mnd. Hsn. 3, 17. — Der Spruch ist dorch die lateinische
Fassung des Florilegium Gottingenso Nr. 15 schon für das 14. Jahrhundert
bezeugt: Glericus ad bella pronus, lasciua puella, Martius in flore: caret
homm finis honore. Zum Motiv Opschriften 1, 66.
^) Mones Anzeiger a. a. 0. Nr. 12.
352
Hant sich all stät vnd grad verkert
Vnd würt mit plag die weit verrcrt*).
Vergleiche:
Synt dat die beeren ghyngen te ghelde,
ende men den ackerman ter orloghe stelde,
ende priesters machte sonder baert,
ende men blote voten niet en spaert,
ende men haetsen droech ende kniuen,
ende men raet nam aen die wiuen,
ende dat den joncxsten den outsten leerde,
ende dat recht met ghelde vorkeerde,
ende die dagghen hingen op de vede:
niet fynt en vaest pays in kerstenhede *).
Die geringe Kunst volksinäßiger Reimerei erlebte einen Auf-
schwung, als die Buchdruckerkunst die Verbreitung populärer
Literatur ungeheuer erleichterte. Man darf es wohl auch als
einen Beweis für die Beliebtheit des Vierzeilers ansehen, daß der
Straßburger Interpolator des Narrenschiffs (1494'); Zarncke
S. LXXXni 128) Brants dreizeilige Mottoverse zu Vierzeilern
umgestaltete, unter denen einige gute Priamel sind. Aus der nd.
Übersetzung, die hierauf, freilich als eine nach Zarnckes urteil
ganz originale Arbeit^) beruht, gingen dann zahlreiche Priamel in
nd. Spruchsammlungen über. Dem nicht talentlosen Interpolator
gelingen auch sonst manche Kleinigkeiten, z. B.
Vergangens sol man gdencklich achten,
Das künfftig sol man vor betrachten,
Das gegenwürtig ordinieren:
So mag man ein recht leben fyeren^).
*) De causis depravationis rernm omnium bei Zarncke, NarrenschifF
S. 153; vgl. S. XXXVI.
3) Dresdener Hs. M 33 a, 5 a.
^) Benutzt ist das Weimarer Exemplar.
*) S. 206. Brandes, Die jüngere Glosse zum Keinke de Vos S. XX.
5) Das nüv schiff Bl. c IUI. ▼• Zarncke S. 14. Uhl S. 391. Lim-
bach S. 59. Nr. 54. Neues yaterländisches Archiv von Spiel und Spangen-
berg 1831, 2, 162. Nr. 6: „Vir prudens presencia disponit Futura prospicit
Et preterita recordabitur" ; aus dem Gedenkbuch des Hans von Menge rs-
hausen 1416 — 1483.
353
Wer lyden mag, das man in göycd,
Oder man inn die schüch im seich,
Oder setzt hörner vif die oren:
Der hat ein reygen mit den doren^).
Ein guter stiger darff ouch glück,
Die guten Schwimmer trincken dick.
Die guten Stecher ouch offt feien,
Das man eim rennet durch sin kelen').
Möcht einer sin frtind all verderben,
Das er ir gut möcht bald hererben,
Oder sie in eim lessei erdrencken :
Mancher würd sich nit lang bedencken^).
Der Bearbeiter beschließt das Kapitel mit einem Vierzeiler:
Den eitern soll man myltikeit,
Den frunden deinstlich sin bereit,
Rechtün gen aller weit vfF erd :
Dz heißt eins wisen menschen gberdt*).
Schwerlich selbständig ist der Vierzeiler:
Ein frantzos sin sach vor zu rieht.
Ein lombard ist gut in der gschiht:
Die tütschen machen ir anslag,
Wan mans nit widerbringen mag.
Es folgt nämlich:
Vnd sind gar wis noch der geschieht.
Dar vor gedencken sie sy nicht.
Des spott man ir in manchem gdicht^).
Von den Mottoversen seien erwähnt:
Wer nitt vor gürtt ee dann er ryt,
Vff künfifcig vnfall rüstet nüt,
Vnd sich versieht vor hin inn zyt:
Des spott man, feltt er an ein sytt^).
') Das nüv schiff Bl. f Vv. Zarncke S. 34.
«) Das nüv schiff Bl. i I. Zarncke S. 47.
') Das nüv schiff Bl. c II ▼• Kessel?
*) Das nüv schiff Bl. c m. Kap. 10.
^) Das nüv schiff Bl. c III. Ammon, Geiler von Keisersbergs Leben,
Lehren und Predigen. Erlangen 1826. S. 216.
•) Das nüv schiff Bl. c IUI.
Baling, PrUmeL 23
354
Wer spricht das gott barmhertzig sy
Allein, vnd nit gerecht dar by
Vnd das er hab das hymelrich
Den gensen gemacht : der ist in glich ^).
Biilich in künfftig armüt feit:
Wer stetz noch schleck vnd füllen stelt,
Vnd mit der vollen rott sich helt,
Oder den prassern zu geselt').
Wer allzit gern von wißheit hört,
Vnd mit begird die flißlich lert,
Gentzlich zd ir sich allzyt kört:
Der wtirt in ewikeit geert^).
Wer sieht ein andern vallen hart,
Vnd er sich nit dest baß bewart,
Sunder der narrenkapp nach fart:
Der grifft dem roraff an den bart^).
Als bewußte Kunstübung erweist sich die Verwendung des
Priamelvierzeilers, wenn mehrere hinter einander folgen.
Der gyttig ist glich wie ein hundt:
Der ein stück brots entpfoht in mundt,
Oder fleisch, vnd verschluckt dz gantz,
Vnd wart bald \ff ein ander schantz.
Der gyttig ist niit dann ein kyst:
Dar vff der landsfürst ettwan vischt,
Dar vß der röuber sich ernert,
Yeder mit pfysen dar vber fert^).
Daß bei Sebastian Brant selbst „die ganze deutsche Volks-
poesie seinerzeit^, wie Zarncke meinte, „in Acht und Bann stand^,
kann man doch wohl nicht gut behaupten, wenn man bedenkt.
>) Das nÜY schiff Bl. c VI. Aufschrift an einem Hause in der Nähe
des Arber mit Abweichungen: Marterl. 2. Sammlung. München, Schupp,
o. J. S. 17.
^) Das nüv schiff Bl. d IL
3) Das nüv schiff Bl. e II >.
*) Das nüv schiff Bl. h 11.
^) Das nüv schiff Bl. a YII v- Am Schluß des 32. Kapitels werden die
beiden Priamel: ,Wer lyden mag das man in göych' und ,Wer brennend
koln in geren leidt' nur durch zwei zweizeilige Sprüche getrennt.
355
wie sehr er von der volkstümlichen Qnomik abhängig ist^); auch
was den Priamel Vierzeiler betrifft, steht er unter ihrem Einfluß.
Er verschmäht dessen Motive gar nicht. Zwei Belege dafür be-
gegneten schon oben; sie lassen sich mehren.
Wer sorget ob die gänsz gent blosz
Vnd fägen will all gasz vnd strosz
Vnd eben machen berg vnd tal:
Der hat keyn fryd. ruw, vberal*).
Dann narren rott, vnd büler wergk^
Eyn statt gebuwen vif eym bergk
Vnd strow das ja den schuhen lyt:
Die vier verbergen sich keyn zyt').
Meistens füllt sich allerdings die volksmäßige Form mit ge-
lehrt reflektierendem Inhalt:
Hett Phaeton syn faren gelon
Vnd Icarus gemacher gton
Vnd beid gefolgt jrs vatter rott:
Sie wem nit jn der jugent dot^).
Wer heymlich ding nit schwigen kan,
Wer dut mit btrogcnheit vmb gan
Vnd spannt syn lefltzen wie eyn tor:
Do hüt eyn yeder wis sich vor*).
Wer heylen will mit eym vngent
AU triefend ougen, rott, verblent,
Purgyeren will on wasserglasz:
Der ist eyn artzt als Zuhsta was^).
») Zarncke S. LXXVII.
«) Narrenschiflf 24, 27 ff. Zarncke S. 341. Zingerle S. 11. 189. 103.
Wander 1, 1326. Nr. 5 ff. 31 f. 199. 243. DW u. d. W. Gans. Meijer,
Oude nl. spreuken S. 92: „Hierom ende daerom gaen de ganssen baeruoets''.
Hermann von Sachsenheim, Spiegel 195, 31 f. Holland und Keller.
») 39, 21ff. Zarncke S. 375. Vgl. 104, 40 fif. Zarncke S. 452. Scheible,
Kloster 6, 430. Wander 5, 1170. 1, 615. Nr. 297 ff. 341. 1, 646. Nr. 1055 ff.
Martin^ und Lienhart, Wörterbuch der Elsässischen Mundarten 1, 651.
Leitzmann, Gerhard von Minden S. XXII. Pogatschnigg und Herr-
mann 1», 154. Nr. 757:
Die Lungen in Häfen,
Die Lieb in an Haus,
Sie laßt si nit bergen,
Schaut umatum braus.
*) 40, 21 ff. 5) 51, 9 fif. 6) 55, 22 ff.
23*
356
Wer me veriert dann er gewynnt
Vnd borget vil, so jm zerrynnt
Wer zUcht syn frow eym andern vor:
Der ist eyn narr, gouch, esel, thor^).
Mitteldeutschland ist für den Beginn des 14. Jahrhunderts
durch Hugo von Trimberg, fürs 15. Jahrhundert durch
Nürnberger Produktion am glänzendsten vertreten. Was außer-
dem von diesen Eingebungen des Augenblicks auf mitteldeutschem
Gebiet erhalten ist, bleibt, abgesehen von Entlehnungen und
überall verbreiteten Sprüchen, ganz vereinzelt und fragmentarisch.
Aus dem nordöstlichen Kolonisationsgebiet, das uns oben eine
Variante eines Freidankspruches lieferte, sei der unbeholfene Vers
erwähnt:
Zungen binden, herzen twingen,
underwillen oberwinden,
alle ding zu dem besten keren:
zo ist aller togende nimmere^).
Ganz geistlich ist ein andrer gehalten:
Deinen toidt und Christus sterben,
Valscheit der leut hie uff erden,
Dasz grichte gottes und heische pein:
Lasz allzeit vor deinen äugen sein 3).
«
Aus einer vom Jahre 1500 datierten Hs. der Magdeburger
Schöppenchronik füge ich hinzu:
Wer einer der beste, so er ie gewarth.
Und seine mutter derselbigen arth,
Auch sein vater ein dieb:
Hette er geldt, so wurde er gehaldenn lieb*).
>) 78, 22 ff. Zum Motiv s. oben S. 275.
») Z. f. d. A. 13, 567 aus einer Königsberger Hs. Vgl. S. 507. Da
selbst S. 566 andere nicht priamelhafte Vierzeiler. Toppen, Volkstümliche
Dichtungen. Königsberg 1873 S. 73 vermutet ohne Not ,nnsern willen*.
Vollständiger hat diesen Spruch Pfeiffer in Mones Anz. 8, 547. Nr. 36 aus
Cgm. 809 mitgeteilt.
3) Zeitschrift des Harzvereins für Geschichte und Altertumskunde 1869,
2, 102.
*) Aufseß Anz. 2, 228. Vgl. oben S. 324 einen Spruch des Sulz er s.
357
Wer den wolff nicht forcht zu weinachtenn,
Und den gebaur zu vastenachte,
Und den pfaffenn in der marterwochenn :
Deme sinth seine sinne gar zubrochenn ^).
Vornim und mergke,
Treib und wergke,
Höre und fursche durch dich
Und laß übergehen^).
Ein wenig besser steht es um niederrheinische Über-
lieferung. Auf einem Trierer Folioblatt haben sich die Trümmer
einer Spruchrede des 15. Jhs. erhalten. Originale Priamelvier-
zeiler sind nicht darunter, nur Übersetzungen und Bearbeitungen.
Eigen notz
heimelich hasz,
und ein junk rait:
verderbent manchen goden staet^).
Selbständiger erscheint ein niederdeutscher Spruch:
Egen nütte,
vorwitte,
und lange wile:
maken den loep vaken aver vele mile^}.
Ohne Verständnis für die Priamelform verfuhr der lehrhafte
Bearbeiter dem schönen Spruch ^Schweig, meid, leid und vertragt
° ^ • Swyge, lyt und verdrach,
Nyt eder man dynen kommer enclage:
Du mochtes dem clagen dyn leyt,
Er wilde, das yß were noch also breyt*).
Mit nl. und nd. Überlieferung teilt das Trierer Blatt fol-
genden Spruch des Typus 0:
Idt is nu der werelt staet:
Do myr ere, ich doen dyr quaet,
Hylft mych off, ich werfifen dich neder,
Do myr ere, ich sehenden dich weder*).
^) A. a. 0. S. 229. =) Ebenda; verdorben.
3) Germania 19, 304. Hochdeutsch s. oben S. 349. Brande s, Glosse S. 293.
Wander 3, 1080. Nr. 23.
*) Reimbüchlein 815.
*) Germ. 19, 303. Vgl. Reimbüchlein 2502 ff.
^ Germ. 19, 303.
358
Dem Typus B. nähert sich der am Gregoriustage gesungene
Vierzeiler :
Caritas liet nu in großer noit,
Justicia ist gestorben doit,
Tristicia is usserkorn,
Fides hat gancz den globen verlorn^).
Diese niederrheinischen Sprüche mögen zunächst auf mittel-
niederländisches Gebiet hinüberführen, dessen Produktion vor
der niederdeutschen ins Auge zu fassen sich empfiehlt, weil die
mnl. Überlieferung teilweise etwas älter zu sein scheint. Die
volksmäßige Spruchdiclitung kommt in mnd. und mnl. Literatur
erst ein volles Jahrhundert später zur Geltung und dauert dem
entsprechend auch ungefähr hundert Jahre länger als die hoch-
deutsche. Während diese sich schon früh in prosaische Sprich-
wörtersammlungen auflöst, blüht die mnd. und mnl. Spruchpoesie
noch lange fort. Fahrende mögen Freidanksprüche nach den
Niederlanden gebracht haben ^). Zahlreiche Übertragungen und
ümdichtungen solcher Sprüche der Bescheidenheit sind uns schon
begegnet. Wichtiger aber war der gemeinsame Besitz an gno-
mischen priamelhaften Motiven, die fortzubilden der nie verstummte
Volkswitz sich angelegen sein ließ. Den Niederländern und Nieder-
deutschen kam dabei ihr berühmter trockner Humor zu statten;
und so liefert dieser Zweig der Vierzeilerliteratur manchen neuen
Treffer, schlagend, gesalzen, präzis und bis heute lebenskräftig.
Manches begegnet noch in den immer neu aufgelegten Koddigen
en ernstigen Opschriften. Die reichste Fundgrube derartiger
Poesie ist die vielgenannte Hulthemsche Hs., eine bisher un-
bekannte die Hs. M 33 a der Königlichen Bibliothek zu Dresden.
Jaarschriften, den deutschen Jahreszahlrätseln entsprechend
und doch in der Form von ihnen abweichend, überliefert die
Brüsseler Hs. Nr. 837—845.
0 von Heinemann, Wolfenbüttler Hsn. II 4, 366. 32. 4. Aug. 4to
(3365). 15. Jh. Köhler, Kleinere Schriften 2, 75 ff. 3, 642. Borchling
Mnd. Hs. 1,175. 298. 2,125. Priebsch, Deutsche Handschriften in Eng-'
land 1, 175. Zum Gregoriusfest : Drechsler, Sitte, Brauch und Volks-
glaube in Schlesien 1, 62 ff.
2) Wackornagel, Gesch. d. d. Lit. V 150. Tijdschrift 5, 310 ff.
350
Nemt van enre Meesen thoeft, 1315
Ende van drien Crayen, des ghelooft,
Ende thoeft van drien Vincken:
Daer muechdi de dier tijt bij gedincken^).
Men screef M. CCC. VIII ende een: 1309
Doe brande men der zieken nienich een,
De lieden wouden zij vergheven,
Daerorome worden zij verdreven.
M. CCC. XX ende acht:
So waest dat men te Cassel vacht,
Daer Vrancrijc wan ende Viaendren verloes,
Des sal men ghedincken altoes^).
Een gesp op een tess,
Vier ooren aen een vles,
En een balck in een huys:
Lach Hertoch Karel vor Nuis^). 1475.
Jahrhunderte lang beliebt waren Sprüche über der Welt Lauf
und Stand, durchweg nach Typus G gebaut, jedes der parallelen
Glieder in charakteristischer Konstruktion*) zwei Gegensätze ver-
einend. Wir trafen schon auf eine niederrheinische Nachahmung
dieses Vierzeilers. Im Mnl. ist er früh bezeugt.
Wetti, hoe de werelt staet?
Doet mi goet, ic doe u quaet;
Doet mi ere, ic doe u lachter;
Trect mi vore, ic sette u achter*).
Der niederrheinischen und sonstigen deutschen Überlieferung
steht eine sehr späte Version der in Zutfen entstandenen Weimarer
Hs. von 1537 näher.
*) Napoleon de Pauw, Mnd. Gedichten en Fragmenten. Gent 1893.
S. 637.
3) A. a. 0. S. 636. 638.
^) Yeteris aevi Analecta seu vetera monumenta hactenus non yisa ed.
Antonius Matthaeus. Ed. secunda. Ilt. Hagae-Comitum 1738. S. 654.
^) Zarncke zum Narrenschiff 33,8.
^) Ans der Hu Ithom sehen Hs. im Belg. Mus. 6, 186 mit der Variante
S. 202: Wetti waer mede de werelt omme gaet? Suringar, Bijm-
spreuken 2, 9. Die Dresdener Hs. M. 33a, Bl. 5b hat als Vers 1: ,Siet wat
hier ghescreven staet' und im letzten: ,set mj voreS Xanthippus,
Preuß. Jb. 86, 93 f.
360
DU is nn der werelt staet:
ic doe dy goet, du doest my qnaet;
ic hefie dy op, du werpst my neder;
ic ere dy, du schendest my weder ^).
Im Oöttinger Liebesbrief vom Jahre 1458, den Hermann
Konemund zum Zweck einer raffinierten Erpressung an Kard
Hallis schrieb, ist der ältere Spruch völlig individuell verarbeitet.
In allen werden goden stad:
Dede ek iw goyt, gy deden my qaat;
Borde ek niy up, gy setteden my neder;
Erde ek iw, gy sehenden my weder').
Auch die Fassung des niederdeutschen Beimbüchleins ist nicht
ohne Selbständigkeit; ein Vorzug dieser mnd. Version besteht
darin, daß sie zu der satirisch wirksameren Gegenüberstellung
von Du und Ich znrücklenkt, während die beiden letzten Beispiele
der Überlieferung das ,Du : Ich' zu ,Ich : Du' umgekehrt hatten.
Dith is nu der Werldt staet:
Do mi gudt, ick do di qwadt;
Heve mi op, ick stöte di nedder;
Ere mi, ick sehende di wedder^.
Den Frauen gilt der Vierzeiler:
Vrauwen, die scaerlaken draghen,
Ende selve hären vloer vaghen»
Ende camecate sonder cnapen:
Hier sta ic op ende gapen^).
In der Dresdener Hs. M. 33 a, Bl. 5 b weichen die beiden letzten
Verse ab:
ende camelote coersen sonder knape:
hier na staen ic op ende gape.
Genrebildartig behandelt auch der folgende Spruch seinen
Gegenstand, den in moderner Vierzeilerpoesie so beliebten Typus
des Pechvogels ohne Geld:'
') Weimarisches Jahrbuch I, 130 ff. Nr. 34. Meyer, Die gereimten
Liebesbriefe S. 83f. te Winkel, Tijdschrift 5, 312.
») X, 1 ff. Germania 10, 385 ff.
») Reimbnchlein 2457 ff. Mones Anz. 7, 500. Nr. 27.
«) Hulthemsche Hs. im Belg. Mus. 1,195. Yaderl. Mns. 2, 148,
361
Schamel ghesellen sonder ghelt,
Diemen dan niet boerghen en wilt,
ende node haer pande vertheeren:
Dat syn gods marteleyre ').
Eid sinniges Volksliedmotiv nutzt das Priamel:
Waer ic so wit als een swane,
ende conde ic minnen als een hane,
ende conde der nachtegalen sanc:
so waer ic in aller vrouwen bedwanc').
Anlehnung an hochdeutsches Vorbild ist möglich; entsprechende
Vierzeiler sind nachzuweisen.
War ich so weis als wie ein Schwan,
Und dUrft so oft als wie ein Hahn,
Und könnt so oft als wie ein Spatz 3):
So war ich aller lIuTnicpetc Schatz^).
Könnt ich schwimmen wie ein Schwan,
Krähen wie ein Gockelhahn,
Karessiren wie ein Spatz:
War ich aller Mädchen Schatz >).
Aber selbständige Entwicklung des gemeinsamen Motivs ist
nicht ausgeschlossen, wie folgendes Beispiel bestätigt.
Op 't Krat van een Haarlemmer Wagen.
Had ik het bloet van een Haan,
De schoonheit van een Swaan,
Gelt nog goet zou my niet ontbreken,
De Juffers zouden 't in myn zak stecken^).
Ein Sechszeiler der Bescheidenheit (78, 17 ff.), von dem oben
S. 289 die Bede war, ist in der Oberlieferung der Hu Ithem sehen
Handschrift auf vier Verse reduziert.
1) Dresd. M. 33 a, Bl. 5 b.
*) Hoffmann, Weim. Jb. 1, 130ff. Nr. 22. Birlingeru. Crecelius,
Wunderhom 2,113. Uhland, Volkslieder V 127. Nr. 88, 8; Schriften 4,85.
Erk-Böhme, Liederhort, 1, 424. Meier, Schwäbische Volkslieder S. 16.
Nr. 79. Gundlach S. 49. Nr. 144.
») Wander 4, 670, 22.
*) S. 190 des Helmsdörferschen Stammbuches im Panlusmuseum zuWorms.
*) Dreselly, Grabinschriften u. s. w. 8. 138. Nr. 719. Inschrift an
einem Ofen zu Ottenbrunn.
•) Opschriften 2, 86,
3(?2
Die niet en can ende niet en vilt leren,
Ende van eren comt tonneren,
Ende niet enen soten verdraecht:
Wijst desen, daer men sotten vraecht*).
Das zweiteilige Motiv, dem Kontrastmotiv venrandt, durch
Psendo-Freidanksprüche bezeugt, greift auch auf andre Vierzeiler
über') oder verwischt in anderen Fassungen.
Die niet en can noch en weet,
Ende niet en heeft noch en gheneert,
Ilet es anschijne oppenbare,
Dat hem es nahende ennoede zware').
Für den ungemein verbreiteten Spruch vom Freund in der
Not ist ein mnl. Vierzeiler der älteste mir bekannte Beleg.
Een vriendt ter noet,
ende een vrient ter doot,
ende een vriendt achter nigghe:
Dat is een vaste brugghe^).
Selbständig erscheint der spätere Freundschaftsspruch:
Rechte vrientschap ende die ghepast
besloten in twee harten vast,
die niet en mindert, mer altijt past:
nae sulker vrientschap mijn harte tast^).
Der Einrichtung eines mittelalterlichen Wirtshauses entspricht
die Inschrift:
Sijt willecomen» god weet:
Dat ghij brijnc, is u bereet,
Dat ghij fynt, moechdij begheren,
Dat ghij hebt, moecht dij verteeren*).
') Belg. Mos. 6, 187. Nach demselben Motiye ist eis selbst&ndiger
Sechszeiler der Hnlthem sehen Hs. gebildet. Serrare, Yaderlandsch Mus.
2, 193. Vers 481 «f.
<) Z. B. Altdeutsche Blätter 1, 76. Nr. 24, 1. Zs. f. d. A. 34, 49.
3) Belg. Mus. 6, 195. Dresd. Hs. M 33a, Bl. 5b Vers 1; ,endeniet
en leerte
') M 33a, 5b. Die Hs. schreibt ,acter und wasteS Eoker S. 344.
Mones Anz. 2, 228. Keimbüchlein 100 ff. 2325 ff. Vgl. Zingerle S. 39 und
die Sprichwörterlexika.
') Aus der Weimarer Hs. Ho ff mann Nr. 27. Ein andrer Spruch, den
Hoff mann in den Altdeutschen Blättern 1, 75 Nr. 12 mitteilt, nimmt in-
haltlich und formell eine neue Wendung.
^) Dresd. M 33a, Bl. 5b Altd. Blätter 1, 75. Nr. 8. Vers 3: ,dat ghi
363
Eine neue Wendung des Motivs ,HaIb und halb^ kommt in
folgender Art zustande:
Halff quaet halff guet,
Halff gheck halff vroet,
HalfiF eer halff scande:
Dat is die zede van den lande *).
Zwischen ernster Satire und dem Bettelspruch schwankt:
Tfi den melden, fi den goeden»
Tfi den hoofschen, fi den vroeden,
Tfi hen allen, di nu leven:
Sonder die ghelt mögen gheven').
Gute Beispiele des Typus B liefert die Wiener Hs., die
Bäumker großenteils veröffentlicht hat').
Hi is geck, die hem te vele onderwynt,
Hi is geck, die hem te vaste uerbindt,
Hi is geck, die tsyn niet en genoecht,
Hi is geck, die hem mh gecken voecht^).
Tot steruen syn wy alle geboren,
Sternen is ons leuen al,
Steruen is ons toe behoeren:
Mer wel te steruen is guet geuaP).
Späterer Überlieferung gehören folgende Beispiele an:
Tscheers qualic ghewet,
den baert qualic ghenet,
en ruide banden:
doen menighen man cryseltanden ®).
siet^ Der minnen guet hg. von Yerwijs S. 47. Nr. 43. Gaston Paris,
Yillon S. 55: „Les tavemiers ne donnaient qu'ä boire; si on voulait manger
chez eux, 11 faillait apporter ses provisions''. Reimbachlein 1740 ff. Mones
Anz. 7, 500. Nr. 45.
>) Nd. Korrespondenzblatt 23, 91. 93.
') Hulth. Hs. Belg. Mus. 6, 194. Die Dresd. Hs. M 33a, Bl. 5a kehrt
in Vers 1 und 2 ,den mjlden' nnd ,den hoefschen' um. Auch Reim-
büchlein 2056—59. 2158 ff. 2393 ff. könnten Bettelsprnche sein.
5) Nd. Jb. 13, 104ff *) 106, 7ff. ») 107, 23ff.
^) Meijer, Oude nederlandsche Spreuken S, 70,
364
Die met Stade vult synen dann,
synen necke van passe haudt warm,
en syn wyf verre van synder sye:
leeit in ghesondichye ^).
Die moet sin mit brillen,
purgieren met pillen,.
ende boeleren met medecyne:
syn leuen werdt hem pyne*).
Gheen vrueght,
gheen iueght,
gheen excellentie:
voor een gheruste conscientie^).
Es sind aber oft mehr Quatrains moraux als volksmäßig
gebaute Priamelvierzeiler, die man liebte. Nur einige wenige
seien aus der Menge solcher nicht recht priamelhafler Sprüche
hervorgehoben.
Heelen, peynsen, dinken ende verbeyden,
Die diese IUI can umbeleyden,
hij mach seker syn, van dien
hen sal duecht van dien geschient).
De roenege up enen anderen sprect,
gevroet - i wat dat hem gebrect,
ende wat hem vormaels wäre geschiet:
hi-swege ende sprake up anderen niet^).
Te tide verdraghen, te tide wreken,
te tide swighen, te tide spreken :
die dit can, die mach met eren
te hove gaen ende keren^).
Darf man von heutiger Produktion auf die Gabe der Improvi-
sation bei den niederdeutschen Stämmen im Mittelalter schließen,
•) Ebenda S. 73. Uhl S. 393. «) Meijer S. 82. ») S. 107.
*) Dresd. M 33 a, Bl. 6 a.
*) Ans der Brüsseler Handschrift 319 in Mones Anz. 3,292. Mones
Quellen und Forschungen 1, 481.
^) Aus der Hulthem sehen Hs. Belgisch Museum 6, 212. Serrare,
Yaderlandsch Museum 2, 174. Vers 113 ff. Mone, Übersicht der nieder-
ländischen Yolksliteratur älterer Zeit. Tübingen 1838. S. 312. Hier auch
längere Sprüche des gleichen Inhalts.
365
so hat der Stegreif- Vierzeiler auch bei ihnen nicht ungünstige
Daseinsbedingungen vorgefunden. Freidankverse kommen hier
an erster Steile in Betracht.
Weil das Priamel frei verändert wird, sind auch die soge-
nannten Freidankverse nicht an einen Originaltext gebunden und
können nicht, wie Wilhelm Grimm es tat, für den ,echten' Frei-
danktext in Anspruch genommen werden. Grimms Übersetzungen
ins Mittelhochdeutsche des beginnenden 13. Jahrhunderts sind
problematisch. Die Überlieferung der folgenden Sprüche gehörte,
wie wir sahen, erst dem 15. Jahrhundert an.
Junghes mannes strit,
unde oldes wyves hochtid
unde cleynes perdes lopent:
de schal neman to dure kopen.
Papen konheyt,
unde nunen steticheyt,
unde ossen telden:
de werden gelovet seiden^).
Obgleich die Bescheidenheit zu der mittelniederdeutschen
Spruchdichtung mit am meisten beigesteuert hat, nahm Fr ei dank
doch keine so autoritative Stellung ein, daß man ihm etwa sein
Eigentum wahrte; im Gegenteil legte man seine Sprüche wieder
bekannten, unbekannten und fingierten Gewährsmännern in den
Mund. Die Freidanksprüche des Bremischen Ratsstuhls werden,
bis auf zwei, andern Männern zugeschrieben, dem Seneca, Horaz,
Alanus, Paulus, Ambrosius, Hieronymus, Tobias, Cicero,
Macer^). Meist sind sie natürlich namenlos, wie in der Halber-
städter Hs., die an ihrem ersten Spruch zeigt, wie aus einem
nicht priamelhaften biblischen Freidankspruch ein guter Priamel-
vierzeiler geworden ist.
Dar de konnynck yst eyn kynth,
unde de frouwe hefft dat bewynthp
unde dat hoff arbeydeth nha gelt:
de lande synth selszen gestellt').
1) Bezzenb erger S. 236. Oben S. 287.
«) HugoE.MeyerZ.f.d.A.27,33ff.ÜberdieQuellenimallgemeinenS.43ff.
3) Nd.Jb. 2,29. Freid. 72, 1. Grimm S. XXXV» 349. Bezzenberger
S. 357. Abweichende nd. Umschreibungen des Bibelcitats bei Brandes,
Glosse S, 282.
366
Man vergleiche:
Lant und liute geirret sint,
swa der kUnec ist ein kint
und sich die fUrsten vlizent,
das si vruo enbizent.
Ebenso ist es einer andern Freidankstelle ergangen; die volks-
mäßige Priamelform dringt im Verlauf der mnd. Überlieferung
sichtlich vor.
Sülcke Gesellen beger ick nicht:
De Frölick sint, wen mi leidt geschieht,
Und de mi sülvest nedder drücket,
Ock nicht uphelpet, so mi was ungelücket ^).
Andere mnd. Freidankvierzeiler genügen höheren formalen An-
sprüchen nicht; geläufig sind sie bis ins 16. Jahrhundert geblieben,
Agricola und Diez brachten sie aufs neue in Kurs.
Adel, tucht, schone gesta|t und jöget,
wißheit, rikedom, laster und doget:
de leth de dodt alle nicht bestan.
na unsem vordenste kumpt dat Ion').
Ein ältere mnl. Übersetzung war formell nicht anders verfahren:
Coenheit, edelbeit, hovescheit, joecht,
wijsheit, njcheit, ere ende doeght,
die en wilt de doot niet sparen,
wine moeten, daer \(i verdienen, varen^).
Zu einem Vierzeiler ist ein längerer Spruch der Bescheidenheit
° ' Got hat driu leben geschaffen:
gebüre, ritter unde pfaffen;
das vierde geschuof des tiuvels list,
daz dirre drier meister ist:
daz leben ist wuocher genant,
daz slindet liute unde lant^).
Godt hefft Veer dinge geschapen:
den Adel, Buren und Papen,
dat veerde sind Wokeners genant,
de schinden Borge, Stede, Dörper und Landt^).
») Reimb. 1295 ff. Freidank 64, 8 ff. Brandes, Glosse S. 252.
3) Reimbüchlein 1051 ff. Freidank 176, 16. Brandes, Glosse S. 261.
Vers 1839.
3) Suringar, Rijmspreuken 2, 260. Nr. 87.
*) 27, 1.
^) Reimbüchlein 1569 ff. Brandes, Glosse S. 241 (Agricola).
367
Hier zeigt sich niederdeutsche Vorliebe für Einfachheit, die leicht
der reicher entwickelten Kunst des Hochdeutschen gegenüber
etwas dürftig erscheint.
Nicht minder beliebt waren Hugos von Trimberg Vier-
zeiler; z. B.
Heren gunst und rosen bieder,
frouwen gemueth und Aprilis wedder,
worpell, karten und seydenspyel:
de synt unstede, wers geloven wyP).
Hatten Hugos Eugen oft noch individuelle Bedeutung, so
erweiterte spätere Tradition den Vierzeiler zu allgemein gnomischer
Geltung. Hugo schrieb:
Gitigkeit, luoder und unkiusche,
muotwille und unzimlich getiusche,
hant mangen hem als6 besezzen,
daz si der wise enbänt vergezzen,
in der hie vor edel herren sungen:
von Botenloube und von M6rungen') u. 8. w.
Daraus wurde im Niederdeutschen des 16. Jhs.:
Giricheit, Vullerie und unküsch wandel,
Mothwille und untemlick handel:
hebben mennigen Herrn also beseten,
dat se der Wißheit gar hebben vorgeten^).
Ein Bennermotiv scheint folgendem Vierzeiler zu Grunde zu
liegen:
Tidt, stede und stünde,
Veldt, Hasen und Hunde;
Maken mennigen wilden Man,
Dat mercke wol, de dat marcken kan^).
Auch von der Bescheidenheit und vom Benner abgesehen, ist .
die Literatur der mittelniederdeutschen Priamelvierzeiler in weitem
Umfange von hochdeutscher abhängig. Die besten hochdeutschen
Beispiele sind vielfach schon in nd. Übersetzungen mitgeteilt,
Übertragungen aller Art sind zahlreich. Das Verdienst der meisten
^) Nd. Jb. 2, 31. aus einer Halberstädter Hs. Andere Fassungen bei
Brandes, Glosse S. 242.
«) 1210 ff.
3) Reimbüchlein 1483 ff. Brandes, Glosse 243, 66 (Agricola).
«) Beimbüchlein 2176 ff. Kenner 12536 f. 10575 f. Henisch bei
Wander 5,554. Vgl. Reimb. 2628 ff. Koker S. 374.
368
Sprficbe dieser Art besteht nur in Tollstäodiger AneignoDg, Weiter-
bilduDgen sind spärlicher.
Junge Papen,
Olde Apen
Und wilde Beeren:
Schal nemandt jn syn hass begeren*).
Nun aber hängt niederdeutscher Humor sein Schwänzchen
daran:
Denn de Papen laten na einen Sproke
Und de DoTel einen roke.
Eine entsprechende Zusammenstellung bot die Stockholmer
Vogelsprache Nr. 42:
De dane.
We S3m hos wil hebben snver.
De wäre syck Tor papen und dunen.
De dirae gheyt schyten amme den thient
Unde de pape nmme syn serdent').
Hasen lunge,
Karpen tunge
Und Barbren mnlchen:
Hefft vortert min geidt uud Gülchen').
Wohl auch hochdeutscher Herkunft ist der Beim:
Den gülden am klänge,
den vagel am sänge,
den minschen an geberden und worden :
erkent men an allen erden*).
Die hochdeutschen Entsprechungen zu folgenden Vierzeilern
lernteu wir schon kennen:
») Werldtspröke Nr. 19.
») Nd. Jb. 14, 132. Vgl. 144.
3) Reimbtichlein 885 f. Hochdeutsch Waldis (Kurz) 2, 124. 25. Wan-
der 2, 380. Uhl 8. 380. 383.
*) Archiv des historischen Vereins für Niedersachsen 1850. S. 314; aus
einer P]bstorfer Hs. Freidank 140, 9f. 82, 10 f. Vintlej 9390 ff. Zin-
gerle S. 44. 29. Uhl S. 316. 322. 352. 377. Oben S. 240.
369
Vele wete vnde weynich zage,
Antworde nicht vppe alle vrage,
Westu wat, dat wert wol schyn,
Wes wat vnde lath eynen andern ock wat syn^).
Wete vele unde weynich saghe,
antword nich up alle fraghe,
halt vor gudt ydermann:
wat westu, wat eyn ander kan'}?
Selbständigeres bietet ein mystischer westfälischer Sprach
desselben Motivs:
Swighen und denken,
anschowen sunder wenken,
merken sunder klaffen:
kann vele dogede und fredes geschaffen').
Blinde tho vormiden is ein Schrin,
Gedult im lidende legge dar in,
Woldath vor arch do dar tho,
Frouwde in armoth: nu do tho^).
• Eine hertzen &n syne lust,
Und drincken ane synen ddrst,
Ock ethen ane hunger:
Levet de lang, so nimpt ydt my wunder*).
Becht beliebt war auch bei den Niederdeutschen der
Spruch:
') Borchling, Mnd. Hsn. 2, 114. Aus einer Stockholmer Hs. des
15. Jhs. Vers 3 und 4 ließen sich nach der Mnnchener Yogelsprache 45, 4
im Nd. Jb. 14, 145 und nach einer Inschrift (Zeitschrift des historischen
Vereins für Niedersachsen 1849 S. 285. Nr. 14) rekonstruieren; ,WanS wofür
,Wes' aus der Inschrift eingesetzt ist, könnte noch an den Anfang des
3. Verses gebracht werden.
^ Über der Einleitung zum Stader Statut. Nd. Korrespondenzblatt
2, 80. Z. f. d. A. 27, 39.
^ Zeitschrift für vaterländische Geschichte und Altertumskunde 1857
S. 310. Zu Vers 1: Brandes, Glosse S. 269 V. 2694.
«) Beimbüchlein 1806. Oben S. 327. Borchling, Mnd. Hsn. 2,81.
4 Werldtspröke 44. Oben S. 348.
Knline;, Priamel 24
370
Schwyge, lyde und ock vordrag,
Dyn herteleidt nicht eim ydern klag,
An Gödt dem HEREN nicht vortzag:
He gifft und helpet alle Dag^.
Lidt, midt, swigh und vordrage,
Dine nodt nemandt klage,
An Godt dinen schepper nicht vortzage:
Dan gelücke kumpt alle Dage^).
Älter ist folgende aus einer Stockholmer Hs. des 15. Jahr-
hunderts von Borchling mitgeteilte Version:
Swich vnde lith,
Dat wart syn tyd,
Hebbe dult vnde vordrach:
Dencke, wen yd dy wedder vallen mach 3).
Nur Varianten des Motivs sind:
Wes willich und demödige dich,
Und mit gedult vele aversich,
Nim an tho dancke, wat men di doeth:
Datsüive bringt di ehr und gudt^).
Schwich, lidt unde midtl
GOTT giflft de tidt,
De di vorfröwt.
Folg der Lehr: sülcks di nicht riiwt*).
Eine schöne Ausführung des Spruches gibt Sebastian Brant
in seinen Epigrammen*^), die vielfach sozusagen ^gebildete^ Para-
phrasen alter Volksweisheit enthalten. Dem mittelalterlichen Ge-
dankenkreise steht die nl. Ausführung der von Bäumker publi-
zierten Wiener Pergamenths. näher:
>) Werldtsproke 77. Wander 1, 1606, 30. Brandes, Glosse S. 252.
(Agricola).
2) Reimb. 1287.
3) Mnd. Hsn. 2, 114.
*) Reimbüchlem 3573.
^) 3646. Vgl. Nd. Jb. 2,25: Wiltn leuen, sone, na ane schult
Swich, merke, höre und hebbe dult. Eitner, Das deutsche Lied des
15. und 16. Jhs. 2, 34. Nr. 49. Zeitschrift des historischen Vereins for
Niedersachsen 1850. S. 311 f.
6) Zarncke, Narrenschiff S. 158. Nr. 47. Ähnlich Reimbüchlein 2502 ff.
Nd. Jb. 13, 107, 7—12. Brandes Zs. f, d. A. 34,53.
371
Dyn lyden en sulstu niemant clagen
Daiü Jhesu, die salt di helpen dragen;
Die menige seyt syn liden voert
Den ghenen, die dat gheerne hoert,
Hem weer leet, cbt anders waer.
Aldus maect hi hem selven te maer
Ende wordt dan Tele te myn geacht,
Het is een manlike cracht,
Dat een syn liden wel can dragen
Verborgen, sonder yemant te clagen
Ende toenen yan buten aisulk gebaer.
Recht off in hem gheen liden en waer *).
Weise und schön nennt Wehr mann die in einer Lübecker
Hs. gefundenen Verse:
He is wys, de kan vordraghen,
unde liden vordreet al sunder klaghen
unde darby holden syn gebere,
oft liden vordreet neyn liden t were^.
Dieser Vierzeiler entspricht einem mnl., Aristoteles zuge-
schriebenen Verse der Hulthemschen Hs.:
Een mensche die wel can verdraghen
sijn leet verborghen sonder claghen,
ende toene in hem een goet ghebare,
oft gheen liden in hem en wäre,
die dit wel ghedhoen can,
leeft in eren, eest wijf öf man^)«
Das von Scherer für den Beginn des 15. Jahrhunderts be-
zeugte hochdeutsche Motiv: ,ünmuot duot we, Armuot noch vil
me^ verbindet sich mit dem Prinzip des Kettenspruchs. Das
ergibt den Vierzeiler des Typus B:
Gudt maket modt,
Modt bringet avermodt,
Avermodt bringet armodt,
Armodt gantz we doth^).
1) Nd. Jb. 13, 108, 38 ff. Vgl. 109, 4 ff.
») Nd. Jb. 8, 8.
^) Serrure, Yaderlandsch Museum 2, 195. Vers 529 ff.
«) Reimb. 2186 ff. Vgl. 2442 ff. Köhler, Kleinere Schriften 2, 66 ff.
Zarncke, Narrenschiff S. 157. Nr. 36. Oldecop 110,24. Zs. des bist.
Vereins für Niedersachsen 1849 8.323. 1850 S. 311.
24 •
372
Nach gängigen Motiven wird ans dem Stegreif gereimt:
Ein Jaermarckt ane Deve,
Ein sch5ne. Frouw ane leve.
Ein Bfidel ane Geldt:
Desse dre dinge vindt men seiden yn der Weldt').
Ein Garden ane Boem,
Ein sch6n Guel ane Thoem,
Ein Rftter ane ein Swerdt:
De dre synt nicht veel Geldes werdt*).
Synt dat papen vogede worden,
Monyke hulpen sik vth den orden»
Landes heern nicht bleuen bij worden:
Synd is de werlt seer versoerden').
Seedcr dat yt waert,
Dat men papen wijgede Yngelaert
Und lade te lydder sloch sonder gebort,
Und blote kutten schoer:
Heefil sick de werlt seer verkart^).
De dar hefit ene steneghen acker»
Und eyn wyff myt den lenden wacker,
Deme syn dynck denne nycht en doch:
De hefilt ungheluckes ghenöch*).
Mannich man hefft enen stenegen acker.
Und sijn wijff mjrt dem eerse wacker,
Und eene stumpe ploech,
Und eme sijn dynck nicht en doch:
Uorwaer de hefit unlackes genoch^.
•) Werldtspröke Nr. 52. Vgl.:
Een iaermarct sonder dief,
een schoene maeght sonder lief,
een schare met coren sonder mosen,
een oade pelse sonder lasen,
een oadt wyf sonder scheiden:
dese vyf dinghen vindt men seiden.
Meijer, Oude nl. Spreuken S. 87. Herrigs Archiv 112, 15 f.
«) Werldtspröke Nr. 46.
^ Nd. Jhb. 14, 141. Nr. 19 worden] Hs. ,weren'.
*) 141. Nr. 17.
^) Nd. Jb. 14, 133. Nr. 49. Oben S. 280.
«) Nd. Jb. 14, 143. Nr. 37.
878
Misse to hören en leitet nicht,
almisse to geven en armet nicht,
unrechte guet en dyet nicht,
logen to spreken en riket nicht ^).
Oesundheits- und Lebensregel kleiden ihre Weisheit gern in
die Improvisationsform des Priamels, auch wenn sie in der (den
Inschriften so nahe verwandten) Vogelsprache auftreten.
We des nachts wil vele drinken,
Und nicht mede ethen von den Schinken,
Des awens ghan an der ulen vlacht:
Den besteit gerne de watersucht ").
We des morghens vro upsteyt
Unde dorch lusten spasseren gheyt
Unde leth na ghades kerken:
De wyl der boven orden Sterken').
Solche Vierzeiler können selbständig sein.
Orobianische Parodie bleibt nicht aus:
Suep di vuU und legg dy nedder,
Sta up und vAUe dy wedder:
Also schrifit Alexander:
Eine vulle vordrifilt de ander*).
^) Zs. f. yaterländische Geschichte. Münster 1857. S. 310. Vgl. oben
S. 349. Protestantisch umgedichtet Zs. des historischen Vereins for Nieder-
Sachsen 1850 S. 309. Werldtsprdke Nr. 47. Wander 1,50. 3,638. Brandes,
Glosse S. 87. 268. Wander 3, 1702, 36. 2, 1357, 4. Zeitschrift f. Volks-
kunde 8,51. Simprecht Krölls Handschrift Cod. Pal. germ. 795, 47b:
Glas schön bin ich nit,
Hofflich bulen kan ich nit,
Lieplich ansechen hilft mich nit,
Fraintlich angreiffen dar ich nit.
Gelt helf michl das hab ich nit:
Unfal, das meinen bulen der ritt schidtl
Esehenburg, Denbn&ler S. 460. Nr. 12.
») Nd. Jb. 14, 129. Nr. 16. Werldtspröke Nr. 94, 93.
>} A« a. 0. 185. Nr. 61. Im allgemeinen vgl. Wander 1, 166, 22 ff.
Trinkregel 21.
^) Werldtspffdke 45. Hochdeutsches ans Aegidius Albertinus bei
Zarncke» Narrenschiff GXVn. Zs. t d. Phil. 9, 210.
872
Nach gängigen Motiven wird aus dem Stegreif gereimt:
Ein Jaermarckt ane Deve,
Ein sch/^ne. Frouw ane leve»
Ein BAdel ane Geldt:
Desse dre dinge vindt nnen seiden yn der Weldt').
Ein Garden ane Boem,
Ein 8ch6n Guel ane Thoem,
Ein R&ter ane ein Swerdt:
De dre synt nicht veel Geldes werdt').
Synt dat papen vogede worden,
Monyke hulpen sik vth den orden,
Landes heern nicht bleuen bij worden:
Synd is de werlt seer versoerden^).
Seeder dat jrt waert,
Dat men papen wijgede vngelaert
Und lüde te rydder sloch sunder gebort,
Und blote kutten schoer:
Heefft sick de werlt seer verkart^).
De dar he0b ene steneghen acker,
Und eyn wyfT myt den lenden wacker,
Deme syn dynck denne nycht en doch:
De hefft ungheluckes ghenöch*).
Mannich man hefit enen stenegen acker,
Und sijn wijff myt dem eerse wacker,
Und eene stumpe ploech,
Und eme sijn dynck nicht en doch:
Uorwaer de hefft unluckes genoch^.
>) Werldtspröke Nr. 52. Vgl.:
Een iaermarct sonder dief,
een schoene maeght sonder lief,
een schüre met coren sonder musen,
een oude pelse sonder lusen,
een oudt wyf sonder scheiden:
dese vyf dinghen vindt men seiden.
Meijer, Oude nl. Spreuken S. 87. Herrigs Archiv 112, 15 f.
«) Werldtspröke Nr. 46.
») Nd. Jhb. U, 141. Nr. 19 worden] Hs. ,weren'.
*) 141. Nr. 17.
^) Nd. Jb. 14, 188. Nr. 49. Oben S. 280.
«) Nd. Jb. 14, 148. Nr. 87.
375
Das lehrt die vollständigere Fassung:
We daer wyl vysche meygen,
Und an sjmen acker stene segen,
Und de den doden schijten drecht,
Und syn gelt an hören lecht:
Des bistu secker unde wis,
Dat yd al te male verloren is').
Zerstört ist die Form folgenden Verses:
Zypnllen und knobelock,
schone frouwen, bemewyn, lendenrock,
rath tho stinck stinc dat ock^).
Formell unentwickelt scheinen:
Wol dar wil hebben ein reine Huss,
Der late M6ncke und Papen daruth.
Denn Möncke, Muse, Mutten und Maden
Scheiden seiden &n groten schaden').
Wer solche bey jm hausen leßt,
Der het auch warlich gerne Gest:
Denn Mönche, Motten, Meuse, Maden,
Die scheiden selten one schaden*}.
Es bleibt, wenn man alle zweifelhaften Beispiele abzieht, noch
eine bescheidene Anzahl solcher übrig, deren niederdeutschen
Ursprung man zeigen oder vermuten kann; z. B.:
£n wol bewandert wyff»
en pert, dat up den haken ys styff,
unde en knecht, de vele heren hefft gehat:
darup henge nemant synen schat^).
Die Beime bezeugen niederdeutsche Heimat
Der geystliken unorlicheyt,
des hofwerkes unhovescheyt,
in steden unde dorpen uneyndrechticheyt :
merket, wat dut schaden deyt^).
>) Nd. Jb. 14, 144. Nr. 45. Jb. 3, 22, 21 ff. 25, 120. Diutisca 1, 325.
Germania 1857, 147 f. Z. f. d. Fhü. 9, 194 f. Manuel hg. von Baechtold
S. 166. Wander 5, 1156.
») Nd. Jb. 2, 29.
^ Werldtspröke Nr. 18.
*) Waldis 2,71, 45.
*) Nd. Jb. 3, 62. Nr. 12. Nd. Reimbüchlein 274. Motiv oben S. 279 f.
•) Nd. Jb. 3, 64.
876
We sjne vinger in alle hole stykt,
Allent dat he bort vnde zAd besprykt,
Vnde sine vote van dem pole strecket:
Dat were nen wunder, he worde gecket*).
We nu god holt vor oghen,
Vnde swighen kan vnde doghen,
Vnde wil en islik, dat zin is, gheven:
De mach lange in eren leven').
De der gemenheit dent,
Fflrsten und heren syn gelt lent,
Darto vele vAre wil bftten:
De mot lyden suer unde s6te^).
Eine Reihe treffender Priamelvierzeiler überliefern die soge-
nannten Vogelsprachen, die sich schon mehrfach als wichtig für
die gnomische Überlieferung erwiesen haben.
Wor de magbet ovele meth,
Unde de knecht sijk an der schrifft vorghet,
Unde de werdynne to rekent gherne:
Dar schal men vormyden de thaveme^).
Aus diesem Oenrebild betrügerischer Wirtschaft hat die Er-
weiterung des Münchener Druckes etwas ganz anderes gemacht,
das Bild einer verkommenen Wirtsfamilie.
Waer dat ys een astorich weert,
Und Tele kynder vmxne den hert,
De frouwe nycht wyl koken, dat men eet,
Unde de maget luttick in de kanne met
Unde daer to rekent gerne:
Dat maket snel een woste taverae^).
Dem keifenden Hausherrn gilt der Vers des Buchfinken:
Wor de werth grensen gh&d
In deme huse sunder underl&d
Uppe syn wyf! unde uppe ynghesynde:
Dar is seiden wath ghudes inne*).
0 Nd. Jb. 2, 25. Lübben, aus einer Emdener Hs., die Vers 2 hat:
hört züd vnde^; die Besserung rührt von Lübben her.
») Nd. Jb. 2, 26.
^ Brandes, Glosse S. 128 (3943). 278.
*) Nd. Jb. 14, 132. Nr. 41. «) Nd. Jb. 14, 140. Nr. 11.
•) Nd. Jb. 14, 184. Nr. 54.
377
Selten kommt ein Wortspiel vor:
Offte my eyn bove myt eneme boven schulde,
Unde de sulve bove nych vor my en ghulde,
Unde were doch ergher bove wen ick:
Des sulven boven vordrote myk').
,De heger of maerkloff' tadelt den Unwahrhaften:
We vele wyl legen
Unde syck daer up dreegen,
Unde ys daer by valsch und spee:
Och welk een scalk is hei
Wie Goethes Vierzeiler „Im neuen Jahre Glück und Heil!**
ist der gelungene Vers gebildet:
Hoge torne und klockenklanck,
To groten schepen roder lanck,
To qwader reysen gude wege,
Den quaden wijuen grote siege')!
Als dictum Caroli Magni stehen über der Ossenbruggeschen
iChronick des Johannes Elinckhamer vom Jahre 1588 die Verse:
De ehre, de dy Godt gifft, nicht fluich.
Damit doch em dat sine nicht entuich,
Doe selbst, vorschaffe alles we es soll:
Den so geit et dy vnd den dinen woP).
In der Blütezeit der mnd. Literatur gewinnt die anspruchs-
lose Form des Priamel Vierzeilers bedeutenden Einfloß; gerade sie
scheint, dem demokratisch schlichten Geist des nd. Volkes kongenial,
geringerer poetischer Begabung sich am bequemsten erreichbar
erwiesen zu haben.
Viele von Sebastian Brants dreizeiligen Motto versen sind
bekanntlich aus dem Narrenschiff in niederdeutsche Spruchdichtung
übergegangen; nicht in der Originalform, sondern nach der Straß-
burger Überarbeitung von 1494 im Nyen schip van Narragonien
als Vierzeiler erweitert und priamelhaffc abgerundet. In einigen
Fällen ist die Selbständigkeit der nd. Bearbeitung gering:
») Nd. Jb. 14, 137 Nr. 75.
») Nd. Jb. 14, 139. Nr. 8. Prov. 26, 8.
3) Spiels Archiv 1882. n 198.
378
De syk vp gewalt yn deine rade vorleth,
Vnde veler ordel syck vormeth,
Den mantel na deme winde draget:
De sw he yn den ketel yaget').
Wer sich vff gwalt im ratt verlast,
Vnd feyler vrteil sich nit moßt,
Den mantel henckt, wo wynt her blöst:
Der selb die suw inn kessel stosst').
We nicht de rechte kunst studeret,
Vnde na der schrifft syk nicht regeret,
Wat vnnüttes ys he dat gerne leret:
Des syn ys meer wen halff vorkeret^).
Wer nit die rechte kunst studiert,
Vnd würt am narren seil gefiert,
Vnd nach der gschrifit sich nit regiert:
Der selb dem gouch die schellen rürt^).
Wer nit die rechte kunst studiert
Derselb jm wol die schellen Hirt
Vnd wurt am narren seyl gefürt*).
We vp syn fromheyt holt alleyn,
Deme nemant gud ys yn der gemeyn,
Vnde ordelt yederman vnreyn:
De stot syck vaken an den steyn *) !
Schon erheblicher ist die Abweichung in folgendem Falle
Wer öfflich schlecht sin meinung an,
Vnd kah heimlichs nützt behan,
Jo spannt sin garn für yeder man:
Vor dem man sich licht hietten kan?).
') Dat nye schip yan Narragonien. Rostock 1519. Bl. IX b. vp] vh (!).
Brant, Narrenschiff Mottoyers zu Kap. 2.
^ Das nüy schiff yon Narragonia. Straßbarg 1494. Bl. aV^*
^ Nye schip Bl. L a. Reimb. 2763 ff.
^) Das nüy schiff Bl. f I.
&) Brant Kap. 27.
*) Nje schip Bl. Lila. Das nüy schiff Bl. f 11 ▼• Die Übereinstimmong
ist fast eine wörtliche. Brant Kap. 29.
V) Das nüy schiff Bl. h I ▼.
379
De alle sine sake openbar ansleyt,
Spannet sin garn, dar eyn yslick geyt,
Kan nicht vorswigen hemelicheyt:
Den gesehnt recht, wo yd em oek geyt^).
Meistens hat der Bearbeiter mit sichtlichem Behagen an der
spezifischen Priamelform und unverkennbarer Begabung für den
Improvisations- Vierzeiler seine Sprüche um- und neugeschaffen.
Das mögen mit Hinzufügung der hochdeutschen Entsprechungen
Beispiele veranschaulichen.
Wol des nachtes vp der gatzen geyth,
Vnd vp der luten effte bungen sleyth,
Vnd dar ock sinen flyt to deyt:
De ys de ape van rypenschcyt").
Wer viel lust hat, wie er hoffier
Nachts vff der gassen vor der thUr,
Den glust, das er wachend erfrür,
Vnd ouch die narrenkapp vast rilr^).
Wer vil last hat wie er hofier
Nachts vff der gassen vor der thiir
Den glust, das er wachend erfrür^).
De hyr mit dorheyt vmme geyt,
Vnde ys nicht to deme guden bereyt,
Vorsümet den wech der salicheyt:
Dat wil em niwen yn ewicheyt*).
Vil dünt in dorheit hie beharren,
Vnd ziehen vast ein schweren karren.
Die wil sie sich nit went bewaren.
Dort wurt der swer wag naher (aren*).
Vil dnnt jnn dorheyt hye beharren
Vnd ziehen vast eyn schweren karrhen
Dort wUrt der recht wag naher faren ^).
I) Nje schip. Bl. LXIIIb. Brant Kap. 39.
^ Nje schip Bl. XCUa. Reimhüchloin 2973 ff. Eine vollständige Liste
der Entlehnungen gibt Brandes, Glosse S. L — LIII. Übersetzung ans Petri
bei Wander 5, 1300.
») Das nüv schiff Bl. V ▼•
«) Brant Kap. 62.
5) Nye schip Bl. LtXVa. Reimb. 2859ff.
') Das nÜT schiff Bl. i I y.
^ Brant Kap. 47.
870
Schwyge, lyde und ock vordrag,
Dyn herteleidt nicht eim ydern klag,
An Godt dem HEREN nicht vortzag:
He gifft und helpet alle Dag^).
Lidt, midt, swigh und vordrage,
Dine nodt nemandt klage»
An Godt dinen schepper nicht vortzage:
Dan gdücke kumpt alle Dage^).
Älter ist folgende aus einer Stockholmer Hs. des 15. Jahr-
hunderts von Borchling mitgeteilte Version:
Swich vnde lith,
Dat wart syn tyd,
Hebbe dult vnde vordrach:
Dencke, wen yd dy wedder vallen mach^).
Nur Varianten des Motivs sind:
Wes willich und demodige dich,
Und mit gedult vele aversich,
Nim an tho dancke, wat men di doeth:
Datsüive bringt di ehr und gudt^).
Schwich, lidt unde midt!
GOTT gifft de tidt,
De di vorfrßwt.
Folg der Lehr: sülcks di nicht ruwt^).
Eine schöne Ausfuhrung des Spruches gibt Sebastian Brant
in seinen Epigrammen^), die vielfach sozusagen «gebildete*' Para-
phrasen alter Volksweisheit enthalten. Dem mittelalterlichen Ge-
dankenkreise steht die nl. Ausführung der von Bäumker publi-
zierten Wiener Pergamenths. näher:
1) Werldtsproke 77. Wander 1, 1606, 30. Brandes, Glosse S. 252.
(Agricola).
«) Reimb. 1287.
3) Mnd. Hsn. 2, 114.
*) Reimbüchlem 3573.
^) 3646. Vgl. Nd. Jb. 2,25: Wiltu leuen, sone, nn ane schalt
Swich, merke, bore und hebbe dult. Eitner, Das deutsche Lied des
15. und 16. Jhs. 2, 34. Nr. 49. Zeitschrift des historischen Vereins for
Niedersachsen 1850. S. 311 f.
6) Zarncke, Narrenschiff S. 158. Nr. 47. Ähnlich Reimbüchlein 2502 ff.
Nd. Jb. 13, 107, 7—12. Brandes Zs. L d. A. 34, 58.
371
Dyn lyden en sulstu niemant clagen
Dan Jhesu, die salt di helpen dragen;
Die menige seyt syn liden voert
Den ghenen, die dat gheeme hoert,
Hern weer leet, Sat anders waer.
Aldus maect hi hem selven te maer
Ende wordt dan vele te myn geacht,
Het is een manlike cracht,
Dat een syn liden wel can dragen
Verborgen, sonder yemant te clagen
Ende toenen van buten aisulk gebaer,
Recht off in hem gheen liden en waer ').
Weise und schön nennt Wehr mann die in einer Lübecker
Hs. gefundenen Verse:
He is wys, de kan vordraghen,
unde liden vordreet al sunder klaghen
unde darby holden syn gebere,
oft liden vordreet neyn liden t were^.
Dieser Vierzeiler entspricht einem mnl., Aristoteles zuge-
schriebenen Verse der Hulthemschen Hs.:
Een mensche die wel can verdraghen
sijn leet verborghen sonder claghen,
ende toene in hem een goet ghebare,
oft gheen liden in hem en wäre,
die dit wel ghedhoen can,
leeft in eren, eest wijf öf man^)«
Das von Scherer für den Beginn des 15. Jahrhunderts be-
zeugte hochdeutsche Motiv: ,Unmuot duot we, Armuot noch vil
me^ verbindet sich mit dem Prinzip des Eettenspruchs. Das
ergibt den Vierzeiler des Typus B:
Gudt maket modt,
Modt bringet avermodt,
Avermodt bringet armodt,
Armodt gantz we doth^).
>) Nd. Jb. 13, 108, 38 ff. Vgl. 109, 4 ff.
») Nd. Jb. 3, 8.
^ Serrare, Yaderlandsch Maseum 2, 195. Yers 529 ff.
«) Reimb. 2186 ff. Vgl. 2442 ff. Köhler, Kleinere Schriften 2, 66 ff.
Zarncke, Narrenschiff S. 157. Nr. 36. Oldecop 110,24. Zs. des bist.
Vereins für Niedersachsen 1849 S. 323. 1850 8.311.
24*
372
Nach gängigen Motiven wird aas dem Stegreif gereimt:
Ein Jaermarckt ane Deve,
Ein sch6ne. Frouw ane leve,
Ein Büdel ane Geldt:
Desse dre dinge vindt men seiden yn der Weldt*).
Ein Garden ane Boem,
Ein sch6n Guel ane Thoem,
Ein RAter ane ein Swerdt:
De dre synt nicht veel Geldes werdt').
Synt dat papen vogede worden,
Monyke hulpen sik vth den orden»
Landes heern nicht bleuen bij worden:
Synd is de werlt seer versoerden^).
Seeder dat yt waert,
Dat men papen wijgede vngelaert
Und lüde te rydder sloch sunder gebort,
Und blote kutten schoer:
Heefft sick de werlt seer verkart^).
De dar hefift ene steneghen acker,
Und eyn wyff myt den lenden wacker,
Deme syn dynck denne nycht en doch:
De hefft ungheluckes ghenfich*).
Mannich man hefft enen stenegen acker,
Und sijn wijff myt dem eerse wacker.
Und eene stumpe ploech,
Und eme sijn dynck nicht en doch:
Uorwaer de hellt unluckes genoch^.
>) Werldtspröke Nr. 52. Vgl.:
Een iaermarct sonder dief,
een schoene maeght sonder lief,
een schüre met coren sonder musen,
een oude pelse sonder lusen,
een oodt wyf sonder scheiden:
dese vyf dinghen vindt men seiden.
Meijer, Oude nl. Spreuken S. 87. Herrigs Archiv 112, 15 f.
«) Werldtspröke Nr. 46.
^ Nd. Jhb. 14, 141. Nr. 19 worden] Hs. ,weren'.
*) 141. Nr. 17.
^) Nd. Jb. 14, 133. Nr. 49. Oben 8. 280.
«) Nd. Jb. 14, 143. Nr. 37.
878
Misse to hören en lettet nicht,
almisse to geven en armet nicht,
unrechte guet en dyet nicht,
logen to spreken en riket nicht ^).
Oesundheits- und Lebensregel kleiden ihre Weisheit gern in
die Improvisationsform des Priamels, auch wenn sie in der (den
Inschriften so nahe verwandten) Vogelsprache auftreten.
We des nachts wil vele drinken,
Und nicht mede ethen von den schinken,
Des awens ghan an der ulen vlucht:
Den besteit gerne de watersucht ^.
We des morghens vro upsteyt
Unde dorch lusten spasseren gheyt
Unde leth na ghades kerken:
De wyl der boven orden Sterken s).
Solche Vierzeiler können selbständig sein.
Grobianische Parodie bleibt nicht aus:
Suep di vuU und legg dy nedder,
Sta up und vflUe dy wedder:
Also schriflit Alexander:
Eine vuUe vordrifft de ander ^).
1) Zs. f. yaterl&ndische Geschichte. Münster 1857. S. 310. Vgl. oben
S. 349. Protestantisch umgedichtet Zs. des historischen Vereins för Nieder-
sachsen 1850 S. 309. Werldtspröke Nr. 47. Wander 1,50. 3,638. Brandes,
Glosse S. 87. 268. Wander 3, 1702, 36. 2, 1357, 4. Zeitschrift f. Volks-
kunde 8,51. Simprecht Krölls Handschrift Cod. Pal. germ. 795, 47b:
Glas schön bin ich nit,
Hofflich bülen kan ich nit,
Lieplich ansechen hilft mich nit,
Frainüich angreiffen dar ich nit,
Gelt helf michl das hab ich nit:
Unfal, das meinen bulen der ritt schidtl
Eschenbnrg, Denkmftler S. 460. Nr. 12.
») Nd. Jb. 14, 129. Nr. 16. Werldtspröke Nr. 94, 93.
>) A« a. 0. 185. Nr. 61. Im allgemeinen vgl. Wander 1, 166, 22 £f.
Trinkregel 21.
*) Werldtspröke 45. Hochdeutsches aus Aegidius Albertinus bei
Zarncke, Narrenschiff GXVQ. Zs. t d. Phil. 9, 210.
374
Ans alten Liebesbriefstellern stammt:
Allen luden godlich,
Wenich luden heymilich,
Sigh vor dich:
De love is myslich').
Daran setzen sich im Liebesbrief verschiedene andere Verse wie :
Oder:
Oder:
Swygen dat is kunst,
Claffen dat brynget Ungunst.
De trwe de is eyn selten gast,
We se hebbe, de hode se vast').
Sehe vor dick!
Trüwe ys misslicki
Trflwe ys ein seltzam Gast,
Wol se vindt, de holde se vast^.
Solche Verse wurden als Fensterspruch und Inschrift beliebt *).
An feinerem FormgefQhl stehen die nd. Sprüche den hoch-
deutschen nach. Zwischen Drei- und Vierzeiler schwanken mehrere
sprichwortähnliche Vierzeiler.
Eyn bock,
und eyn kock,
eyn tuI ey und eyn buckinck:
stincken ock nicht eyn listinck^).
Bttwent und kiff,
Koste und schöne wiff:
Nemen penninge und liff^).
Den Best eines volleren Priamels enthält die Stockholmer
Vogelsprache in dem Vers der Wildente:
De enen doden schyten drecht,
Und syn ghelt an böse wyve lecht,
De mach dat iummer wesen wys,
Dat syn arbeyt halff verloren ys^}.
0 Ernst Meyer, Liebesbriefe S. 83. Vers 3 und 4 auch einzeln.
«) A. a. 0.
^ Werldtsproke 25. Brandes, Glosse S. 247. Wand er 4, 505 f.
Zarncke zum Narrenschiff 69, 21 f. Mones Anz. 2,228.
*) Wander 4, 102 f.
*) Nd. Jb. 2,29 ey] ,vul eys'. Dafür Mones Anz. 13, 400: ,Ein
Ho er* Zur Form vgl. Werldtspröke Nr. 79.
«) Reimbüchlein 2294. Mones Anz. 13, 400.
^ Nd. Jb. 14, 131. Nr 27. Eeimb. 1975 ff.
375
Das lehrt die vollständigere Fassung:
We daer wyl vysche meygen,
Und an sjmen acker stene segen,
Und de den doden schijten drecht,
Und syn gelt an hören lecht:
Des bistu secker unde wis»
Dat yd al te male verloren is^).
Zerstört ist die Form folgenden Verses:
Zypnllen und knobelock,
schone frouwen, bernewjrn, lendenrock,
rath tho stinck stinc dat ock^).
Formell unentwickelt scheinen:
Wol dar wil hebben ein reine Huss,
Der late M6ncke und Papen daruth.
Denn M6ncke, Muse, Mutten und Maden
Scheiden seiden an groten schaden').
Wer solche bey jm hausen leßt,
Der het auch warlich gerne Gest:
Denn Mönche, Motten, Meuse, Maden,
Die scheiden selten one schaden*).
Es bleibt, wenn man alle zweifelhaften Beispiele abzieht, noch
eine bescheidene Anzahl solcher übrig, deren niederdeutschen
Ursprung man zeigen oder vermuten kann; z. B.:
£n wol bewandert wyff,
en pert, dat up den haken ys styff,
unde en knecht, de vele heren hefft gehat:
darup henge nemant synen schat^).
Die Beime bezeugen niederdeutsche Heimat.
Der geystliken unorlicheyt,
des holwerkes unhovescheyt,
in steden unde dorpen uneyndrechticheyt :
merket, wat dut schaden deyt^).
0 Nd. Jb. 14, 144. Nr. 45. Jb. 3, 22, 21 ff. 25, 120. Diutisca 1, 325.
Germania 1857, 147 f. Z. f. d. Phil. 9, 194 f. Manuel hg. Ton Baechtold
8. 166. Wander 5, 1156.
») Nd. Jb. 2, 29.
^ Werldtapröke Nr. 18.
*) Waldis 2,71, 45.
B) Nd. Jb. 3, 62. Nr. 12. Nd. Reimbüchlein 274. MotiT oben S. 279 f.
«) Nd. Jb. 3, 64.
386
Ein Leberreim hat einen schwachen Vierzeiler des Typus C
erhalten:
Wol eine Hoere nimpt tho Echt:
De kümpt int Hanreyer geschlecht,
Moth doch syn dag ein Hanrey blyun,
Hefft ein bösz Kleinod an sym Lyff^).
Frünt in der not,
frünt in den doet,
un eyn frünt achter rügge:
dat syn dre veste brügge,
worden ok alle syne vyende flügge ^).^
Einen Fünfzeiler enthält auch das Badbuch:
Geistliken Stadt, geistlik wark,
Unde dat so geholden strenge und staik,
Geistlike cledere ande geistliken raet,
Unde begaen gude werke unde gude datt:
Ein iewelk geistlik persone dit vorsta').
Daß man bei Bote auch von verkürzten Priameln reden könnte,
lehren Stellen wie:
Veithasen un hunde,
Luststede un stunde
Maket mennygen weydeman^),
wenn man diesen Spruch mit dem oben S. 367 besprochenen
vergleicht.
Niederdeutsche Derbheit spricht aus dem Vierzeiler:
Wen de Prester syne böker vorsmadet,
un de schöne maget ören krantz,
un de fauwe synen langen swantz:
dar is geschetten in den dantz^).
Von den Vierzeilern des Badbuches scheint einer individuell
in seiner Ausführung:
>) Nd. Jb. 10, 74. Nr. 59.
3) Koker S. 344. ^InHackmanns Text sind Zeile 1 und 2 zusammen-
gedruckt. Richtig Nd.* Reimbüchlein 100 ff. Mone 2, 228. Wander 1,
1182, 230. Den mnl. Spruch s. oben S. 362.
3) Radbuch 2, 115. Vgl. 1, 83. 2, 57. 8, 79.
*) Koker S. 374. Ähnlich etwa S. 316: „Un blanke spete«, S. 330:
„Eyn yunck wert**.
») Koker S. 377.
887
Wann ein wiff schal raden unde regheren,
Unde over rade unde richte remurmereren,
Unde de wunipel is baven dem sweerde:
Dar hefTt dat eyn selzeen gheveerde *).
Der zweite behandelt ein beliebtes Zählmotiv.
Dar eyn here unde syn rad
Twe schelke by sik had,
Wil de here alze de twe:
So wert der schelke wol dre^).
Auch Jakob Scracz'), Botes Nachahmer, bringt einen
Priamelvierzeiler an:
Wede olde schoe läppet vnde vlicket,
Jo men jn ein braken rad mer kile sticket,
Jo men oelde huse mer roeget:
Jo se mer kneteren vnde kroeget*).
Während die gelehrte mittellateinische Dichtung, wie wir
sahen (Kap. IV, 5), eigene Wege ging, läuft lateinische Über-
lieferung, die sich gegen die Volksdichtung der Landessprache
im wesentlichen nur aufnehmend verhält, auch der immer üppiger
sich entwickelnden Yierzeilerpoesie ununterbrochen parallel ^). Für
alle Priamelformen des Vierzeilers hat unsere Typensammlung
mittellateinische Belege geboten, Zauberspruch und Gruß waren
darunter vertreten, andere Sprüche, aus dem Deutschen übersetzt, sind
mehrfach schon mit berücksichtigt, bei hexametrischen Zeilen ist
inbetreff einer etwaigen Vorlage keine Sicherheit zu gewinnen^).
1) Radbuch 7, 56.
2) Radbuch 9, 69. Nd. Jb. 2, 31. Göttinger Beiträge 2, 79. Nr. 66.
Prov. 17, 21. V on H ör m ann , Schnaderhüpfeln 3 S. 12. Nr. 29. S. 279. Nr. 772.
3) Unsere Kenntnis dieses Schriftstellers wird durch eine Hs. des
Britischen Museums erweitert, datiert yon 1543, 1544 (nicht 1443. 1444;
nach einer gütigen Mitteilung von R. Priebsch). R. Prieb s ch 2, 139. Nr. 162.
*) Nd. Jb. 25, 120. Vgl. S. 118.
We des morgens vro vpsteit
Vnde mit honger slapen geit
Vnde eeth syn Brod mitt vngemaecke,
Denne yd got günt, gifit he yd oeme in dem slape.
^) Über mlat. Dichtung und Lyrik Vogt im Grundriß 11^253.
^) Z. B. bei den Hexametern des Florilegium Gottingense. Lehrreich
etwa Nr. 217 mit Voigts Anmerkung.
25*
378
De syk vp gewalt yn detne rade vorleth,
Vnde veler ordel syck vorcneth,
Den mantel na deme winde draget:
De sw he yn den ketel yaget').
Wer sich vff gwalt im ratt verlast,
Vnd feyler vrteil sich nit nnoßt,
Den mantel henckt, wo wynt her blöst:
Der selb die suw inn kessel stosst').
We nicht de rechte kunst studeret,
Vnde na der schrifft syk nicht regeret,
Wat vnnüttes ys he dat gerne leret:
Des syn ys meer wen halff vorkeret^).
Wer nit die rechte kunst studiert,
Vnd würt am narren seil gefiert,
Vnd nach der gschrifft sich nit regiert:
Der selb dem gouch die schellen rürt^).
Wer nit die rechte kunst studiert
Derselb jm wol die schellen rftrt
Vnd wurt am narren seyl gefürt*).
We vp syn fromheyt holt alleyn,
Deme nemant gud ys yn der gemeyn,
Vnde ordelt yederman vnreyn:
De stot syck vaken an den steyn *) !
Schon erheblicher ist die Abweichung in folgendem Falle
Wer öfflich schlecht sin meinung an,
Vnd kan heimlichs nützt behan,
Jo spannt sin garn für yeder man:
Vor dem man sich licht hietten kan^.
') Dat nje schip van Narragonien. Rostock 1519. Bl. IXb. vp] yh (!).
Brant, Narrenschiff Mottoyers zu Kap. 2.
^ Das nüy schiff yon Narragonia. Straßburg 1494. Bl. aVy*
3) Nje schip Bl. La. Reimb. 2763 ff.
*; Das nüy schiff Bl. f I.
») Brant Kap. 27.
^) Nje schip Bl. Lila. Das nüy schiff Bl. f II ▼• Die Übereinstimmung
ist fast eine wörtliche. Brant Kap. 29.
») Das nüy schiff Bl. h I y.
379
De alle sine sake openbar ansleyt,
Spannet sin garn, dar eyn yslick geyt,
Kan nicht vorswigen hemelicbeyt:
Den gesehnt recht, wo yd em oek geyt^).
Meistens hat der Bearbeiter mit sichtlichem Behagen an der
spezifischen Priamelform und unverkennbarer Begabung für den
Improvisations- Vierzeiler seine Sprüche nm- nnd neageschafifen.
Das mögen mit Hinzufügung der hochdeutschen Entsprechungen
Beispiele veranschaulichen.
Wol des nachtes vp der gatzen geyth,
Vnd vp der luten efYle bungen sleyth,
Vnd dar ock sinen flyt to deyt:
De ys de ape van rypenscheyt").
Wer viel lust hat, vrie er hofüer
Nachts vir der gassen vor der thUr,
Den glust, das er wachend erfrUr,
Vnd ouch die narrenkapp vast rtir^).
Wer vil lust hat wie er hofier
Nachts vir der gassen vor der thUr
Den glust, das er wachend erfrür^).
De hyr mit dorheyt vmme geyt,
Vnde ys nicht to deme guden bereyt,
Vorsümet den wech der salicheyt:
Dat wil em ruwen yn ewicheyt*).
Vil dünt in dorheit hie beharren,
Vnd ziehen vast ein schweren karren,
Die wil sie sich nit went bewaren.
Dort wurt der swer wag naher faren*).
Vil dunt jnn dorheyt hye beharren
Vnd ziehen vast eyn schweren karrhen
Dort würt der recht wag naher faren ^).
») Nye schip. Bl. LXIIIb. Brant Kap. 39.
3) Nje schip Bl. XCIIa. Beimbüchloin 2973 ff. Eine vollständige Liste
der Entlehnungen gibt Brandes, Glosse S. L — Lin. Übersetzung aus Petri
bei Wander 5, 1300.
^ Das nüv schiff Bl. V ▼•
«) Brant Kap. 62.
5) Nye schip BL LiXVa. Reimb. 2859ff.
•) Das nuv schiff BL i I v.
^ Brant Kap. 47.
880
Wor de suw de kröne drecht,
Vnde wor de narre syth yn deme recht,
Schendige worde vnde ghebere ringe wecht:
Dar sulaest groffheyt bouen wyßhejrt wecht >)
Wttst scbamper wort anrejrtzung gitt
Vnd stört gar ofit die gutten syt;
Dugent lert sich davon ouch oitt.
So man zu vast die suwglock schytt').
Wüst, schamper wort, anreytzuDg gytt
Vnd st6rt gar offt die guten syt
So man zu vast die suwglock scbtttt^).
Ganz selbständig verfährt der ud. Bearbeiter auch in dem
Vierzeiler: _^ . , ^ ,
De smen syn so hefit gesielt
Vnde wollusticheyt sick vth uorwelt,
Vnd em neen dinck ock beter beuelt:
De ys alrede der hellen togeselt*).
Bemerkenswerter ist folgender Vierzeiler:
De wasschet de teygel wol to degen^),
De syne frouwen wachtet yn allen wegen:
Dat water yn den borne wil dregen,
De hauwsprinken wartet he vor den regen*).
Wo größere Selbständigkeit waltete, ergab sich bisher durch
Vergleich mit den Vorlagen, daß der niederdeutsche ümdichter
mit Bewußtsein die Priamelform in den Spruch erst hineinge-
arbeitet hat: hier zeigt er sich auch mit dem Verfahren der
Improvisation vertraut, das beim heutigen Schnaderhüpfel , wie
oben gezeigt, den Abschluß in die zweite Zeile bringt Brant
hatte ihn schulmässig an den Schluß gesetzt:
Der hAtt der hewschreck an der sunn
Vnd schüttet wasser jn eyn brunn
Wer hüttet das syn frow blib fmm').
>) Nye schip BI. CYa. Reimb. 8003 ff.
^ Das nfiy schiff Bl. o I y.
^ Brant Kap. 72.
^) Nye schip Bl. LXXIXb. Brant Kap. 50. Beimb. 2891 ff.
*) Das Motiv weist Loewer, Fatristische Quellenstudien zu Freidanks
Bescheidenheit S. 25 aus Isidor nach.
«) Nye schip Bl. LVb.
^ Narrenschiff Kap. 82.
381
Ähnlich der Straßbnrger Bearbeiter vom Jahre 1494:
Der biett der hewschreck an der sünn
Vnd schittet wasser in ein brunn
Vnd wescht die zygel vrob vnd vrob:
Wer hieltet das syn frow bltb fiiim'),
Der Narrenspiegel verzichtete ganz auf priamelartige Wirkung :
Der schüttet wasser in ein brunn
wer hütet dz sein fraw bleib frumm.
Es darff sein nit oder hilfft nit,
ein frumme fraw verwart jr schritt').
Es ist das Motiv des B ose np lutschen Priamels ,Ein
schweinshirt, der da hut pei kom^ das bei Burkard Waldis
1, 280, 35 kurz so gestaltet wird:
Wer einen Ziegel weiß wiU waschen,
Das lere Stroh im Tenne dreschen,
Dem Windt das wehen will verbieten,
Vnd einr vnkeoschen Fruwen hAten,
Ein fliessend Wasser wil verstopffen:
Derselb verleußt beid Maltz vnd Hopffen.
Der Wolffenbüttler Aesop nennt es (98, 1 1 7 fif.) ,ein oltsproken
wort*:
de waschet tegelstene
und de sines wives hot,
set, de wert der lüde spot.
In die dritte Zeile geraten ist der Abschluß:
Wor de klocke van ladder ys,
Vnde de knepel eyn voßstert ys.
De klanck nicht veme gehdret ys:
Mit meele alle munde stoppen ys vnwys^.
Eyn glock on klüpfel, gibt nit thon
Ob dar jnn hangt eyn fuchszschwantz schon
Dar vmb losz red für oren gon^).
Der Zusatz des niederdeutschen Vierzeilers fügt sich aber
dem Oanzen nicht; er ist mißraten.
») Das nfiv schiff Bl. f V.
^ Karren Spiegel M Uli.
^ Nye schip Bl. LXVIb.
«) Brant Kap. 41.
382
Ein glock on klyppfel gibt nit thoiii
Ob dar in hangt ein fuchschwantz schon.
Man muß das mel in secken Ion.
Dar vmb laß red für oren gon^).
Der einem ydern de wulle kan understrouwen,
Vnd den weldigenn de negel klouwen,
Vnd kan spreken, dat ein yder höret gerne:
De rooth smeichlen und legen na und verne'}.
Die Straßburger BearbeitQDg von 1494 weicht völlig ab» und
das Original verrät hier wieder keine Spur von vierzeiliger
Priamelform.
De alle tyt sodane narheyt dryfit,
Vnde wil nicht löuen der hilgen schriflft,
Gude lere vorachtet vnde dar by blyfft:
Hyr mede he sick van gode ghyfft^).
Wer yedem narren glouben will
So man doch h6rt der geschrifft so vil
Der schickt sich wol jns narren spiM).
Wer yedem narren glouben will,
So man doch hat der gschrifft so vil,
Durch aber gloub louflft hundert mil,
Der schickt sich wol inns narren spyl^).
Dede vogel vnde hunde yn de kerken voret.
Dar mennich gud mynsche den denst godes h6ret,
Predekye, misse vnde lesent vorstöret:
Manckt de grötesten narren de sulfste höret^).
Wer vogel, hund, jnn kyrcben fiurt
Vnd ander lUt, am betten jrrt
Der selb, den gouch wol stricht vnd schmyert^).
Wer vogel hund in kirchen fiert
Vnd ander lUt am betten irrt,
Der selb den güch wol stricht vnd schmyrt,
Biß er den naren die schellen riert^).
1) Das nÜY schiff Bl. h III.
^ Brandes, Glosse S. 149 (4299). 282. Reimb. 825 ff. Brandes S. 267.
8) Nye schip Bl. XXVUIa.
«) Brant Kap. 11.
») Das nÜY schiff Bl. C UI.
^) Nje schip Bl. LXXa.
7) Brant Kap. 44.
») Das nÜT schiff Bl. h Y v.
383
Den yn dat fuer sin moetwille brinckt,
Edder nicht sinen narhafTiigen sin bedwinckt,
Vnde he mit willen yn den bornen sprinckt:
Deme schüt yo recht, eflft he vordrinckt^).
Wän jn das fUr syn müttwill bringt
Oder sunst selbs jnn brunnen springt
Dem gschicht recht ob er schon erdrinckt'}.
Wenn inn dz für sin mUtwill bringt,
Oder der narr im also winckt,
Das er on not inn brunnen springt,
Dem gschicht recht, ob er schon ertrinckt^).
Wan de olderen yn vntucht leuen,
Vnd vp ere kindere nicht merken euen,
Wen se ene quade exempel geuen:
De kindere sick denne yegen d6gede streuen^).
Do werdent kynd den eitern glich
Wo man vor jnn nit schämet sich
Vnd krug vor jnn, vnd häfen bricht*).
Weme de sackpype fraude kortwyle gifft
Luten vnde harpen, vnde lere der schrifft
Vorachtet he, vnde van syck driffi:
De sulue eyn narre wol stedes blyflft.*)
Wem sackpfiffen frettd, kurtzwil gytt
Vnd acht der harpff vnd luten nytt,
Der gh6rt wol vfF den narren schlytt ^).
Die Straßburger Bearbeitung fugt hierzu nur den Vers:
Vnd zschiff oder wagen ouch far mit^).
De alle de werk wyl vmme meten,
Vnde wyl alle lande vnde stede wetten,
Vnde doch sick suluen doet vorgetten:
De ghyfFt vaken eyneme narren ethen').
1) Nye ßcbip Bl. LXXIb.
>) Brant Kap. 45.
3) Das nfiv schiff Bl. h VI y.
*) Nye schip Bl. L XXVHIb.
5) Brant Kap. 49. Das nüv schiff Bl. i V und k II weicht völlig ab.
«) Nye schip Bl. LXXXIIIb.
') Brant Kap. 54.
») Das nüv schiff Bl. k IUI v.
») Nye schip Bl. XCVH a.
884
Wer vBz misszt hymel, erd, vnd mer
Vnd dar jnn sucht lust, freüd, ynd 1er
Der lug, das er dem narren wer^).
Die Priamelform bot hier allerdings schon der Straßburger
Bearbeiter, nicht aber die pointierte ethische Natzan Wendung:
Wer vßloft all land nach vnd ver»
Ouch uß mist hymel, erd vnd mer
Vnd darinn sucht lust, freüd vnd 1er:
Der lüg, das er dem narren wer*).
De al sinen trost seth vp dat ghelt,
Vnde yo dat vor dat beste helt,
Neen dinck ock dar bouen stelt:
An deme wert narheyt groff vormelt').
Die narren freüwt nttt jnn der weit
Es sy dann, das es schmeck noch gelt
Sie gh6ren aach jnns narren feilt ^).
Die Straßburger Bearbeitung schiebt hinter dem 2. Vers ein:
Sie sigen for oder nach gemelt^).
De lange yn sinen sunden steyt.
Denket nicht vp godes rechticheyt,
Fruchtet nicht god, wat he oeck deyt:
Eyn snel vntydich doet sodane gern sleyt^^).
Wer meynt gott well jnn stroffen nyt
Dar vmb, das er beyt lange xyt
Den schlecht der tunder dyck noch htit^)
Das selbig sint wol dorecht lUt
fägt der straßburger Interpolator hinzu ^).
Gelegentlich findet sich ein Vierzeiler aus dem Inneren eines
Kapitels; z. B.
>) Brant Kap. 66.
9) Das nÜY schiff El. m IIL
«) Nye schip Bl. CXXIIIa.
^) Brant Kap. 83.
^) Das nÜY schiff Bl. p UI v.
•) Nye schip Bl. CXXVIIIa.
7) Brant Kap. 86.
«) Das nÜT schiff Bl. q I.
385
Boler werck vnd narren raet,
Eyne stat de vp eynem berge staet,
Vnde stro dat yn deme schoe licht;
Desse veer kan men behüden nicht').
Auch der Typus B erscheint in fast freier Improvisation:
Eyn spelre hinket an siner hufil,
Eyn spelre mannighe tyd versufft,
Eyn spelre wert vaken vorblufft,
Eyn spelre hefft gantz kleyne vornufft*).
Vil hant zu spyl so grossen glust
Dz sie keiner kurtzwil achten sust,
Vnd merckent nit kUnfftig verlust
Des haben sy in hüsern gbrust^).
Bei Brant fehlt nur der letzte Vers^).
„Brant hatte es zuerst verstanden, dem grotesken Humor
des Bürgerstandes, der so wild emporgewuchert in den Fastnachts-
spielen, die gravitätische, ehrfurchtgebietende Bolle eines weisen
Zuchtmeisters zuzugesellen: so ist er für alle Dichter des 16. Jahr-
hunderts der von ihnen allen geehrte Altmeister geblieben^,
meinte Zarncke^); der niederdeutsche Bearbeiter hat das Schul-
mäßig-gelehrte wieder etwas zurückgedrängt und den Humor nicht
verkümmern lassen, ohne der Lehrhaftigkeit Abbruch zu tun.
So nimmt diese mittelniederdeutsche Poesie noch vielfach diejenige
Stufe ein, welche durch Brant und Hans Sachs in Ober- und
Mitteldeutschland überwunden war.
Selbständige Ausbildung erfährt der Vierzeiler durch Hermen
Bote. Die Vierzeiler, die er seinem Eoker einflicht, sind durch
die Beimbrechung um ihre Abrundung gekommen; z. B.
We de eyne beeren nympt to echte,
und tovoren dar wyl grote van sprecken,
und dama umme hauen un steken:
Dene mach me vor eynen schalck reken^).
1) Nye schip Blatt LXV b. Narrenschiff 39, 22. Das nüv schiff Bl. h II.
Nd. Korrespondenzblatt 4, 84. Oben S. 355.
3) Nye schip Bl. CXVa. 8) Das nüv schiff Bl. oVy.
*) Brant Kap. 77. *) Narrenschiff S. CXTU; «) Koker S. 348.
Enllng, Priamtl 25
386
Ein Leberreim hat einen schwachen Vierzeiler des Typus G
erhalten:
Wol eine Hoere nimpt tho Echt:
De kUmpt int Hanreyer geschlecht,
Moth doch syn dag ein Hanrey blyun,
Hef!t ein bösz Kleinod an sym Lyff^).
Frünt in der not,
frünt in den doet,
un eyn frünt achter rügge:
dat syn dre veste brügge,
worden ok alle syne vyende flUgge').
Einen Fünfzeiler enthält auch das Badbach:
Geistliken stadt, geistlik wark,
Unde dat so geholden strenge und stark,
Geistlike cledere unde geistliken raet,
Unde begaen gude werke unde gude datt:
Ein iewelk geistlik persone dit vorsta').
Daß man bei Bote auch von verkürzten Priameln reden könnte,
lehren Stellen wie:
Veithasen un hunde,
Luststede un stunde
Maket mennygen weydeman^),
wenn man diesen Spruch mit dem oben S. 367 besprochenen
vergleicht.
Niederdeutsche Derbheit spricht aus dem Vierzeiler:
Wen de Prester syne böker vorsmadet,
un de schöne maget ören krantz,
un de fauwe synen langen swantz:
dar is gescheiten in den dantz'^).
Von den Vierzeilern des Badbuches scheint einer individuell
in seiner Ausführung:
») Nd. Jb. 10, 74. Nr. 59.
3) Ecker S. 344. ^In Hackmanns Text sind Zeile 1 und 2 zusammen-
gedruckt. Richtig Nd. Reimbüchlein 100 ff. Mone 2, 228. Wander 1,
1182, 230. Den mnl. Spruch s. oben S. 362.
S) Radbuch 2, 115. Vgl. 1, 83. 2, 57. 8, 79.
«) Eoker S. 374. Ähnlich etwa S. 316: „Un blanke spete'', S. 330:
„Eyn yunck wert".
») Koker S. 377.
887
Wann ein wiff schal raden unde regheren,
Unde over rade unde richte remurmereren,
Unde de wumpel is baven dem sweerde:
Dar hefft dat eyn selzeen gheveerde *).
Der zweite behandelt ein beliebtes Zählmotiv.
Dar eyn here unde syn rad
Twe schelke by sik had,
Wil de here alze de twe:
So wert der schelke wol dre^).
Auch Jakob Scraez^), Botes Nachahmer, bringt einen
Priamel Vierzeiler an:
Wede olde schoe läppet vnde vlicket,
Jo men jn ein braken rad mer kile sticket,
Jo men oelde huse mer roeget:
Jo se mer kneteren vnde kroeget^).
Während die gelehrte mittellateinische Dichtung, wie wir
sahen (Kap. IV, 5), eigene Wege ging, läuft lateinische Über-
lieferung, die sich gegen die Volksdichtung der Landessprache
im wesentlichen nur aufnehmend verhält, auch der immer üppiger
sich entwickelnden Vierzeilerpoesie ununterbrochen parallel ^). Für
alle Priamelformen des Vierzeilers hat unsere Typensammlung
znittellateinische Belege geboten, Zauberspruch und Oruß waren
darunter vertreten, andere Sprüche, aus dem Deutschen übersetzt, sind
mehrfach schon mit berücksichtigt, bei hexametrischen Zeilen ist
inbetreff einer etwaigen Vorlage keine Sicherheit zu gewinnen^).
1) Radbuch 7, 56.
3) Radbuch 9, 69. Nd. Jb. 2, 31. Göttinger Beitrage 2, 79. Nr. 66.
Prov. 17,21. von Hörmann, Schnaderhüpfeln3 S. 12. Nr.29. S. 279. Nr. 772.
^) Unsere Kenntnis dieses Schriftstellers wird durch eine Hs. des
Britischen Museums erweitert, datiert von 1543, 1544 (nicht 1443. 1444;
nach einer gütigen Mitteilung yon R. Priebsch). R. Prieb seh 2, 139. Nr. 162.
*) Nd. Jb. 25, 120. Vgl. S. 118.
We des morgens vro vpsteit
Vnde mit honger slapen geit
Vnde eeth syn Brod mitt vngemaecke,
Denne yd got günt, gifft he yd oeme in dem slape.
*) Über mlat. Dichtung und Lyrik Vogt im Grundriß 11^ 253.
^) Z. B. bei den Hexametern des Florilegium Gottingense. Lehrreich
etwa Nr. 217 mit Voigts Anmerkung.
25 ♦
388
So spiegelt sich der deutsche Priamelvierzeiler vielfach in latei-
nischer Überlieferung; meist sind es wohl Schulübungen am corpus
vile. Schon im 14. Jahrhundert sind solche Übersetzungen vor-
handen.
Keine genaue deutsche Entsprechung findet der Spruch der
Wiltener Hs. aus dem 14. Jahrhundert:
Cursus asellorum celer atque fides monachorum,
lex baptismalis meretricis et monialis
desistunt esse tunc, quando sit necesse^).
Si canis applaudat, meretrix hilarem tibi vultum
praebeat, inclinat monachus, si femina plorat,
amplexus iteret tibi miles: ne movearis^)
scheint die wortreiche erweiternde Umschreibung eines Spruches,
wie ihn aus späterer Zeit Ziugerle S. 75^) anführt. Den be-
kannten Spf uch von den drei Üingen, die den Mann aus dem
Hause treiben, umschreiben die wenig priamelmäßigen Hexameter :
A funio, stiUante domo, nequam muliere
te remove, tria namque solent haec saepe nocere^).
Eine Steigerung, wie sie in den Seligpreisungen und deren
ümkehrung geübt wird, enthält:
Carorum tristis discessus, tristior istis
corporis et animae, tristissimus a deitate^).
Inueterata peti non simea debet in aedes:
Ursus siluestris, presbyter et iuuenis
lautete des jungen Peter Schott Übersetzung des gegen Affen,
Pfaffen und Bären gerichteten Vierzeilers^).
1) Wiener Sitzungsberichte 54, 307. Vgl. 310.
2) Mones Anzeiger 4, 363. Nr. 19. Die meisten der von Mone hier
benutzten Handschriften gehören dem westlichen Grenzgebiet Deutschlands
an ; es wäre also auch die Möglichkeit französischer Vorbilder nicht zu leugnen.
3) Viel Internationales bieten die Sprichwörterlexika.
*) Mones Anz. 4, 364. Nr. 27. MSD'XXVII 232. 2, 150 f. Köhler,
Kleinere Schriften 2, 127.
5) Mones Anz. 4, 364. Nr. 30.
6) Alemannia 5, 267. Uhl S. 327. Mehr bei Wein kau ff in der Ale-
mannia S. 265 ff. ; in Stammbüchern und Handschriften des 16. bis 18. Jhs.
Kurz, Deutsche Bibliothek 3, 86,4. Anm.
389
Schulmäßigen Charakters ist auch der aus Braut übersetzte,
in pompösen Asklepiadeen einherschreitende NTierzeiler, mit dem
Jodocus Badius Ascensius das Narrenschiff eröffnet:
Qui libros tyriis vestit honoribus,
Et blattas abigit puluerulentulas,
Nee discens animum litterulis colit:
Mercatur nimia stultitiam stipe *).
Bald finden lateinische Übersetzungen, wie die Agricola-Über-
tragung Qlandorps, ihren Leserkreis.
Unabhängig von einander sind die Fassung des Priamels von
Dingen, die dem Auge schaden (Qöttinger Beiträge 2,61. Nr. 61)
und der Vers:
Ista nocent oculis: faba, laus, piper, allia, cepe,
Vina, Venus, fumus, nocturna repletio ventris,
Puluis, scriptura, flatus, uigilatio, cura^).
Die Anregung, die von dem Inhalt mittellateinischer Lite-
ratur ausging, war überaus reich und nachhaltig; selbst für
Schnaderhüpfel Stielers und Kobells, den Spruch des so-
genannten Magister Martinus von Biberach und den Straß-
burger Interpolator des Narrenschiffs hat diese lateinische Lite-
ratur den Stoff geliefert. Wie auch die reichere Priamelform
mittellateinisch ausgebildet ist, wird sich später zeigen.
Die hohe Kultur der deutschen Städte des ausgehenden
Mittelalters, deren bunt bewegtes Leben und leidenschaftliche
Kämpfe, deren Qebäude und Kunstdenkmäler epigrammatische
.Improvisationen überall in Fülle hervorlockten, hat auch in dem
kleinen poetischen Gebilde, dessen Schicksale wir verfolgen, reich-
liche Spuren hinterlassen. Allerdings, der Vierzeiler mußte sich
anbequemen und machte die Wandlungen mit, denen die Volks-
dichtung in den Städten unterworfen war: er wurde geistreicher
und salziger. Es sind nicht nur erfreuliche und förderliche üm-
0 Zarncke S. 218.
2) Clm. 4408, 145 a. Catalog III 2, 161. Andere Fassungen im Flori-
leginm Gottingense Nr. 303 (Voigt in den Romanischen Forschungen 3, 309)
und im Regimen Sanitatis Salemitanum (D nutzer S. 24) 235 ff. Opschrif-
ten 1, 38.
390
formungeD, die er erfuhr. Wir beobachten dasselbe, wenn das
Volkslied zum Gassenhauer wird. Dieser treibt ja ,,in der Peri-
pherie der Vorstädte, wo Stadt und Land an einander grenzen,
am liebsten sein Wesen. Gelehrig nimmt er da die Untugenden
beider an. Witz und Schlagfertigkeit ist ihm von Haus eigen,
aber die bunten städtischen Eindrücke machen ihn bald die freie
Natur vergessen. Es reizt ihn, an den politischen Händeln und
socialen Beibnngen teilzunehmen, und seine Abenteuer sind viel
mannigfaltiger und bedenklicher als Fensterin, Tanz und das
bischen Hanggeln und Hobeln. Wo das Schnaderhüpfel natürlich
und derb ist, wird der Gassenhauer gern leckerhaft, anzüglich
und unflätig. Aber er erlebt mehr und weiß zu erzählen ....
Seine Geltung ist zwar von kurzer Dauer und sein Geschmack
wechselt; denn der reschere und keckere schlägt den zahmen^).''
In der Beurteilung solcher Einflüsse herrscht heute der elegische
Grundton eines sentimentalen Pessimismus vor^), von den gewiß
edelsten Gefühlen und Stimmungen getragen; aber wenn man
gar von dem Pesthauch der Civilisation redet, wie der Verfasser
einer Studie über die litauischen Dainos^), so schießt das weit
übers Ziel. Ohne diesen „Pesthauch^ der Civilisation verspürt
zu haben, hätte Donalitius den Schritt von primitiver litauischer
Volksdichtung zum Literaturpoeten nicht machen können, und der
Wiener Gassenhauer hat Haydn, Mozart und Beethoven zu
den köstlichsten musikalischen Genrebildern inspiriert. Auch
diese Einflüsse städtischer Kultur dienen der Entwicklung der
Volksdichtung, so unangenehme Begleiterscheinungen sie zeitigen
mögen. Wozu soll man beklagen, daß der Quell zum Bache, der
Bach zum Flusse, der Fluß zum Strome wird?
Die Anlässe zur Ausbildung der vierzeiligen Priamelimpro-
visation waren so unerschöpflich mannigfaltig, wie das mittel-
^) Grasberger, Naturgeschichte des Schnaderhnpfels S. 14. B. yon
Math in dem Sammelwerk Die österreichisch - ungarische Monarchie in
Wort und Bild, 2/^ Abteilung, Niederösterreich (Wien 1886), S. 251, und
Pogatschnigg in demselben Werke: Abteilung Kärnten und Erain (Wien
1891) S. 149.
^Bruinier, Das Deutsche Volkslied S. 21 ff. Borinski, Deutsche
Poetik S. 20.
^ L. Nast, Die Volkslieder der Litauer. Gymnasialprogramm von
Tüsit 1893 S. 39.
891
alterliche städtische Leben überhaupt. Wahrscheinlich wurden
solche Versehen noch vielfach gesungen. Zu Fastnacht war es
Handwerksleuten, Handwerksknechten und Dienstknechten nach
einer Nürnberger Polizeiverordnung des 14. Jahrhunderts erlaubt,
durch die Stadt zu „rayen'^ und mit Pfeifern zu gehen, und zwar
j,an herren vasnacht, am gailn montag vnd an der rechten vas-
nacht*)." In einer Saalfelder Verordnung^) wird eingeschärft,
nur „suberliche und hubische lit" beim Reihen vorzusingen, mit
Strafandrohung im Übertretungsfall für den Vorsänger und für
Nachsingen.
In den erhaltenen Niederschriften der Fastnachtsspiele
ist die Form des Vierzeilers nicht selten. Das 28. Stück der
Kell er sehen Sammlung besteht, die Bede des Precursors und
die des Ausschreiers ausgenommen, nur aus vierzeiligen Sprüchen;
jeder der 1 5 Bauern bringt in einem Vierzeiler seine Unanständig-
keiten vor. Priamelhafte Vierzeiler begegnen seltener. Bösen-
plüt selbst bringt im Fastnachtsspiel von den Zwei Eheleuten
(163, 15) den Vierzeiler an, aus dem er eins seiner bekanntesten
14 zeiligen Priamel herausentwickelt hat. Die Ehefrau gibt da
dem fortgehenden Manne die Worte mit auf den Weg:
Dann einer, der ein frumes weip hat,
und der wil hüeten früe und spat,
furcht sie got nicht und irs mannes zorn:
so ist all hut an ir verlorn.
Fast wörtlich übereinstimmend schließt das Priamel vom
Schweinshirten, der in der Nähe eines Getreidefeldes hütet. Das
Motiv ist volksmäßig; noch im Schnaderhüpfel ist es unverkennbar.
Am Fenster an Vogel,
A Katz vor an Glas,
Und a Madel recht hiiatn:
Dös is weiter koa Spaß.')
0 Siebenkees, Materialien zur Nürnberger Geschichte 2, 276 ; Böhme,
Geschichte des Tanzes 1, 113.
*) bei Wackernagel, Geschichte der deutschen Literatur P 332, 9.
^ Greinz und Kapferer 1,23. von Hormann, Schnaderhüpfeln '
8.225. Nr. 630. Oben S. 381 Hulthemsche Hs. Belg. Mus. 1, 109: ,Twe
dinghen s^n' etc. » Altd. Blätter 1,276: ^Deux choses sont' etc.
392
In demselben Spiel kontrastiert Bosenplüt Ehemann und
Ehefran in ähnlich gebauten, syntaktisch sehr locker zusammen-
gefugten Yersgebilden; das zweite ist zum Funfzeiler ausgewachsen.
Ein eeman, der sein futer außtregt
und das für fremd pUbin darlegt,
der bringt seinem weib heim die spreuen:
so muß sie die vraßen keuen.
Ein eefrau, die da ist unstet,
und ein andern man zu ir let,
dem selben erpeut sie es dreu mal paß,
und tut im auf ein lauters faß:
und geit irm man ein trübe neig^).
In dem Bosenplütschen Dreizeiler:
Einer, der über Rein ist gefaren,
den Übel durst und wasser wU sparen,
ist der nicht ein rechter gauch?^)
steckt dasselbe Priamelmotiv wie in dem Schnaderhüpfel:
Wer an Apfel schält und er ißt ihn nit,
Wer a Dirndle Habt und er küßt se nit,
Wer ins Wirtshaus geht und trinkt kan Wein:
Muaß a rechter Batzenlippel sein^.
Am derbsten erscheint das Motiv in einem Beispiel der
Kryptadia ^j, am feinsten in einer modernen Inschrift am Batzen-
häusl in Bozen verarbeitet^).
Deutlich hat der Verfasser des 27. Fastnachtsspiels ^) das Motiv
entwickelt:
Aber der über Rein ist gefaren,
den durst und wil das wasser spam
und hungerig in eim Obstgarten seß
imd vor faulheit kein apfel eß,
und donach hunger und durst wolt clagen:
wer wolt im das in gut dar schlagen?
Gegen Bosenplüt als Verfasser spricht hier auch der Um-
stand, daß Bosenplüt volksmäBige Motive fast immer umzubilden,
nie sie unverarbeitet anzubringen scheint.
») 167, 15 ff: QF 77, 154. 192.
«) 322, 8. Sterzinger Spiele 2, 71 ff. 3) Grasberger S. 65.
*) 4, 100. Nr 103. ») v. Padb erg S. 61. «) Michels S. 1981
393
Öfter schwankt der Priamelvierzeiler des Fastnachtsspiels in
den Fünfzeiler über:
Dann wer do drischet vor dem schnit,
und ee wil pachen, dan er knit,
und ee wil heizen, dan er feurt:
ob der sein mtte ein teil verleurt,
des schaden niemant klagen sol *).
Auch hier spricht ein Freidankcitat gegen Rosenplüt. Mit
einem derben Fünfzeiler als Schlager schließt Bosenplüts Spiel
,Wie die fraaen ein kleinot aufwurfenS das von den Priamel-
Sprechern ganz gründlich aasgeplündert ist.
Dann wer der seit kein recht tut,
und sich vil pöser ding fleißet
und mitten an den weg scheißet
und zu lest sehen weip und man:
der kumpt ungescholten nit darvon^).
In der Revue vom Heiraten (702, 20 ff.)) das trotz seiner Ver-
derbnisse auf Bosenplüt zurückweist^), endet der sechste:
Do gedacht ich: Wenn du ein solchs test,
so du als lang gefast hest,
und erst an einer mucken anpeißen:
so wolt der teufel dich wol pescheißen.
Ein wahrscheinlich Bosenplüt scher Witz, den dann die
Priamelsprecher so ausbauten:
Ein frumme frau an eren stet,
und die gar lang gevastet het,
und erst an einer mucken wölt anpeißen:
die wölt der teufel wol bescheißen^}.
Ein Gegenstück liefert das in denselben Handschriften
(8 177*. E406^) überlieferte Verschen:
Ein frumme frau mit frolichem mut,
und die ir er hat wol behut,
und die got lieb hat und iren man:
die tregt wol auf der em ein krön.
0 130, 26 ff. 130, 10 f. Freid. 100, 20 f. Boethe zu Reinmar 272, 1.
«) 137, 4 ff. 319, 25 ff. ») Michels S. 205 f.
*) B 177b. E 406*.
394
In eiiMT Bede des Ausschreiers im Bosenplütsdieii 92. Spiel:
9 Die Maköcken pnS yasnacht^ kommt der Yierzefler Tor:
Pumnica, pfeifcD, sagen und sukgen,
Ksscn md trinken^ tanscn imd spfiiigcn
mit sclidneo, bfibschen fraocn do:
die yiat man heint all liaaen im Pokslo.
(727, ISfEl)
Ahnlich im 95. Spiel:
Hfibsclilich sagen and fröfich sii^en,
imd mit den jnnkfirancn tsmxcn md spnngen,
des wil ich mich aDs in der jogent nieten:
das aher wiit mir wol feirabend pieten.
(787, 13 ff.)
Ein mittelniederdentscher Sprach sagt ?on der Weltlast:
Dantxen, singen and springen,
Ock mit schönen Frowen ringen;
Weer dat der Carth&ser Oiden,
So weer ick Ycyriangst ein Monck worden^).
Wie bei Bosenplüt schließt der Verfasser des Fastnachts-
spiels Tom König aas Schnokenlant') (651, 4 ff.) eine Bede mit
Priamelvierzeüer:
Wer also prangieren und ho&rt kan,
nnd lest sein frauen am hunger gan,
and der sein selbs eer also swecht:
das ist recht, ob man den im tomier schlecht
Aach die Verse (Nr. 58. 517, 23 ff.)
Ein anner sol sich einer armen remen.
Ein reicher sol ein reiche nemen,
Flint nnd plint, lam und lam:
Ein ide gattung gehert zusam
stellen einen Vierzeiler dar, eine Variation des Motivs von Zu-
sammengehörigem ').
Aas dem 90. Fastnachtsspiel lassen sich als Vierzeiler heraus-
lösen :
>) Werldt8pr6ke Nr. 17. >) Michels S 211 f.
^ Gnndlaeh Nr. 753. ron Hdrmann, SdmaderhnpfehiS S. 45.
395
Alls pfeifen, harpfen und lauten schlagen
und enge schühlein an tragen
und meinen puln nimer liep zu haben:
dasselb wil ich nu alles begraben^),
wobei deutlich ein Priamel Bosenplüts durchklingt ^.
Tanzen, stechen und spaziern,
und des nachts auf der gassen hofiern,
und was man von der hubscheit sagt:
dasselb mir alles mishagt^).
Aber es darf nicht verschwiegen werden, daß in beiden Fällen
noch zweizeilige Zusätze erfolgt sind.
Hans Folz^), von Geburt kein ,6roßstädterS wie Bosen-
plüt, stand direkter volkstümlicher Überlieferung noch näher.
So gebraucht er auch den Vierzeiler.
Im Fastnachtsspiel vom König Salomon und Markolf (538, 18ff.)
singt ein Bauer das Lied von Markolf, das mit einem nicht
priamelhaften Vierzeiler beginnt, mit einem Priamel vierzeiliger
Form schließt:
Wo sich der rab dem adler gleicht,
Der fuchs dem leben nit entweicht,
Und das die eul des greifen remt:
Also wirt hoffart auf das letzt beschemt.
Die Stelle ist wichtig für die Verwandtschaft des Priamels
mit der lyrischen Strophe. Die scenarische Anweisung lautet:
„Ein bauer greint den reimen, der ander paur und lacht den
reimen, der dritt paur singt das lied von Markolfo, der vierd
paur flucht den reimen.^ Ein wirkliches Lied sind auch die
Verse des dritten Bauern absichtlich nicht; man hat doch wohl
daran zu denken, daß der Schauspieler rohen Bauemsingsang
nachäfft. Abschnitte sind nach Vers 538, 22 und 32 erkennbar.
Während Bosenplüt im Fastnachtsspiel den Vierzeiler hand-
habt, verschmäht er ihn absichtlich in seinen selbständigen Priameln.
Er ist zu leichte Ware für den Dichter, der die Gattung als
1) 719, 22. 3) Göttinger Beiträge 2, 58. Nr. XXIV. ») 720, 16.
*) Hampe in den Mitteilungen des Vereins for Geschichte der Stadt
Nürnberg 12, 102 ff. Boos, Geschichte der Bheinischen Stftdtekultur in^
834 ff.
396
solche in die literarische Spliäre erheben will. Aber Gelungenes
derart blieb doch beliebt, ein wirklicher Schlager pflanzte sich
lange fort.
In dem Sprnchbüchlein, dessen Inhalt ansdrücklich als
Priamelred bezeichnet wird, fehlt neben zahlreicheren Beispielen
des entwickelteren Priamels auch der Vierzeiler nicht. Die Über-
lieferung dieser Handschrift ist fQr den Priamelcharakter unsers
kleinen Gebildes ebenso wichtig als entscheidend, nicht minder
fftr den Zusammenhang mit dem Nürnberger Fastnachtsspiel. Ihm
entstammt gleich der erste hier (Blatt 4^) erhaltene Vierzeiler.
Mein lieb liebet mir fUr Schnecken,
für linsen essen und salz schlecken,
für essig, gift und für gallen:
wie roocht es mir dann pas gefallen?
Das scherzhafte Motiv ist altvolksmäßig, die groteske Parodie
der ernsten Liebesbeteuerung und des Preises der Geliebten im
epigrammatischen Vierzeiler. Im Liebesbrief des 13. Jahrhunderts
erklärt schon der Liebende, daß ihm die Geliebte über die ganze
Welt gehe^); ein späterer Liebesbriefsteller ^) versichert: Du bist
mir lieber denn alle die Welt! Auch die edelste und innigste
Fassung dieses Motivs ist alt-traditionell. Wenn das Frankfurter
Liederbuch ») sagt: gchönes. lieb, halt fce.
wie der baam seine estel
so haben wir einen um Jahrhunderte älteren Beleg für den Kern
des herrlichen Vierzeilers:
Und i liab di so fast,
wia der Bam seine Äst,
wia der Himmel die Stern,
krat so han i di gem*)I
Ausdrucksvolle Variationen umspielen das Thema. Bei Bud-
weis wird gesungen:
1) Meyer S. 57.
^) Bartsch, Die Handschriften der Bibliothek zu Heidelberg I. S. 198.
Nr. 401.
^ Uhland, Schriften 4,85. Jetzt Kopp, Zeitschrift far Yolksknnde
12, 45 ff.
') Grasbergej, Naturgeschichte des Schnaderhnpfels S. 37. Werle,
Almrausch S. 274. Pogatschnigg und Herrmann 1', 65. Nr. 310.
397
Ih hob dir in d' Äuglein gschaut,
D' Äuglein worn trUab;
Und i hob dirs not zsogn traut,
Daß ih di liab.
Oba ih liab di so fest,
Wia da Bam seine Äst;
Wia da Äpfl seine Kern,
Grod so hob ih di gcrn^).
In Schwaben heißt es:
Mein Schatz halt i fest
Wie der Baum seine Äst,
Wie der Äpfel seine Kern,
Drum hab i' n so gern^).
Das Motiv vom Apfel und Kern hat Franz von Eobell
aufgegriffen :
Und's Diendl hat gsagt.
Und sie hätt mi so gern,
Als wie vo die Kerschn
Und Zweschbn die Kern.
Die Sakera-Diendln,
So Sans allisamm
Und erst recht foppens oan,
Bals oan obandlt hamm^).
In solchen Vergleichen ist nun die volkstümlichü Fantasie
schier unerschöpflich.
Wahr is, scheani Sterndia
Geits oni End!
Aba Du bist roa liaba
Wias ganz Firmament"^).
Becht prosaisch, aber gut gemeint ist der philisterhafte
nassauische Vers:
Von drüben komm ich rUber,
Wos wunderschön ist,
Und mein Schatz ist mir lieber,
Als Geld auf dem Tisch ^).
1) Uruschka und Toischer S. 160. Dazu S. 278. Nr. 42. 43a.
3) Meier, Schwäbische Volkslieder S. 19. Nr. 93.
^) Fr. von Kobell, Gedichte in oberbayerischer Mundart. München
1862. S. 326 Nr. 14. 15.
*) Werle, Almrausch S. 183.
, 5) Wolfram S. 282 ff. Nr. 28.
398
Stelzhammer spinnt das Thema zu einem Duett: ,Dö
närrisch Liab'^) aus:
Er:
I han di liaber als Hans und Hof,
Und als mein Bött, in den i schlof;
I han di liaber als Roß und Wagn,
So liab, i kann das go not sagnl
Sie:
Ih han die liaber wos d' Goas und Kuoh,
Und geb sah Mihlö nuh so gnua;
I han di liaber, wos Schmale und Rahm,
So liab, o mein, du glaubst as kam.
Er:
I han di liaber als d' Kugelstad,
Wanns glei siebn nöi Kögel had;
I han di liaber als Bier und Most,
Wann d' Halbe ah an Batzen kostt.
Sie:
I han di liaba wos d' Haohsatstubn,
Und gehts ah nuh so lustig um;
I han di liaba, wos Zuger und Möth,
Du magst mas glaubn iast oda nötl
Er:
I han di liaba als d' Kreuzkapelln,
Ols 's Fegfoi zsammt dö arma Seein;
I han die gern, wiar i d' Muada han
Und — schier nuh liaber ann und dann.
Sie:
I han di gern wia man Raosenkranz —
Na, Michl, nal na dert nöt ganz;
Du bist ma liaba als Gothen und Göth,
Nur sagen mußt as neamden nötl
Schon hier bemerkt man die Wendung zum Humor, der in
mitteldeutscher Improvisation bald die Lyrik ganz überwuchert.
Im Vogtland versichert der Bursch:
Mei Schatz is mr lieber
als Rosemarie,
um tausend Ducaten
gib ich ne net hi.
1) S. 79. Nr. 83. Ein Ähnlicher Wettstreit im Fastnachtsspiel 133, fiO,
899
Tausend Ducaten
dös is a schönns Geld,
mei Schatz is mr lieber,
als wie de halbe Welt.
oder:
als Geld afn Tisch ^}.
Oleich setzt die lustige Parodie mit Litotes ein:
Ball ruber, ball nüber,
ball af dr Chaussee,
mei Schatz is mir lieber
wie a Schälla Kaffee^.
O du schöne Sonneblume,
du hast mir mei Herz genumme,
du liegst mir in meiner Haut,
wie de Worscht in Sauerkraut 3).
Auf diesem Gebiet treibt parodierender Humor die üppigsten
Bläten, z. B. in Nassau:
Ei du schöne Sonnenblume,
Du hast mir mein Herz genomme,
Du liegst mir in meinem Sinn,
Wie der Kern im Kümmerling.
O du liebe Klapperschlange,
Du hast mir mein Herz umfange,
Du liegst mir in meiner Haut,
Wie die Wurst im Sauerkraut.
O meine liebe Zuckersüße,
Du thust mir mein Herz ausgieße.
Drum ist es ganz durchaus naß '
Wie ein altes Regenfoß.
Ei du schöne Nachtviole,
Du hast mir mein Herz gestohle,
Maid, mein Herz brennt lichterloh,
Wie ein Büschel Erbsenstroh ^).
0 Danger, Bundas Nr. 37 ff.
>) Nr. 237.
») Nr. 230. = Meier, Schwäbische Volkslieder S. 20. Nr. 104. Gund-
lach Nr. 800. Werle, Almrausch S. 274. Pogatschnigg und Herrmann
1», 74. Nr. 355. S. 343. Nr. 1623.
«) Wolfram S. 175. Nr. 176. Yergl. die Nachweise ebenda.
412
An solche Überlieferung erinnert die Haasinschrift am
Thuner See:
Ich komme, ich weiß nicht von wo,
Ich bin, ich weiß nicht was.
Ich fahre, ich weiß nicht wohin:
Mich wundert, daß ich so fröhlich bin^)?
Bührend nnd ergreifend redet auch einmal der gute Hugo
von Trimberg:
wir mliezen sterben und wizzen doch niht,
wie, wa oder wenne daz geschiht.
wunder ist, daz ie kein mensch üf erden
vr6 ist oder vr6 kan werden:
des geburt mit jämer ist bevangen,
sin leben betwungen mit sorgen zangen,
sin ende begriffen mit herzeleide ^).
Hugo von Montfort hat das mortalisch Böse^) ebenso tief
empfunden:
Sölt ich nu ewenklich leben.
So muest ich imer clagen,
So hat mir got och geben
Die selben sorge muoß ich teglich tragen.
Das ich wol weiß min sterben
Und weiß nicht weihe stund;
Ich muoß hin in die erden,
Min sei von minem mund^).
Alle Gestaltungsversuche, die bis ins 14. Jahrhundert gemacht
wurden, blieben hinter der höchsten Wirkung*) zurück, bis die
einfache Improvisationskunst des volkstümlichen Priamelvierzeilers
sich des fliegenden Motives bemächtigte. Wie der Kiesel im 6e-
birgsbach wurde die Form unablässig gerundet, geglättet und
geschliffen. Spuren dieses Prozesses sind in Fassungen des 15.
und 16. Jahrhunderts noch vorhanden^). Die Form, der Walthers
») Germania 6, 371. ^) Renner 23 276. 23 322.
^) Spicker, Yersuch eines neuen Gottesbegriffs. Stuttgart 1902.
S. 254 f. 333.
*) XXVm 353 ff.
5) Goethe meint: „Jede Produktivität höchster Art, jedes bedeutende
Aper(;u, jeder große Gedanke, der Frucht bringt und Folge hat, steht in
Niemandes Gewalf
«) Köhler 3, 441 f. Sandyoss S. 105 f.
401
dasselbe Fastnachtsspiel an; und darauf folgt ein Vierzeiler, der
nur Zote ist:
Es ist ein gemeiner sit,
das der zers und der schmidt
allwegen müssen stan,
so sie zu der arbeit sUlIen gan*).
Neu war der ,Witz' nicht mehr, er war wenigstens schon
hundert Jahre alt. Das bezeugt eine Fassung des Liedersaales
Nr. 199, 25'). Das schmutzige Bild kehrt natürlich auch im
Fastnachtsspiel wieder (616, 26 flf.). Der Sprecher fühlt sich als
Spaßmacher verpflichtet, derartige rohe Surrogate der Komik ein-
zumischen. In Sprüchen des Liedersaales ist das ein beliebtes
Verfahren^), ein Spruch ist ganz auf den Gegensatz von Ernst
und solchem , Scherz' aufgebaut*). Im Newen Grillen Schwärm
des 17. Jahrhunderts ist es noch Princip geblieben^). Ähnliches
erlauben sich die Sprecher des 15. und 16. Jahrhunderts; Fatz-
werk gehört zu ihrem Beruf; erhaltene Verse dieser Gattung
kommen mehr auf Rechnung der Vortragenden und Schreiber als
der Dichter. Wie der Sprecher seinen Priamel- Vortrag durch
Unanständigkeiten anfängt oder beschließt, so wählt er auch
einmal zum Schluß den Lügenspruch, mit dem er sich selbst
ironisiert. Das erste Priamelbuch der Münchener Handschrift
Cgm 713 schließt:
Ich bin gewesen in dem land,
Da das gelt wegst aus dem sand,
Und das gelt wegst auf dem ror:
Wer das gleubt, der ist ein tor^).
Ein geeigneter Wink mit dem Zaunpfahl: die Zuhörer sollen
zahlen.
Noch heute liebt der Lügenspruch den Improvisations-Vier-
zeiler.
Ihr Leutia, glabt mrsch sicherlich,
senn wahrlich kanne Lügn, ja Liign:
de Kuh sitzt in dem Schwalbennest,
hot zwanzig gunge Ziegn').
1) N 4b. Fsp. 1455, 12. «) Vgl. KpüTrca'Sia 4, 80. Nr. 1.
3) Nr. 198. 199. 238. *) Nr. 197.
^) Weimarisches Jahrbuch 3, 126 ff.
6) Blatt 25 a. Über Bettelsprüche oben S. 363.
7) Dunger, Rundas Nr. 1382 ff.
Euling, Priamel 26
402
Ich tnid mei Voter
sei a ornüichs Paar Narm:
fohme Summer in Schlitten»
und ne Winter mit Karm.
BUable, woaßt was?
Dö Katz is mei Bas,
Da Hund is mei Vetta,
Und morgen werd schean Wetta^)!
Von PriamelvierzeilerD bezeugt das Sprachbüchlein noch
folgende:
Wenn man ein einfeltigen betreugt,
und so man auf ein frommen leugt
und veintschaft zwischen eeleuten macht:
der dreier arbeit der teufel lacht ^).
Auch dieser Vierzeiler ist durch Bosenplüts Hände gegangen,
was freilich der von Keller hergestellte Text^) nur unvollkommen
zeigt. Vielleicht ist das Motiv traditionell, wie folgende Inschrift
in einer Borstube zu Badomeuschel lehrt:
Wer den Gerechten beleugt,
Und den Armen betreugt.
Und zwischen Eheleuten Hader macht,
Der arbeitet, daß der Teufel lacht^).
In N folgt nun:
Wann das ein weiser eins narren spott,
und ein frommer sich gesellt zu pöser rott,
wer das den zweien wol anlegt:
derselb kein Weisheit in im tregt^).
Alsdann das schon gedruckte Priamel gegen den kargen
Mann: „Ein man dem er und gut zufleußt ^);^ endlich ein auch
^) Greinz und Eapferer 1, 92.
^ Blatt 5a/b. B 176b. F 52a.
3) Pap. 161, 27 ff. Vergl. die Lesarten aus W. In jedem Fall ist
nach 162, 2 eine Interpunktion zu wählen, die erkennen l&ßt, daß 163, 4
den Abschluß der Periode bildet. QF 77, 192.
*) Altdeutsches Herz und Gemüt S. 123.
5) Blatt 5 b. B 177 a.
«) Blatt 5 b. Hundert Priameln Nr. XXXIII. Zum Ausdruck Vers 1:
Fsp. 197, 29. 206, 34; Vers 4 Eolm. Handschrift 83, 13. Fsp. 1156, 19, 3.
403
in B und in der Handschrift Harrers erhaltener Sprach, der
Freidanks Bescheidenheit benutzt^).
Wenn ein reicher ein armen verschmecht,
und wenn ein greif ein mucken vecht,
und wenn ein keiser pöse münze schlecht:
die drei haben sich selber geschwecht^).
Unter den Federproben am Schluß des Büchleins steht:
Der teufel und unglückh,
und alter weiber tückb:
reitten oft m anigen man,
das er nit fUr sich khomen khan^).
Vierzehn Vierzeiler hinter einander gibt die Priamelsammlung
der Handschrift B 176a ff. ^). Mehrere davon sind wenig be-
kannt, meist freilich schwache kaum priamelartige Nachahmangen
in dem angeschlagenen Ton.
Ein fromer man, der frölich ist,
und ungern in dem haderpuch list,
der gelaub nit alles, das er hört:
er wird anders von den leutcn betört^).
Noch schwächer und gar nicht priamelhaft geraten ist die
Kopie eines schon bekannt gemachten Spruches (Hundert Priameln
Nr. XXXE):
Wann einer eim gütlich hat getan,
ob er nicht spricht, das im got lan,
noch lest es got nicht unbesalt, *
des gut bezalt er hundertvalt
0 73, 16.
«) Vgl. E 406b. B 177a. P 52a 1. Keller Fsp. 1371, Nr. 108 mit
irriger Lesung ,arzmeyS
3) Blatt 6 a.
*) Die Anf&nge hat Keller yerzeichnet. Fsp. 1371, Nr. 99—113.
Nr. 99 = Hundert Priameln Nr. XXIX. Nr. 100 = XXX. Erweitert in F.
Nr. 101 = Hundert Fr. Nr. XXXI. Erweiterung aus F bei L es sing 11, 667.
Nr. 103 = Hundert Pr. Nr. XXXII. Gegenstück zu Freidank 131, 5 ff!
LS. 3, 568, 49 ff. Brandes, Glosse S. 254. Zur Lesart ,sack^ vergleiche
Seemüller zu Helbling 5, 16. 46. Nr. 105 = Nr. XXXIU; s. oben.
Nr. 106 steht oben abgedruckt aus BN. Desgleichen Nr. 107. 109. 113.
Nr. 108 s. unten.
») BL 176 a. E71b.
26 •
404
Nach oben aus BE mitgeteiltem Muster verfahren die
Vorsehen:
Ein frome frau in elichem stant,
die nie gevallen ist in schant,
stöst sie ir man in schänden graben:
so muß er sich, beschissen haben ^).
Ein frome frau, do es wol umb stet,
die auf der eren Straßen get,
die sol ir man davon nit wenden:
so kan sie klaffers mund nit sehenden^).
Ein man der mit eim ißt und trinkt,
und im sein ere lempt, das sie hinkt:
der isset rehraub und trinkt sUnd,
das tun al lUgenhaftig münd^).
Ebenso schwach und minderwertig sind viele Vierzeiler der
großen Sammelhandschrift FO, die später in der gnomischen
Industrie des 16. Jahrhunderts wiederkehren; z. B.
Welch man eim kost und Ion mus geben,
der nichtz wil tun, es sei im dan eben,
und meint im ste vil dings nit zue:
der seh, das er sich des ab tue^).
Welch knecht des tages müssig gangen hat,
und des nachts dester ee aus gat,
und denkt »es müe recht wen es welle:
für kein frumkeit ich im das zeP).
In Wunschform kleidet sich folgender Spruch:
Got geb: das ich lang leb,
das ich wenig hab und vil geb,
und vil wiß und wenig sag,
und antwort nit auf alle frag^).
') Bl. 177 a Vers 4: ,sie'. E 406 a.
2) Bl. 177b. V. 2: Die nye gevallen ist yn schant. E 406a.
3) Bl. 177 b. E 405 b.
*) F. Bl. 49 II b. Spalte 2. ,Wie sich einer der eehalten wol abthun'.
Einen Vierzeiler dieser Art hatte Eschenburg, Denkmäler S. 415. Nr. XL VI
abgedruckt.
^) F. Bl. 49 II b. Sp. 2. ,Wie einer des tages mussig get'.
6) F. Bl. 52 b. Eschenburg Nr. LXII.
405
£s ist Variation des Spruches:
Red nit vil und mach es war,
porg nit vil und zall das par,
und wiß auch vil und wenig sag,
und antwort nit auf alle frag^).
Als Hausvers in Wendelsheim wird der Spruch sehr praktisch:
Vil wissen und wenig sagen,
Nicht antworten auf alle Fragen,
Was du redest, daß mache war,
Was du kaufst, bezahle baar^j!
Die niederrheinische Fassung des 15. Jahrhunderts steht
der gleichzeitigen hochdeutschen nahe:
Wyß vyl uod wenych sage,
Antwert nyt aller frage,
Borgh wenych und bezall das gar.
Rede wenych und halt das wayr^).
Ein anderer Vierzeiler der Hs. G. erweitert ein Sprichwort*).
Vor knechtes zung und kinder spil.
Vor hunds maul, als ich sagen wil,
Vor großen fueßen und lispenden lauten:
Hut dich wol, thue ich dir bedeuten*).
Manche Priamelhandschriften sind enthaltsamer in der Auf-
nahme von Vierzeilern gewesen. Aus der Handschrift A stammt
der vorzügliche Vierzeiler:
Wer einem wolf traut auf die baid,
Und einem paum auf seinen aid,
Und einem münch auf sein gewissen:
Der ist hie und dort beschissen^),
^) F. 119 b. ,Wie sich ein mensch sol halten fmmklich^ Zs. f. d. A. 27,
39. Wander 3, 1158.
3) Meier, Schwäbische Volkslieder S. 267.
3) Germ. 19, 303.
*) Hundert Pr. Nr. 99. Facetus bei Suringar, Van Seeden Nr. 87
nnd S. 57.
5) Hätzlerin 2, 57, 43.
«) Hundert Pr. Nr. IX. Zum Wolf ühland, Schriften 3, 64 ff.
Wolf und Pfaffe: 3, 67. Wander s. v. Bauer 82. 5, 60, 1313,
406
der in F wieder durch Eontamination mit Freidankversen erweitert
wurde. Das in seinen Grundlagen wahrscheinlich gemeingermanische
Motiv ist heute noch beliebt 0.
Mnl. und mnd. Fassungen begegneten schon oben; auch
der Leberreim greift es auf:
Wol einem Wulff vp breder Heyd,
Vnd dem Joden by seynem Eyd,
Einm Wökener by sym Gweten
Trawt: wert van dissen bedreten^).
Gewarnt wird in der Sprichwörterliteratur mit solchen Sprächen
vor Freunden, Soldaten, Magistern, dem Papst, Krämern u. s. w.
Als Inschrift ist an einem Wohnhaus zu Mohra bei Marburg
angebracht:
Trane keinem Mädchen auf gruniger Haid,
Und keinem Jud auf seinen Eid,
Keinem Schäfer auf sein Gewissen:
Sonst wirst du von allen dreien beschissen^).
Nürnberger Ursprungs ist ein Priamelvierzeiler aus KM, der
den Gegensatz von Jung und Alt verwendet^), wieder in F er-
weitert:
Ein junger koch, im alter ein preter.
Ein junger reuter, ein alter verreter,
Ein junge hur, im alter ein schütz:
Die dreu sein sunst zu nichten nutz*).
In der Hs. K hat Schmeller folgenden Spruch erneuert:
Nimant glauben und vil klaffen,
Schelten nunnen, munch <und> pfaffen,
Und sich selb anschawen nit:
Ist überal der weide sit^).
Mehr als ein halbes Dutzend Priamelhandschriften überliefern
den beliebten Spruch:
') Dotier und Heinz el» Edda 2, 119. Wiener l^ttzangsberichte 54,
307. Beilage zur Münchener Allgemeinen Zeitung 1899 Nr. 123, 2.
«) Nd. Jb. 10, 70. Nr. 37.
3) von Padberg3 S. 88.
*) Hundert Pr. Nr. LXXVm. Wander 2, 1054.
^) Auch in M Bl. 19 b mit der Variante; y^rr^terj petler,
«) Cgm, 713, 5 a.
407
Wer alle tag wil ligen im luder,
und aus der Schüssel wil füren gute fuder,
und einen trunk übern andern wil sauffen:
den sieht man wenig erb und eigen kaufTen^).
Es ist die bürgerliche Variante zu der höfischen Vorschrift
des Winsbeken:
Sun, beidiu luoder unde spU
sint libes und der s^le ein val,
der dne maze in volgen wil:
si machent breite huobe smal.
swer lebt an ere in frier wal,
der wirt den werden schiere unwert
und hüset in dem Affental.
swer als6 vliuset stne habe
mit disen swachen fuoren zwein,
der l%ge baz in eime grabe ^).
Der ehrbare Bürger verurteilt ebenso das Eneipenleben.
Ganz ähnlich, wie die früher angeführten mnl. Varianten, lautet
ein niederrheinischer Spruch:
Der nyet engewynt und och nyt enhayt,
Und alle dage yn des wyrtzhuyß gayt,
Mich hayt wonder, wa hee yß holt,
Dar er dem wyrde myt bezalt^).
Sigmund Hurrer war ein Freund vierzeiliger Priamel und
hat davon fleißig zusammengetragen.
Wer frauen und priester ert,
Und seine kind das pest lert,
Und schämt sich, was er Übels tut:
Der man hat eines weisen mannes mut*).
Launig folgt dem Typus B:
Alte leute krauen sich,
zornige leute hauen sich:
weise leute besinnen sich:
junge leute minnen sich^).
«) Hundert Pr. Nr. XXX. Zu Vers 1 ygl. Fsp. 784, 24. Zum Motiy
Florilegium Gottingense Nr. 19. 56.
«) 45, 1 ff. 3) Genn. 19, 304.
• ^) £ 406a. von Heinemann, Hsn. zu Wolfenbüttel II 4,41 mit der
Variante ,Ynd sich hütet was^ (Vers 3). Andere, auch nicht priamelhafte
Sprüche: E 370b. 405b ff. meist wie in B.
») L 7b.
408
Mittelrheinisch:
Aide lute trauwen sich,
freidige lute hauen sich,
cluge lute vorsinnen sich:
junge lute minnen sich^).
Aus der Schweiz:
Alte lüt crauwent sich,
Kün lüt höwent sich,
Subedich lUt schöwent sich,
Wise lüt versinnent sich:
Jung lüt minnent sich^).
Mitteini ederdeutsch :
Homödige lüde beschouwen sick,
Olde lüde klouwen sick,
M6de lüde rouwen sick,
Wise lüde vorsinnen sick.
Junge lüde beleven sick,
DüUe lüde Oven sick 3).
Planlose Erweiterungen hahen hier wie in den Sprichwörter-
sammlungen die Struktur zerstört.
Das merkwürdigste Spruchhuch des 15. Jahrhunderts, jene ost-
schwäbische Anthologie des Britischen Museums, die wegen der
seltenen literarhistorischen Kenntnisse ihres Sammlers wohl noch
oft genannt werden wird, überliefert unter dem Namen Walthers
von der Vogelweide die Krone aller Priamelvierzeiler des Mittel-
alters, den herrlichen Vers:
Ich leb und waiß nit wie langk,
Ich stirb und waiß nit wann,
Ich far und waiß nit wahin:
Mich wundert, das ich so frölich pin*).
Wem anders als dem unvergleichlichen Walther sollte man
denn auch diesen Vers zuschreiben, in dessen Würdigung das
1) Zs. f. d. A. 13, 359.
3) Seufferts Vierteljahrschrift 3, 359.
3) Reimb. 2162 ff.
^) Priebsch, Deutsche Hsn. in England 2, 174. Datierung der Hs.
1468 — 1469. Mit der Unterschrift ,Haec magister Martinas in Bibrach 1498'
auf einem Buchdeckel: Mones Anz. 4, 207 mit den Varianten: ,wohin.'
,dass ich frölich bin,' Sonstige Fassungen bei Köhler, Kleinere Schrif-
ten 3, 423 ff,
409
19. Jahrhundert mit dem 15. wetteiferte? Heinrich von Kleist
entdeckt ihn als Inschrift eines Hauses am Thuner See, er
macht seine Freunde darauf aufmerksam, er „denkt ihn nicht ohne
Freude", wenn er spazieren geht; er schwebt ihm an einer
Stelle der Hermannsschlacht vor. „Kann das Bätsei des Lebens
und Sterbens eigentümlicher ausgesprochen werden?" sagt Joseph
Maria von Badowitz, der den Spruch in seine Devisen und
Motto des späteren Mittelalters aufgenommen hat. Wilhelm
Wackernagel schloß mit dem sinnigen Spruch sein altdeutsches
Lesebuch; Ludwig Hörmann ward durch ihn zur Sammlung
der Haussprüche aus den Alpen angeregt, nachdem er als wandern-
der Student ihn einmal an einer alten Fuhrmannsherberge der
Brennerstraße gelesen hatte. Ganz besonders liebte Bein hold
Köhler diesen Spruch; er zählt ihn zu denen, die in rechter
Stimmung einmal gelesen sich für immer dem Gedächtnis ein-
prägen, und hat seine spätere Verbreitung unermüdlich verfolgt^).
Die Spruchform stellt den Typus A rein, in großer Vollendung
dar; die logisch-syntaktische Verbindung ist nur leise angedeutet,
wie im modernen Schnaderhüpfel:
Und i woaß nit woher,
Und i woaß nit wohin,
Und mi wunderts nur,
Daß i so lusti bin^;!
Möcht alleweil gern wandern,
Waß selber nit wohin,
I bin halt so traurig,
Geht nix nach mein Sinn^j.
Der Mann des Volkes philosophiert gern in seiner Weise,
freilich ohne die raffinierte Sentimentalität Heinrich Heines.
An den Trieb zum Ahnungsvollen, Unergründlichen ist beim
Deutschen selten vergebens appelliert. Daraus erklärt sich auch
die Vorliebe des Volkes für unsern Spruch, dessen Schicksale sich
^) Kleinere Schriften 3, 421 ff. Dazu eine Stelle des Ambraser Lieder-
buchs bei Sandvoss in den Freuß. Jb. 86, 106 und das nd. Reimbüchlein
2548 ff. Unselbständig Lucae, Aus deutscher Sprach- und Literaturge-
schichte S. 247 ff.
2) K. Stieler, Kulturbilder aus Bayern. Stuttgart 1885. S. 69.
3) Pogatschnigg und Herrmann 1*, 41, Nr. 203.
410
ziemlich übersehen lassen, wenn man die bisher nicht beachteten
älteren deutschen Zeugnisse hinzufügt. Sein Nachleben vom
1 6. Jahrhundert an beschäftigt uns im folgenden Bande ; hier kann
es nur gestreift werden.
Der ernste Hintergrund ist biblisch. Locutus sum in lingua
mea: Notum fac mihi Domine finem meum, et numerum dierum
meoram quis est: ut sciam quid desit mihi^). Verumtamen in
imagine pertransit homo: sed et frustra conturbatur. Thesaurizat:
et ignorat cui congregabit ea^), und unermüdlich ermahnt der
Ecclesiasticus: Memento novissima^).
Der spanisch-jüdische Dichter Ibn Gabirol stellt im 11. Jahr-
hundert über den Menschen ähnliche Betrachtungen an: schnell
wie der Adler jagt er dem Beichtume nach und vergißt den Tod,
der hinter ihm steht; er kommt auf die Welt und weiß nicht
wozu, er freut sich und weiß nicht worüber, er lebt und weiß
nicht wie lange ^). In rhetorischer Verkünstelung geht der all-
gemein menschliche Gedanke zu gründe; so in einem Spruch der
Hs. 115 von St. Omer aus dem 13. Jahrhundert:
Nascimur ut simus, sumus ut pereamus, et imus
lUuc unde sumus, quia terram terra subiinus^).
Auf den abbas Hellas wird in den Verba seniorum 3, 4 der
Satz zurückgeführt: „Ego tres res timeo. ünam, quando egressura
est anima mea de corpore; aliam, quando occursurus sum deo;
tertiam, quando adversum me proferenda est sententia^).^
Die mittelalterliche Literatur hat mit beliebter Schematisierung
eine Triadensentenz geformt, die in einer Turiner Pergamenths.
des 14. Jahrhunderts (,Proverbia Sapientum^) lautet:
1) Psahnns 38, 5.
*) 88, 7. Vgl. die aus Clm. 9804 Köhler 3, 441 mitgeteilte Fassung
Vers 2.
3) 7, 40. 88, 6.
*) Grünbaum in der Zeitschrift der deutschen Morgenländischen Ge-
sellschaft 42, 275.
^) Notices et extraits des manuscripts de la hibliotheqne nationale et
autres bibliotheqnes 81, 1, 125.
«) Patrologia ed. Migne 78, 861 B. Eine vita abbatis Eliae s. 1185 G ff.;
vgl. 1154 D ff.
411
Sunt tria que uere niciunt roe sepe dolere:
Est primum durum, quia scio xne moriturum,
Et magis attendo moriar, sed nescio quando,
Inde magis fiebo, quia nescio quo remanebo ').
Andere cnr wenig abweichende Umschreibungen, von denen
dann wieder spätere nieder- und hochdeutsche abhängen, sind
zahlreich, nichts so wirklich poetisch, wie die Bernhard von
Glairvaux und Walther Mapes zugeschriebenen Verse:
Dum de morte cogito,
contristor et ploro;
verum ^) est quod moriar,
sed tempus ignoro;
ultimum') quod nescio,
cui iungar choro;
ut cum sanctis merear
jungi, Deum oro^).
Früh haben diese schwermütigen Töne in deutscher Dichtung ^)
Widerhall gefunden und bald die specifisch kirchliche Färbung
abgestreift. Die gebundenen theologischen Vorstellungen von der
Furcht vor Gericht und Urteilsspruch machen freier Selbstbesinnung
Platz; schon in den ältesten mittelhochdeutschen Fassungen ist
der Spruch in die Sphäre des Bein-Menschlichen emporgehoben*
Freidank meinte:
■
hie enweiz ich selbe, wer ich bin^).
ichn weiz selbe niht ze wol,
wer ich bin und war ich soH).
swer driu dinc bedachte,
der vermite gotes aehte:
waz er was, unt waz er ist,
nnt waz er wirt in kurzer vrist^).
Schön sagt der Jude Süßkind von Trimberg:
swenne ich gedenke, waz ich was ald waz ich bin,
ald waz ich werden muoz, s6 ist al min vröude hin').
1) JKöhler 3,445. ') Walther: nnum. ^ Walther: tertium.
^) Rhythmus de contemptu mundi 28 ff. Germania 36, 318.
^) Über Neigung des Yolksgesanges zur Schwermut: Bö ekel, Yolks-
lieder aus Oberhessen S. CXI.
«) 17, 27. ^ 18, 18.
8) 22, 12. Wolfram, Willehalm 280, 17 ff.; oben S. 293. 301.
'} HMS 2, 258b. Benner 22660. 23410. Ambraser I^iederbnoh S.87,
412
An solche Überlieferung erinnert die Hansinschrift am
Thuner See:
Ich komme, ich weiß nicht von wo,
Ich bin, ich weiß nicht was,
Ich fahre, ich weiß nicht wohin:
Mich wundert, daß ich so fröhlich bin ^) ?
Bührend nnd ergreifend redet auch einmal der gute Hugo
von Trimberg:
wir mUezen sterben und wizzen doch niht,
wie, wä oder wenne daz geschiht.
wunder ist, daz ie kein mensch üf erden
vr6 ist oder vr6 kan werden:
des geburt mit jamer ist bevangen,
sin leben betwungen mit sorgen zangen,
sin ende begriffen mit herzeleide ^).
Hugo von Montfort hat das mortalisch Böse*) ebenso tief
empfunden:
Sölt ich nu ewenklich leben.
So muest ich imer clagen,
So hat mir got och geben
Die selben sorge muoß ich teglich tragen.
Das ich wol weiß min sterben
Und weiß nicht weihe stund;
Ich muoß hin in die erden.
Min sei von minem mund^).
Alle Gestaltungs versuche, die bis ins 14. Jahrhundert gemacht
wurden, blieben hinter der höchsten Wirkung^) zurück, bis die
einfache Improvisationskunst des volkstümlichen Priamelvierzeilers
sich des fliegenden Motives bemächtigte. Wie der Kiesel im Ge-
birgsbach wurde die Form unablässig gerundet, geglättet und
geschliffen. Spuren dieses Prozesses sind in Fassungen des 15.
und 16. Jahrhunderts noch vorhanden^). Die Form, der Walthers
1) Germania 6, 371. ^) Renner 23 276. 23 322.
3) Spicker, Yersuch eines neuen Gottesbegriffs. Stuttgart 1902.
S. 254 f. 333.
*) XXVm 353 ff.
s) Goethe meint: „Jede Produktivität höchster Art, jedes bedeutende
Aperiju, jeder große Gedanke, der Frucht bringt und Folge hat, steht in
Niemandes Gewalt."
8) Köhler 3, 441 f. Sandvoss S. 105 f.
413
Name beigefügt ist, kann als die vollendetste gelten: keine Über-
setzung ans dem Lateinischen, worauf schon Köhler aufmerksam
machte, sondern freie ümdichtung. Fragen wir sie selbst nach
ihrem Älter und ihrer Herkunft, so weisen Sprache und Beim
auf das 14. bis 15. Jahrhundert und alemannische Abstammung^).
Daß der Biberacher Magister sie gedichtet, ist durch die ältere
Überlieferung widerlegt, und gar eine Grabschrift, wie der er-
wähnte preußische General und Staatsmann angab und an manchen
Stellen zu lesen steht, ist sie nicht; auch in späteren Fassungen
werden Namen hinzugefügt, und Elsässische Schulkinder verbinden
noch heute ' den Spruch mit einer kindlich-spielenden Ex-libris-
Bezeichnung. Heilb ronner Lokalpatriotismus nimmt „diesse reimen,
wohl in der gantzen Christenheit bekand," für die 1688 von den
Franzosen verbrannte Franziskanerkirche in Anspruch. Luther
behandelt den Spruch dreimal und legt in eine selbstgedichtete,
den Sinn in sein Gegenteil verkehrende Variante den großartigen
Glaubensmut einer starken Seele ; reizt ihn doch die müde Weis-
heit des Vierzeilers zum Widerspruch. Niederdeutsche Nüchtern-
heit scheint sich der weichen Poesie dieser Verse verschlossen
zu haben; es scheint keine nd. Übersetzung zu geben, Nieder-
deutschland zog die lehrhafte Trockenheit der alten Triadensentenz
vor. Übrigens wird der Spruch in Devisen, Haussprüchen und
Inschriften verwendet, man läßt ihn sagenhaft Kaiser Max mit
Kreide an die Wand des Maximilianszimmers zu Schloß Tratzberg
in Tirol schreiben, man sieht ihn auf dem Ettlinger Bichtschwert
in Gastans Panoptikum. Ein moderner Dichter verwendet ihn zur
^) Vergl. zum Reim ,langk: wann' Weinhold, Alem. Grammatik S. 179.
Die Aufzeichnung scheint ost-schwäbisch. Zu Vers 4; S terz in g er Spiele I
421. In betreff der Textkritik macht Köhler 3, 451 die Bemerkung: „Ver-
gleicht man die yerschiedenen Fassungen unseres Spruches, so ergibt sich,
daß sie abgesehen von sonstigen vereinzelten kleinen Abweichungen — sich
hauptsächlich dadurch unterscheiden, daß in den drei ersten Zeilen entweder
,und weiß* oder ,und ich weiß', und in der vierten entweder ,fröhlich'
oder ,80 fröhlich' oder ,noch so fröhlich' steht. Ich halte es für das
natürlichste und einfachste, daß es ,und weiß' und ,fröhlich' heißt, und
möchte daher glauben, daß so auch der Spruch ursprünglich gelautet hat.**
Für das 15. Jahrhundert kommen die gemeinten Abweichungen noch nicht
in Betracht, mit ,und weiß' hat Köhler recht, ,8o fröhlich' stützen die
Londoner, die Tübinger, die Maihinger Hs.
414
Charakteristik der Vagantendichtung, zur Selbstcharakteristik des
berühmten Erzpoeten. Agnes Härder hat ihn^) der kurzen
Novelle Vorpfingsten zu Orunde gelegt. Schließlich geben ihn
Eobell und Stieler noch einmal dem Volk zurück, dem er sein
Bestes verdankt.
Rückblick.
Wenn Lessing das Priamel das ursprünglich deutsche Epi-
gramm nennen wollte, so träfe diese allgemein charakterisierende
Bezeichnung ziemlich für den Priamelvierzeiler zu, dessen mittel-
alterliche Entwicklung wir eben anzudeuten versuchten ; nur muß
man dabei die erhebliche Einschränkung machen, daß unser volks-
mäßiges Gebilde mit den überfeinerten schulmäßigen Eunstprodukten
der traditionellen Poetik so gut wie nichts zu tun hat. Auch
nicht mit Erzeugnissen späterer Fragmentisten ^) oder moderner
Epigrammatik, will man etwa PaulHeyse als ihren Vertreter
gelten lassen, der erklärt:
Sonst hab ich, wie die Gedanken kamen,
Sie rasch verbraucht im Augenblick.
Jetzt leg ich schon in Epigrammen
Ein paar Nothpfennige zurück.
Ein satter, tafelmüder Gast
Dreht Kügelchen aus Brod zusammen.
Wenn du dich satt gelebt, gedichtet hast,
Der Abhub taugt zu Epigrammen^.
Viel mehr dem Priamel verwandt, sein Fleisch und Blut ist
der alpine Vierzeiler, den Hans Orasberger richtig bewertet:
„Wenn der Wein schlecht und anderes Labsal schaal und ver-
mischt ist, dann erfrischt und mundet mehr als sonst ein Trunk
aus der Felsenquelle, und wenn unterhalb der breite Bach oder
^) mit der neuen Variante im Vers 2: ,und weiß nicht wie.^
2) Eduard Grisebach, Die deutsche Literatur 1770-1870. Wien
1876. S. 77. Über den Aphorismus Di eis in den Berliner Sitzungsberichten
1903, 1, 37.
^) Spruchbächlein S. 54. 66. Früher ward das Epigramm bekanntlich
für poetische Nebenstunden empfohlen, und Epigrammpoesie hatte den Vor-
zug, wenn alle Poesie als „Raserej^ g&^t, eine der kürzesten zu sein.
Borinski, Die Poetik der Renaissance. Berlin 1886. S. 344.
Fluß trüb fließt und verpestet ist, so dringt man gern dahin vor,
wo das erquickliche Naß rein und hell dem Oestein entquillt.
Und fallen hier auch nur Tropfen, ist, was wir finden, auch nur
dünnes Oeriesel: es ist umso kostbarer, je länger wir auf der
Wanderung längs des faulen Überschwalls dürsten mußten.^ Der
Priamel Vierzeiler ist wie das Schnaderhüpfel „ein Stück, wenn
auch nicht sonderlich hoher oder tiefer, so doch gesunder und
und ursprünglicher Poesie^ ^). An der organischen Eigenrichtigkeit
des alten Priamels scheitert jeder Versuch, ihm fremde abgezogene
Theorien über das Epigramm aufzuzwingen, wie des Masenius
von Abraham Heinrich Große beibehaltene Unterscheidung des
Epigramma tragicum und comicum^), oder Scaligers judiciale,
deliberativum, demonstrativum, Vavassors dulce, candidum, salsum,
vehemens, acre, Morhofs simplicia und circumscripta^), und was
dergleichen mehr bis in die neueste Zeit an Einteilungen produciert
ist. Näher läge es, Qach dem Verhältnis zur mittellateinischen
Epigrammdichtung zu fragen. Arbeitete diese ^) mühselig mit
schemenhaften Formen und einem in Schulübungen entgeistigten
StofT untergegangener Kultur, ohne zu Freiheit und eigener Indivi-
dualität vorzudringen: so geht die deutsche Priamelpoesie von den
persönlichsten Impulsen aus, wurzelt, das echteste Oelegenheits-
gedicht, in handgreiflicher Improvisation und bewegt sich in
Formen, die aus dem eigensten Wesen der Improvisation bei
der Arbeit, beim Tanz, im Lied, ina Spruch natürlich heraus-
gewachsen sind.
Im Mittelalter schafft sich das jugendfrische deutsche Volk,
alles mit andern Augen schauend, eine neue poetische Welt, die
dem heutigen Oeschlecht auch schon wieder fremd geworden ist.
Wie verlorene Klänge jugendlicher Stimmungen dringt das ,Ich
leb und weiß nicht, wie lang. Mich wundert, daß ich so fröhlich
bin' aus der versunkenen Welt zu uns herüber; wenn Luther
sagen kann:
1) Naturgeschichte des Schnaderhüpfels S. 9. Dung er, Rundas S. XXIY.
3) Große, De epigrammatibus Yemaculis. Lipsiae 1696. Cap. IX.
') Borinski, Die Poetik der Benaissance S. 346. „Von den zahlreichen
Schriftstellern über das Epigramm glaubt jeder seine Einteilung für sich
haben zu müssen.^
*) Gröber, Grundriß H 1, 367 ff.
420
Hötzum^).
Wedler hat de schäperie,
Gerlce — — en sack vuU klie,
Stoffel Wastens w6nt an enne,
De Meinsche hat ne dicke lenne.
Meine mit'r snufftabacksdose,
Zacharis Smitt mit'r smullerhose (?),
Swinge w6nt up'n sunnenbarge,
Pape hat ne bleckerae — karwe.
Henneken Kurland rdkt ne lange ptpe,
Grote Kurland kann nich rower kiken,
Midden Kurland w6nt an 'n wäter.
De Woltersche is ne tünape,
Bartels de is oppermann,
Stoffel Brandes geit voran,
Decker, de is gr6t un slank,
Hogrefe futtert 'n bullen blank,
In Grenners garen waßt lupinen,
De Käuersche mäkt famoste minen,
Ehlers hat 'n groinen wa 'n,
Da kann de Haberlandsche up in himmel gin.
Übereinstimmend gebaute ungeregelte Kinderreime und
Jahreszeitsprüclie^) haben bisweilen gemeinsame Motive. Das
Jahreszeitmotiv erscheint in folgendem Falle ursprünglicher als
das im Einderreime ganz allgemein gewordene Zeit-Motiv. Man
^ ' Wenn die Rogge reife,
So gange wir ge pfeife^).
Will di lehre Sesseli trage,
Bis mom früeh.
Bis der Rogge ryft
Und der MuUer pfyft*).
Wenn der Haber blUeht,
Wenn der Rogge ryft.
Wenn der Miller pfyft,
Wenn der Beck sy Weckli bacht,
Wenn die ganzi Muelte kracht 5).
») A. a. 0. S. 5.
2) Oatfriesische Sprüche derart begegneten im V. Kapitel.
^ Meier, Deutsche Kinder-Reime und Kinder-Spiele aus Schwaben,
Tübingen 1851 S. 30.
*■) Baseler Kinderlieder S. 52.
^) Baseler Kinderreime S. 2.
oder:
421
Bom, bom, Birebam,
D' klacke lauden de Grout an.
Wien as gestuorwen?
De Peter fun de Luoden,
Wene get e begruowen?
Zans em den Owent,
Wan de Hecke reifen,
Wan de Mille pfeifen,
Wan de Henger schlofe gin,
Wan de Fillercher opstin^).
Heilebart,
Klapper in Fahrt,
Wo haste deine Junken?
Offen Papendicken.
Wennehr willst se wedder holen?
Wenn der Rogge riepet.
Wenn de Miese piepert,
Wenn de Plaug stille steit.
Wenn de Jäger nach Felde geit^).
Heilebart du Lankebein,
Vonn eir wutt du wegfleihn?
Wenn de Rogge riepet,
Wenn de MUse piepet.
Wenn de plaug stille steiht,
Un de Wao nao 'n Felle geiht:
Denn sau will eck weg fleihn^).
An andern Orten lautet der Spruch:
Wenn de Rogge riepe iss,
Wenn de Pogge piepe iss,
Wenn de jungn Appeln
In de Tunne trappeln,
Wenn de Spies waerd witt un Ideen,
Will Oaleboart wegteen.
Wenn der Hoaber riept,
Wenn der Schoapr piept.
Wenn der Appl vom Boome klappert.
Denn iss diene Tit.
^) Ed. de la Fontaine, Die luxemborger Einderreime. Luxemburg
1873. S. 12. Nr. 14. vgl. Nr. 12 und 13.
2) Weg euer, Volkstümliche Lieder aus Norddeutschland S. 88. Nr, 306.
») Wegen er, Volkstümliche Lieder S. 89. Nr. 308.
vn.
Priamelhafte Reimpaare.
Das Einfache durch das Zusammengesetzte,
das Leichte durch das Schwierige erklären zu
wollen, ist ein Unheil, das in dem ganzen Körper
der Wissenschaft verteilt ist, von den Einsichtigen
wohl anerkannt, aber nicht überall eingestanden.
Goethe.
Wie von jeber in der Volkspoesie neben dem Vierzeiler die
improvisierte ungeregelte längere Reihe den Parallelismus und
die Häufung gepflegt hat, so sind auch in literarischer Dichtung
längere Beihen priamelhafter Reimpaare reich entwickelt. Vom
Vierzeiler unterscheiden sie sich wesentlich dadurch, daß sie das
beschränkende Gesetz eines geregelten Baues in sich nicht ge-
funden haben; es mußte ihnen also die Form in höherem Sinne
abgehen, eine Gattung konnten diese priamelhaften Reimpaare
daher auch nicht konstituieren, trotzdem sehr beachtenswerte An-
sätze zu einer musterhaften Festsetzung der Form ausgebildet
worden sind.
Bei diesem Material kommen hauptsächlich zwei Ausgangs-
punkte für die Entwicklung in Betracht: einerseits die längere
Reihe, andrerseits die Erweiterung vom Vierzeiler aus.
Schon die erwähnten volkstümlichen Schilderungen des un-
heimlichen Ortes wiesen oSenbar durch Stegreifdichtung ver-
mehrte längere Reihen auf. Auch diese Art volkstümlicher Im-
provisation möge noch durch einige Beispiele erläutert werden,
freilich bedarf es keiner Ausführlichkeit, weil wir es hier mit un-
erschöpflichem, aller Regel spottendem Überfluß zu tun haben.
Daß hier ebenfalls die drei Grundtypen der Improvisation anklingen
und nichtdeutsche Volkspoesie wieder ebenso wie die einheimische
verfährt, wird nicht überraschen.
419
Durch obrigkeitliche Verbote im Mittelalter bezeugt sind die
sogenaunten Nachbarreime oder Bauernreihen, meist im-
provisierte Spottieime. Einen Reimvers derart für die südliche
Wilhelmstraße in Braunschweig hat Andre e mitgeteilt^).
Daubert, de lert,
Glinderoann, de smert,
Stockmann kikt an de wand,
Schwartz is in de ganse weit bekannt,
Graf Schulenburg w6nt in de midde,
Schreiber hat ne gue stidde,
Kuhlmann, de de Anseigen dräggt,
Michel, de dat dach besläggt,
[Winter?] de hat fülen kese,
Meyer is darum böse.
Hecht, de vele kinner hat,
Gemmeke fritt sik nimmer satt.
Seltener ist die Haltung dieser Spöttereien episch wie in
einem Helmstedter Vers^):
Mester Timme
Danst mit sine fru in himme. •
Da kam Rehbein,
Woll dat dk mal sein.
Etsch, etsch, sä Zwetsch.
Wat is dabie, sä Miehe.
Da kam Munkel,
Da ward't dunkel.
Da kam de Hofrat Fein,
Da konn *ne — nist mer sein.
öfter nähert sich der Stegreifvers dem Typus B; z. B.
Wolfenbüttel»).
Südseite des Eornmarktes (aus den 50 er Jahren).
Eisfeldt w6nt an enne,
Borchers hat ne scheiwe lenne,
Ludwig backt verschimmelt brdt,
Dralle sleit den ossen d6t,
Dosse is en tUtchendreier,
LangelUddecke speit Verwalter up Monpleseier.
Böttchers witwe verkoft k6ren,
Röber kricht de swine bf de 6ren.
1) Neues Braunschweigisches Magazin 3, 5.
3) Ebenda S. 5. 3) A. a. 0. S. 6.
27*
420
Hötzum^).
Wedler hat de schäperie,
Gerke en sack vuU kliö,
Stoffel Wastens w6nt an cnne,
De Meinsche hat ne dicke lenne.
Meine mit'r snufftabacksdose,
Zacharis Smitt mit'r smullerhose (Oi
Swinge w6nt up'n sunnenbarge,
Pape hat ne bleckerne — karwe.
Henneken Kurland r6kt ne lange ptpe,
Gr6te Kurland kann nich rower kiken,
Midden Kurland w6nt an 'n wÄter.
De Woltersche is ne tünäpe,
Bartels de is oppermann,
Stoffel Brandes geit vordn,
Decker, de is gr6t un slank,
Hogrefe futtert 'n bullen blank,
In Grenners gdren waßt lupinen,
De Käuersche mdkt famoste minen,
Ehlers hat 'n groinen wä 'n,
Da kann de Haberlandsche up in himmel g4n.
«
Übereinstimmend gebaute ungeregelte Kinderreime und
Jahreszeitsprüche^) haben bisweilen gemeinsame Motive. Das
Jahreszeitmotiv erscheint in folgendem Falle ursprünglicher als
das im Einderreime ganz allgemein gewordene Zeit-Motiv. Man
° ' Wenn die Rogge reife,
So gange wir ge pfeife 3).
Will di lehre Sesseli trage,
Bis mom frtleh,
Bis der Rogge ryft
Und der Müller pfyft*).
Wenn der Haber bltieht,
Wenn der Rogge ryft,
Wenn der Miller pfyft,
Wenn der Beck sy Weckli bacht,
Wenn die ganzi Muelte kracht^).
») A. a. 0. S. 5.
') Ostfriesische Sprüche derart begegneten im V. Kapitel.
^) Meier, Deutsche Kinder-Reime und Kinder-Spiele aus Schwaben,
Tübingen 1851 S. 30.
^) Baseler Kinderlieder S. 52.
^) Baseler Kinderreime S. 2.
oder:
421
Bom, bom, Birebam,
D' klacke lauden de Grout an.
Wien as gestuorwen?
De Peter fun de Luoden,
Wene get e begruowen?
Zans em den Owent,
Wan de Hecke reifen,
Wan de Mille pfeifen,
Wan de Henger schlofe gin,
Wan de Fillercher opstin^).
Heilebart,
Klapper in Fahrt,
Wo haste deine Junken?
Offen Papendicken.
Wennehr willst se wedder holen?
Wenn der Rogge riepet.
Wenn de Miese piepert,
Wenn de Plaug stille steit,
Wenn de Jäger nach Felde geit^).
Heilebart du Lankebein,
Vonn eir wutt du wegfleihn?
Wenn de Rogge riepet,
Wenn de Muse piepet.
Wenn de plaug stille steiht,
Un de Wao nao 'n Felle geiht:
Denn sau will eck weg fleihn^).
An andern Orten lautet der Sprach:
Wenn de Rogge riepe iss,
Wenn de Pogge piepe iss,
Wenn de jungn Appeln
In de Tunne trappeln.
Wenn de Spies waerd witt un kleen.
Will Oaleboart wegteen.
Wenn der Hoaber riept,
Wenn der Schoapr piept.
Wenn der Appl vom Boome klappert,
Denn iss diene Tit.
*) Ed. de la Fontaine, Die luxemburger Kinderreime. Luxemburg
1873. S. 12. Nr. 14. ygl. Nr. 12 und 13.
2) Wegener, Volkstümliche Lieder aus Norddeutschland S. 88. Nr. 306.
^ Wegen er, Volkstümliche Lieder S. 8». Nr. 308.
422
In Meldorf:
In Pommern:
In Bobrberg:
Wenn de Ploog to Felle geiht,
Wenn de Wind upt Stoppeln weiht,
Wenn de jaelen Appeln fallen,
Wenn de Jägerbüssen knallen.
Wenn de blanken Doaler klingen,
Wenn de ollen Wiewer singen.
Wenn de Rogg riep iss,
De Aar piep iss,
De Tooden Appeln
Op de Boom schnapeln,
Wenn de gelen Beern
Vor de Döre schuern.
Wenn de gelen Ringn
In de Kist klingn.
Rogge —
Pogge piep iss,
Wenn dei gälen Beeren
Up dem Böhme gären,
Wenn dei gälen Äppel
Von dem Böhme treppel,
Wenn dei gollen Ringen
In dei Kirche klingen,
Wenn dei gollen Wagen
Up dei Straten jagen, —
Denn so will ick wiere tein,
Dath dei gollen Wagen mie meth sein^).
Wunsch und Gruß wählen mit Vorliebe längere Beihen
nach dem Typus A.
So viel Stern am Himmel stehen
An dem güldnen blauen Zelt,
So viel Schäflein als da gehen
In dem grünen, grünen Feld,
So viel Vögel als da fliegen,
Als da hin und wieder fliegen:
So viel mal sei du gegrüßt')!
Die Varianten sind unerschöpflich.
') Vergl. zum Adebarspruch Drosihn-Polle S. 68. Nr. 112.
3) Birlinger und Crecelius, Wunderhorn 2, 183ff. Yilmar, Hand-
büchleiu de9 deutschen Volksliedes. Marburg 1868' S. 182.
423
Das 10. Jahrhundert hat herrliche Beispiele solchen Grußes.
Quot CQlum retinet Stellas, quot terra lapillos,
Quot saltus ramos, folia aut pontus harenas,
Quot pluuiQ stillas, quot fundunt nubila guttas,
Quot fluuius pisces uel sunt quot in orbe uolucres,
Quot flores prati uel quot sunt gramina campi.
Tot tibi prestantes dat virtus trina salutes^).
Noch bekannter ist der Liebesgruß des Buodlieb.
Die sodes illi nunc de roe corde fideli
Tantundem liebes, veniat quantum modo loubes,
Et volucrum wunna quot sint, tot die sibi minna;
Graminis et florum quantum sit, die et bonorum^}.
Die Herausgeber des Wunderhorns haben tatsächlich das
Experiment gemacht, aus einer längeren Reihe dieser Art ein
priamelhaftes Kindergebet herzustellen ^). Zu Grunde liegt folgen-
der Herzenserguß des Nürnberger Predigers und Professors J.
M. Meyfart*):
Wie viel Sternen am Himmel seyn,
Wie viel Tröpflein am Thaue seyn.
Wie viel Flüsse im Wasser seyn,
Wie viel Güsse im Regen seyn.
Wie viel Flocken an Fellen seyn.
Wie viel Blumen im Früling seyn.
Wie viel Geruch der Kräuter seyn,
Wie viel Farben der Tücher seyn,
Wie viel Beerlein an Stöcken seyn.
Wie viel Aepffel an Bäumen seyn.
Wie viel Aehren im Sommer seyn.
Wie viel Blä)tter in Wäldern seyn.
Wie viel Thier auff der Erden seyn,
W^ie viel Stäublein auf Straßen seyn.
Wie viel Haar auf den Häubten seyn,
Wie viel Locken an Thieren seyn.
Wie viel Sandkorn im Meere seyn,
Wie viel Gras mag in Wiesen seyn.
Wenn so viel war die Ewigkeit,
Hätt sie doch zuletxt die Endlichkeit.
») M S D 3 2, 153.
2) M S D3 1, 67 Nr. XXVIH. Dazu Volksm&ßiges 2, 152 f. Oben S. 211.
^ Wunderhorn 2, 780.
^) Das Ander Buch Von dem Himmlischen Jerusalem. Nürnberg 1664.
S. 277 f.
424
Folgten diese Beib^ dem ImpTOTisationstypns A, so andere
YolksTeime seiner Umkehrang C.
Bier binschn a gliklichcs naies jocr,
Dos aute iscbt gncr;
Wil giute moam,
A koschte wol koam,
A schtol wol rindr,
A schtnbe wolai kindr,
A paiü wol gant,
A schtomraichai pTant^).
Dat sünd pnndlnarrsche Dinge,
Dai ick dick jetznndr singe:
In de Welt gaiht kuntrbunt,
Daer iß krank tm daer jesund,
Daer iß pucklich, daer iß glaich,
Daer iß arm un daer iß raich').
Behüt uns Gott vor theurer Zeit,
Vor Maurern und vor Zimmerlent,
Vor Advokat und Pföndungsgsind,
Vor Allem, was den Bauern schindt,
Vor Hagel, Wasser und Feue^ahr,
Behttt o Herr uns immerdar.
Und gib uns unser täglich Brod,
Dann singen wir: Gelobt sei Gott')I
Gott verschone mich, zu kttssen,
Gott behüte mich, zu herzen,
Gott bewahr mich zu umfangen.
Zu umfassen, zu umarmen
Ein steinaltes, knochendürres
Mütterlein mit steifen Gliedern,
Schlaffer Brust und welkem Leibe,
Dünnen Schenkeln, dürren Hüften,
HumpelfÜßen, Zitterknieen,
Schaukelnd-klappemden Gelenken,
Ganz erkaltet-starrem Körper:
Gott vergönne mir zu küssen,
Gott bescheide mir, zu herzen,
^) Hauffen, Die deutsche Sprachinsel Gottschee. Graz 1895. S. 337.
Nr. 102. Neujahrswunsch. Nachweise S. 70. Anm. 1.
3) We gener S. 230. No. 788.
3) von Hörmann, Haussprüche aus den Alpen 1,99. Haus am Fuß
des Zirbitz-Kogels. Ähnlich in Schwaben: Marterl 2. Sanimlung. München.
Schupp. 0. J. S. 6. n. 0.
425
Gott bescher mir zu umfangen,
Zu umfassen, zu umarmen
Ein blutjunges, gar geschmeidges
Mägdelein mit weichen Gliedern,
Straffer Brust und festem Leibe,
Vollen Schenkeln, starken HUften,
Leichten Füßen, runden Knieen,
Kernig-schmiegsamen Gelenken,
Ganz erglühend-warmem Körper i).
Bei andereD, besonders jüngeren Gebilden dieser Art ist es
zweifelhaft, ob nicht schon gefestigte Kunstübung auf die Ab-
rundung des Ganzen eingewirkt hat. Z. B.
Söven Dören tho Marien Karke,
Söven Straten von dem groten Markede,
Söven Dören, so da gähn to Lande,
Söven KöpmannsbrUggen an dem Strande,
Söven Toren, so up dem Rathhuse stahn,
Söven Klocken, so da gliken slan,
Söven Linden up dem Rosengarden,
Dat sint der Rostocker Kennewarden.
His accedunt:
Söven Stender an dem Kake,
Söven Steine under dem Finkenblocke ^).
Hätt ich gleich die ganze Welt,
Alles Silber, aUes Geld,
Grade Glieder, gesunden Leib,
Und dazu ein hübsches Weib,
Erd und Himmel auch dabei,
Wüßt ich doch, was besser sei^).
Andrerseits wird der Vierzeiler, wie er organisch mit kleineren
Beiben zusammenhängt, regelrecht improvisatorisch fortentwickelt.
Abgesehen von früheren Beispielen, mögen noch einige von
typischer Beschaffenheit den Ausbau des Versgebildes veranschau-
lichen.
*) Altmann, Runen finnischer Yolkspoesie S. 44.
*) Handwerksspruch, der die Wahrzeichen Rostocks enthält. Schule r-
Lübbon 2, 445. Dazu Verhandlungen der 30. Versammlung der Philologen und
Schulmänner S. 91 f.
^Wegener, Volkstümlich^ Liede;: g. ^40. Nr, 487. ^fttsel.
426
Der Jurist mit seim Buch,
D^r Jud mit seim Gesuch,
Und was unter der Frauen FUrtuch:
Dieselben 3 Gschir
Machen die ganze Welt ir^}.
Ist hier durch Zerlegung der 4. Zeile (wie bei der Dumka)
eine fünfgliedrige Beihe entstanden, so führt (wie beim Pantun)
der Variationstrieb in der Improvisation leicht zum Sechszeiler.
In der vom Jahre 1411 datierten Handschrift 4142 der Wiener
Hofbibliothek steht der an Preidanks Vierzeiler (85, 5—8) ge-
lehnte Schreibervers:
Wer auf pulen pawet,
und hurrcn wol getrawet,
und in ein sack kauffet,
und sich mit den kalen rauffet:
an den vier dingen
nimant mag gewinnen^).
Der Sechszeiler geht auch aus organischem inneren Wachs-
tum hervor/
Ach, du leewer Tied:
Wat iss de Welt so wied,
Wat iss de Himmel hoch,
Wat iss de Eer sied,
Wat iss de Pisputt enk:
Wenn ick dat recht bedenk^.
Bemächtigt sich nun noch bewußte Kunst mit rhetorischen,
syntaktischen, stilistischen und sonstigen Absichten der Stegreif-
reihen und Stegreifmotive, so ist die Möglichkeit gegeben, Sprüche
lawinenartig anschwellen zu lassen.
^) von Hörmann, Haussprüche in den Alpen 1, 112. Als Inschrift
des 15. bis 16. Jhs. in Wasserburg mit der oft beschriebenen bildlichen Dar-
stellung. Ursprünglich ist nicht der Jurist, sondern der Pfaff mit dem Buch
genannt. Heinrich Teichner bei Karajan S. 160 Anm. 254. Die Leipziger
Hs. 1590 (Germania 1888, 169) gibt ebenfalls einen Fünfzeiler:
Ein pfaf mit dem puch,
Ein jud mit dem gesuch
Ein focz unter dem duch,
Ein fisel in der bruch:
Die machen in der weit großen fluch.
Zingerle S. 108.
3) Bl. 187. 3) Wegener, Volkstümliche Lieder S. 281. Nr. 791.
427
In diesen Grenzen hält sich die Ausgestaltung der priamel-
haften längeren Reimpaar -Reihen, die jetzt in ihrer Entwickelung
bis zum 15. Jahrhundert, bis zum Auftreten Bosenplüts, kurz
durchmustert werden müssen.
Im Priesterleben hat Heinzel die Verse 316 fif. als Zutat
eines Interpolators ausgeschieden^). Ein Sechszeiler könnte ge-
lautet haben: .^ . , ^ ,. . ^ *
Den ir laster liebet mere,
unt mit unrecht guot gewinnent,
unt boese gelust sere minnent,
unt die nicht mugen vcrlan,
unt unredlich vor got wellent stän:
die habent selbe die urtäil über sih gitän^).
Wenn Zeile 1 und 4 oder 3 fehlten, würde ein guter vom
Interpolator vielleicht erweiterter, Vierzeiler gewonnen. Analytisch
verfährt Wernher von Elmendorf, wenn er drei Eigenschaften
aufzählt, die der Batgeber besitzen soll.
Dri Sachen boren an den rat,
da by alle tugent nu stat:
daz eine daz is ere, daz ander frome,
das dritte, wi man dozu kome,
daz man durch liebe noch leyde
ere und frome ummer nicht gescheyde^).
In beiden Fällen ist der Inhalt nicht recht priamelhafk.
Eine bloß stilistische oder syntaktische Form ohne bestimmten
eigenen Inhalt ist aber noch kein Literaturobjekt, sondern gehört
in die Stilgeschichte. Ausgaben mit ihren Anmerkungen und
Exkursen mögen darüber Auskunft geben. So lange Form und
Inhalt keine engere, wirkliche Vereinigung eingehen, zerfließt und
zerflattert das Phantom des Gegenstandes in alle Winde. Trotz-
dem hat man sich den unterschied zwischen stilistischer Form
und literarischer Gattung nicht immer klar gemacht. Wilhelm
Grimm und Adelbert von Keller wiesen auf Beispiele aus
^) Heinzel bezeichnet S. 153 die priamelhaften Yerse 319 ff. als Ge-
meinplätze, einen bekannten Spruch. Wilmanns, Beiträge 1,60.
2) Voran gehen die Worte 316 ff.:
als wir Bedam beeren jehen
unt noch hiute mugen sehen
an siner süzzen lere.
3) 83 (Z. f. d. A. 4, 284 ff.)
428
Prosa und Epik Ud, in denen die SatzsteUnng an Priamelform
erinnert. Grimm zitierte neben den Havamal: Berthold Ton
Begensbarg, Beinbot Ton Dnrne, die Fabel Tom Wolf in
der Schale, Spervogel, Beinmar, Freidank nnd Hugo Ton
Trimberg, ohne einen Unterschied zwischen Poesie und Prosa
oder poetischer Oattang zu madien^. ,Die Priamel^ war ihm
also nur eine stilistische Form') ein umstand, der für die seinen
Angaben Folgenden von verhängnisvoller Bedeutung geworden ist
und der es ohne Zweifel am meisten verschuldet hat, daß bis
heute Unklarheit darüber geblieben ist. Noch wichtiger für
Grimms Stellung zur Geschichte des Priamels ist es, daß er
in dem klassischen Priamel nur tadelnd Überfullung gesehen zu
haben scheint. Freilich konnten viele der Beispiele Eschen-
burgs, die ihm allein zu Gebote standen, wohl zu solchem Urteil
verleiten. Wenn nun gar die Anapher schon ,die PriameP aus-
machen soll'), dann hat fast jeder mittelhochdeutsche Autor
einmal ,eine PriameP gemacht. Aufzählungen lassen sich eben-
falls überall auftreiben. Selbst Neidhart zählt wohl einmal dreierlei
Leid (78, 11 ff) oder dreierlei Schaden (99, 15 ff.) auf; in der
Spruchdichtung übt die aufzählende Häufung im Verlauf der
Zeit allmählich formsprengende Herrschaft^). Man hat wieder-
holt auf eine Jweinstelle (3350 ff.) hingewiesen. Boethe nennt
sie und eine Walther -Strophe^) (80, 19) in ihrer Wirkung
bessre Priameln, als Beinmars strenger gebaute Sprüche.
Sehen wir von der Waltherstelle ab, so ist bei Hart-
mann offenbar nur die syntaktische Form in ihrer Ähnlichkeit
mit dem Typus A des Priamels berücksichtigt, nicht der Inhalt,
nicht die Gattung^. Gerade der höfischen Dichtung scheint
») Freidank S. CXXn. Keller, Schwanke» S. 9.
») er behandelt sie dementsprechend in dem Kapitel: Äußere Form.
') Uhl, Die deutsche Priamel S. 304. Über Anapher und Priamel in
der mittelhochdeutschen Spruchdichtung hat grundlegend Boethe, Beinmar
von Zweter 8. 295 ff. 173 ff. 146 ff. gehandelt.
^) Boethe, Beinmar von Zweter S. 317.
^) „trotz ihrer überlockern Form, trotzdem sie Priameln gar nicht sein
wollen**. Beinmar von Zweter S. 246.
^) Dasselbe gilt von der meist bombastischen Bhetorik BeinbotsYon
Durne 715 ff. 748 ff. 1047 ff. 1069 fl. 1188 ff. 3668 ff. 3960 ff., SteUen, die
W. Grimm offenbar im Auge hatte.
429
der deutliche Anklang an die „eminent volkstümliche" Form des
Priamels, wie wir uns beim Vierzeiler überzeugten, unbequem
gewesen zu sein. So wäre denn Singe rs^ Frage: „Liegt Par-
zival 241, 26 ff. etwa eine der vielen Priameln von vergeblicher
Arbeit (ühl 306. 307. 361.) zugrunde?« in unserm Sinne aller-
dings zu verneinen. Man vergleiche nur die Fassung:
min arbeit ich gar verlUr,
op den min msere drunge:
ich sagte oder sunge,
daz ez noch paz vernseme ein boc
odr ein ulmiger stoc.
Formell bieten diese Verse gar keine Handhabe zur Annahme
eines Priamels, und ein inhaltlich entsprechendes Verschen ist
nibht erhalten.
Erst der bürgerliche^ Ron r ad von Würzburg gibt form-
losen priamelartigen Reihen Baum, die das Motiv des Erforder-
lichen anschaulich variieren und antithetisch den Gedankengang
abschließen lassen.
swer ander kunst bewseren sol
den jungen und den alten,
der muoz geziuges walten
und helfericher stiure,
mit der sin kunst gehiure
miig an daz lieht gefliezen.
und sol ein schütze schiezen,
er muoz han bogen unde bolz,
kein snider lebt so rehte stolz,
der sine kunst bewsere,
gebristet im der schsere^)
da mite er schr6te ein edel tuocli.
ein kurdiwaener wsehen schuoch
nach lobelichen sachen
mac niemer wol gemachen,
hat er niht dien unde borst,
nieman des wilden waldes vorst
in akes mac gehouwen.
swer durch die werden frouwen
riliche sol tumieren,
^) Abhandlungen zur germanischen Philologie. Festgabe für R. Heinzel.
Halle 1898. S. 422.
9) Kolm. Hs. 22, 22.
430
den inttezm sdione sieiai
ros unde wapenldeider.
j6 darf er wol ir beider,
sol im sio vnmwe Digen.
taanbaren, harpfen, g^en
bedfirfen onch gexiuges woL
swax kfinste man eht dugen sol,
die m&ezen han geröste,
mit der si von der brüste
ze liebte kfiimen dringen,
wan sprecben nnde singen:
diu zwei sint als6 tngenther,
daz si bedürfen nibtes mer
wan Zungen onde sinnes*).
Die Moralisatio der Fabel vom Wolf in der Schule fördert
ebenso wohl priamelhaffcen Inhalt zu Tage, aber die Formgebung
ist individuell.
Diz bispel Temement wol.
swer den wolf leren sol,
und den esel ze tanze gan,
und daz rint die scbellen slan,
und einen unverstanden man,
der nibt enweiz noch enkan,
bringen von sinem site,
da er ist erwahsen mite:
der muoz biz an sinen tot
Ifden äugest unde n6t^).
Was Freidank an längeren, über den Vierzeiler hinaus
gehenden, priamelartigen Sprüchen der Bescheidenheit einverleibt
hat, lehrt, daß es keine dieser Sprucliarten zu dauernder kano-
nischer Geltung hat bringen wollen oder können. Dadurch wird
Wackernagels Meinung widerlegt, der Freidank es glaubte
zuschreiben zu müssen, daß die sogenannte Priamel die Lieblings-
form der deutschen Sittensprüche geworden ist^). Es kommt
folgendes Spruchmaterial in Betracht.
*) Troj. 102 ff. Vielleicht ahmt Hermann Fressant im Prolog seiner
Novelle Konrad nach; eine priamelhafte Wirirang ist, wie der Bau lehrt,
offenbar nicht beabsichtigt.
^) Wackernagel, Lb. I^ 824. Geschichte der deutschen Literatur
1 3 3G0. A. 61.
3) Wackernagel -Martin I^ 360.
431
Für die Verse vom Almosen ist oben Kap. IV S. 104 eine
orientalische Quelle zu gunsten der patristischen abgelehnt. Der
priamelhafte Charakter dieses Sechszeilers ist, wie die Form be-
weist, recht zweifelhaft:
Vier gr6ze loene almuosen hdt:
als VTÖ der ist, der ez enpfät,
als vil sin ist, des man da git,
als dürft sin ist in hungers rit:
swerz git mit guotem willen dar,
dem werdent die vier loene gar*).
Seine Selbständigkeit stützt mnl. Überlieferung:
Vier grote loene dalmoesen heeft:
Si verblijdt dien mense gheeft;
Hi es blide diese mach gheven;
Si verbluscht die sonde ende linghet leben.
Soe wiese ghevet onstelike,
Hie heeft dese IUI sekerlike^).
Demselben kirchlich-theologischen Gedankenkreise gehört die
Vorstellung von den drei Straßen an, die zur Hölle führen:
Zer helle dri straze gänt,
die zallen ziteu offen stant.
derst einiu, swer verzwivel6t:
des sele ist ewecliche t6t.
diu ander ist, swer übele tuot,
unt er sich dannoch dunket guot.
diu dritte ist breit unt s6 gebert,
daz si diu werlt gemeine vert^).
Deutlicher im Ausdruck, noch verschwommener in der Form
ist hier der strophische Heidelberger Freidank:
Vil stige hin zer helle gat,
der aller möhte werden rdt,
wan daz ich vürhte drie breite straze.
Derst einiu swer durch gr6zen zorn
verzwivelt, der ist gar verlorn,
daz kumt von starken sUnden äne maze.
^) 39, 10. W. Grimm, Kleinere Schriften 2, 465 f. In der Interpunktion
bin ich von Grimm abgewichen. Die zweite Ausgabe liest ,sö grozen lon^,
ohne dem verunglückten Spruche aufhelfen zu können. Zur Sache Pfeiffer
S. 183f. Renner 2376ff. Boner 27,40. Vintler 1983ff. LoewerS.36.
^ Suringar, Rijmspreuken 2, 207. Nr. 2.
3) 66,5. Pfeiffer, Freie Forschung S. 180.
432
Diu ander ist swer missetuot
und er sich dannoch dunket guot
diu dritte ist swer sUndet üf gedingen
und trcestet sich unstseter jugent, dem mac Wol misselingen ^).
Wie man auf drei Straßen zar Hölle fährt, gewinnt man in
dreierlei Weise das Himmelreich:
Man gewinnetz himelriche
in drf wis ungeliche.
einer ez mit gewalte hat,
der sich selben varen Idt.
der ander sich ze himele stilt,
der guot ist, und daz s^re hilt.
der dritte koufetz äne strit,
der eigen umb almuosen gtt^}.
Als Quelle hat L 0 e w e r (S. 37) eine Stelle des h. Bernhard
von Clairvaux nachgewiesen').
Auch bei folgendem Beispiel analytischen Aufbaus ist der
Priamelcharakter zu bezweifeln.
Ich erkenne drier slabte n6t,
daz vierde daz ist fröuden t6t.
in jugende kiusche, daz tuot we;
milte in armuot trüret me;
swen hungert, ob erz ezzen lät,
so er vil guoter spise hdt;
unt sinen vtent minnen' sol:
disiu vieriu tuont niht woH).
0 a. a. 0. 218. Zu Vers 1 : Willehalm 38, 26.; Vers 5: Germania 10, 340.
2) 66, 13 ff.
3) Vier Straßen zum Himmelreich bei Wernher vom Niederrhein 70, 6.
*) Paul 2114. Grimm 127, 22. Zur Aufzählung durch Addition:
Buch der Rügen 1533 ff.
Wir müezen alle des yerjehen
daz man vrowen übersehen
sol von drin Sachen:
daz wil ich war machen,
ich wil die sache nennen
daz man sie mac erkennen.
von zwein Sachen sol man Srn
vrowen und ir lop mem;
die dritte sache erbarmet mich,
wan si ist erbärmeclich.
Der lateinische Text 993 £f. hat diese Aufz&hlung zu Anfang nicht. Benner
20609 flf.
m
Im Inhalt gibt sich recht wenig geistliche Gesinnung kund.
Der Ausdruck bei jedem der vier Dinge ist auf eine Antithese
aufgebaut, die später so oft die Seele des Priamels ist^).
Wichtiger als diese Spuren analytischer Priamelform in der
Bescheidenheit sind die Spuren der synthetischen^).
Aus einem in Handschriften der zweiten Ordnung erhaltenen
Priamelvierzeiler ist der Sechszeiler entwickelt:
Swer niht weiz unt niht vräget,
unt niht kan und in lerns betraget,
unt die kunst, die er di kan,
ze lernenne nieman gan,
unt hazzet den, der rehte tuot:
disiu vieriu sint t6ren muot^).
Echt volksmäßig ist der Inhalt folgenden Spruches:
Als der sieche den gesunden labet,
unt der t6te den lebenden begrabet,
unt man verfluocht der saslden kint,
unt segent die verfluochet sint:
so sult ir wizzen äne strtt,
daz uns wil komen des fluocbes zit*).
Der mnl. Spruch ist wieder nicht priamelhaft:
Alse de sieke den ghesonden laeft
Ende de doede den levenden graeft,
Soe seid! weten sonder strijt,
Dat hier naect een ander tijt^).
^) Aufzählungen zweier oder mehrerer Dinge ohne sicher priamelhaften
Charakter sind nicht selten: 3, 27. 10, 7. 10, 17. 14, 20 (drei Bestimmungen
der Messe). 19, 7. 19, 25. 21, 1. 27, 1. 27, 5. 27, 21. 31, 2. 33, 12. 48, 1. 75, 18.
109,14. (Suringar, Rijmspreuken 2, Nr. 18.) 130, 18. 134,6. Vergl. 178, 14.
^) Aus Grimms Stellen muß allerdings ein Beispiel blasser Anapher
ausgeschieden werden 170, 14 — 171, 2. Benner 7311 ff. Anaphorische
Reihen: 30, 1. 67,1. 164,5. 165,21. Nur syntaktische Figur liegt 44, 17
und 29, 16 vor.
8) 78, 17. Wenn Grimm Vers 19. 20 im Hinblick auf 15. 16 für einen
unechten Zusatz h<, schließen wir aus der Wiederholung auf die Selb-
ständigkeit des Spruches. Paul S. 11. Oben S. 289.
*) Paul 1615. Grimm 133, 27. Von Grimm als unecht ausgeschieden.
Nur in Hs. a yorhanden. Zum Inhalt U hl and, Volkslieder 3 3, 165 ff.
Palaestra 4, 21.
'') Suringar, Rijmspreuken 2,261. Nr. 88.
Ealing, Priamel 28
Wenige Sprache entwickeln den Typus B; so der Spmch
Ton der Minne im Alter:
Alter finte miime hit
drf rinwe, fwiex cigsU:
m rimret dax en koufen mnot,
in rimret ir nnwerder gnioc,
in rinwet, swenner sichs renUd,
dax er die sei Tersfindet luU^).
Eine mit den Worten künstlich spielende Steigerung weist
der internationale Spruch auf:
Swer Übel wider ttbel tnot,
das ist menneschllcher mnot
Swer gnot wider fibel taot,
das ist götelicher nraot
Swer taot fibel wider gnot,
daz ist tiuvelfcher mnot^.
Wirkungsvoller scheint die Steigerung, welche im Spruch
von Sorgen mit komischem Effekt unsre Erwartung täuscht:
Der vrume sorget s6re
umbe Hute, guot und 6re,
der minnaer umbe minne,
der gUige umbe gewinne:
der t6re sorget alle tage
wie er brlen genuoc bejage*).
Daß aber dieser Effekt nicht empfunden wurde, lehrt die
mnl. Fassung:
Die vroede man zorghet sere
Om goet| lof ende om ere:
Die mint sorght om minne
Entie ghierege om ghewinne^).
Wir tragen also wahrscheinlich etwas in diese Sprüche
hinein, was nicht darin liegt. Kunstvollere größere Formen ge-
^) 51, 17. Dazu die mangelhafte Fassung aus der Straßburger Hand-
schrift Ton 1385 bei Grimm, El. Sehr. 4,67. Freidank 98, 18. Benner
21006 ff. Thomasin 1221 ff. Boner 39, 89f.
s) 107, 2. Paul 1143. Bergmann, LaPriamele S. 24. Yergl. Benner
28882. Bon er 69, 45.
») 58, 17. Paul 1897 c. Zingerle S. 145.
^) Suringar, Bijmspreuken 2, 276. Nr. 113.
435
lingen nicht recht, wie in folgendem durch die Parenthese be-
einträchtigten Spruch:
Stt beide vater unde kint
ein ander ungetriuwe sint,
unt bruoder wider bruoder strebet,
unt mÄc mit mige Ubele lebet»
unt sich diu werlt noch allesamt
nekeiner slahte sUnde schämt:
swie vil man triuwe brichet,
daz die nu nieman riebet
(roup unt brant sint ungeriht,
man vUrhtet kttnec noch keiser niht:
sehte unt ban sint t6ren spot,
man Ut durh sie niht noch durh got):
sit roemesch Ire siget
und ungeloube stiget:
so sult ir wizzen dne strit,
uns kumet schiere des fluoches zit*).
Lehrreich ist wieder die mnl. Überlieferung:
Tusschen vader ende tkint
Men dicke ontrouwe rint;
Een bruder den andern bestrijt;
Deen maech den andern benijt.
Besiet de werelt al te samen;
Ghine siet hem niemen sonde scamen").
Auch Suringar ist mit der Bezeichnung Priamel verschwen«
derisch, wenn er bemerkt: ,,De vertaler geefk hier slechts de
zes eerste regeis van Freidanks zestienregelige priamel.^
Motive, in deren virtuoser Verarbeitung die spätere Priamel-
dichtung ihre höchsten Leistungen aufzuweisen hat, sind in der
Bescheidenheit ganz unbenutzt geblieben: in ungeordneter Häufung
liegen die Materialien neben einander ausgebreitet^).
Freidanks Zeitgenosse Thomasin von Circlaria stand
volksmäßiger Oberlieferung ferner, ohne sie zu verschmähen^).
Ihm fehlt die naive Freude des Volkes an den einfachen Mitteln,
«) 46, 5. «) Suringar 2, 264. Nr. 78.
3) 88, 15 ff. 126, 9 ff. (Verlorne Arbeit).
^) Freidanks Bescheidenheit kennt er wohl. Schönbach, Die Anf&nge
des d. Minnesanges S. 63. 72. Vgl. noch Bückert za 357. 891. 1641. 1875.
2258. 2468. 10194. 11101.
28*
436
mit denen das Priamel wirkt; gelehrte Bildung, Stand und fremdes
Volkstum hinderten eine wirkliche Würdigung und Aneignung
jener Improvisationsform. Deshalb war selbst der Vierzeiler im
Welschen Gast überall von des Gedankens Blässe angekränkelt
und verkümmert. Der Sechszeiler ist mehr rhetorisch als
priamelhaft:
d6 da£ xnosgras
her abe id dem mose was
und d6 die schamel nider lägen
und d6 wir h6her tische phlagen
und niderre benke, wiuet daz,
daz diu werlt d6 stuont baz^).
Die stelle bezieht sich auf Vers 6426 ff.
Bloßer Aufzählung dient der Sechszeiler:
an drin dingen man haben sol
schäm, swer ir wil phlegen wol:
ein, daz man niht spreche unere,
diu ander, daz man habe die lere
daz man gebär reht unde wol,
diu drite, daz man tuo daz man ^ol*).
Andre ähnliche Aufzählungen (z. B. 3444 ff. 3930 ff. 4471 ff.
13001 ff.) weisen ganz zerfließende, teils schon kaum mehr oder
gar keine priamelartige, Form auf.
Gelegentlich stellt sich ein priamelartig gebauter Drei- oder
Ffinfzeiler ein:
vorht, n£t« haz und girescheit,
lieb, leit, milt, erge und zorui
hänt ir gebserde niht verlorn').
Ebenso individuelle Form, aber angemesseneren Inhalt hat
der Ffinfzeiler:
swer gtt dem trunken manne win
und dem derz vieber hdt
wazzer und dem kinde den grät
und dem tobenden daz swert,
er hdt si alle übel gewert ^).
Das ist alles, was Thomasin im besten Fall dem Priamel
zu verdanken scheint. Die beiden Klassiker der mittelhoch-
deutschen Lehrdichtung, Scherer nennt Freidank und Thomasin
- -
>) 6467 flf. 3) 193 flf. 3) 924 ff. *) 14 612 flf.
437
so ^), verhalten sich also ganz verschieden gegenüber dem Priamel.
Während Frei dank die echteste Form des Priamels bezeugt,
ist Thomasin zu wirklicher Erfassung der volkstümlichsten aller
Dichtungsformen nicht durchgedrungen. Wie nahe lag oft diese
Form in Stellen wie:
Man Iset vil selten di untugent,
was man dran stsete in der jugent.
swenne des obezes niem§r ist,
s6 vert daz kint xuo der vrist
in. dem boumgarten hin und her;
sin gelust wirt michels mer.
dem spiler tuot daz spiln baz,
swenner nien hdt, wizzet daz.
dem vraze ist nach ezzen not;
der trinker ist ndch trinken tot:
swenner niht ze trinken hslt,
so wil ers dan niht haben rdt.
alsdann dem alten manne geschiht:
er kan sich enthaben niht
der Undinge^) u. s. w.
Eine Neigung zu geschwätziger Rhetorik verdarb alles. Rhe-
torische Mittel') sind die Hauptwürze seiner Verse. Aber ge-
reifte Bildung gestattet ihm auch geschmackvolle, höheren An-
sprüchen genügende Behandlung abstrakter Themata. Davon
zeugt die treffliche Stelle von der ünstäte dieser Welt.
Wie der priamelhafte Vierzeiler^), so wird auch der Sechs-
zeiler in der Didaktik der Tischzuchten gebraucht. Kon r ad
von Haslau sagt im Jüngling 613 ff.:
Swer die üz tränke wil verwazen,
und wil der unzaht sich niht mäzen,
der br6t brichet unde rert
ond in urloup in daz trinken mert
und schütet daz br6t zno den fÜezen:
der solt mir daz vil billich bUezen^).
') Geschichte der deutschen Literatur S. 223. Man könnte übrigens
daran denken, ob nicht Hugo yon Trimberg dem Thomasin diesen
Platz streitig macht.
2) 165 flf.
^ Rhetorische Fragen mit ,zwiu' 4229. 4237. 5317. u. o. mit ,waz hilfet'
4275. ,wä mit' 6325. 6409. H&ufungen 9899 ff. 10 079 iL
*) S, oben S. 296 ff. ») Z. f. d. A. 8, 569.
438
Bis auf Abraham a Santa Clara finden sich in didaktischer
österreichischer Literatur mit Vorliebe lebhafte lange priamel-
hafte Aufzählungen, vielleicht auf der Predigt beruhend, sicher
der geistigen Lebendigkeit des österreichischen Naturells besonders
zusagend. Ein virtuoses Beispiel solcher geradezu genialer
Sprachgewalt lieferte die Bamberger Beschreibung von Himmel
und Hölle. Nicht minder gewandt ist der wahrscheinlich dem
Predigerorden angehörende^) Verfasser der Sermones nulli
parcentes, der die vierzeiligen durchgereimten Strophen gern
durch lange Kataloge durchbricht^). Der deutsche Bearbeiter
jener Sermones zeigt ebenso Vorliebe für solche Listen, die aber
stets priamelhaft, bisweilen nicht ohne Wirkung abschließen.
Nur sechs Zeilen eröffnen das Kapitel vom Schergen und seinen
Gesellen (1411 ff.):
Den Schergen und den wuocherser,
litgeb unde spilser,
den diup und den schächman,
den huorer und den rifflän
heizet loufen bi der zit,
daz in der vient ir 16n git^).
Die lateinische Vorlage, das 24. Kapitel Ad praecones et
socios suos hat die Aufzählungen, aber nicht den kurzen Abschluß
vorgebildet. Außerdem ist die Konstruktion und Situation gegen
Ende eine ganz andere, wenn es da heißt (Vers 929 ff.):
Post haec dicite praeconi,
usurario, cauponi,
lusori, furi et latroni,
feneratori et lenoni:
Mandat daemon, ut eatis
ad infemum cum damnatis,
cui fidem conservatis
atque bene militatis.
Die einfache Strophe des lateinischen Originals:
quibus si confabulatur,
peto solum os loquatur
et non manus comprimatur,
nam sie deus non laudatur
gibt der deutsche Bearbeiter so wieder:
1) Karajan Z. f. d. A. 2, 10.
^ 613—648. 825—840. 985-992.
^ Vgl. Freidank 75,5a— 5 d. Suringar, Bijmspreaken 2. Nr. 6.
42i)
der dentliclie Anklang an die „eminent volkstümliclie'' Form des
Priamels, wie wir uns beim Vierzeiler aberzeugten, unbequem
gewesen zu sein. So wAru denn Singers^) Frage: „Liegt Par-
zival 241, 26 ff. etwa eine der vielen Priameln von vergeblicher
Arbeit (Ubl 306. 307. 361.) zugrundu?" iu unserm Sinne aller-
dings zu verneinen. Man vergleicbe nur die Fassung:
mtn arbeit ich gar vorlllr,
op den m!n meere drunge'.
ich sagte oder »ung«,
äai ex noch pai vernseme ein boc
odr ein ulmiger sloc.
Formen bieten diese Verse gar keine Handhabe zur Annahme
eines Priamels, und ein inhaltlicb entsprechendes Verschen ist
nicht erhalten.
Erat der bürgerliche-Konrad von Würzburg gibt form-
losen priametartigen Beihen Kaum, die das Motiv des Erforder-
lichen anschaulich variieren und antithetisch den Gedankengang
abschlieBen lassen.
5 wer ander kunst bewxren sol
den jungen und den alleo,
der muoi geziuges wallen
und helferlcher stiure,
mit der s(n kunst gehiure
mllg an daz lieht geflieien.
und so] ein schütte schieien,
er muoi hän bogen unde boli.
kein snider lebt so lehle stolz,
der stne kunst bewaere,
gebrislet im der ichEere'j
da mite er schrote ein edel luoch.
ein kurdiwxner wxlien schuoch
nach lobelfchen Sachen
') Abhandlnngen stu
e 1898. S. 422.
■) Kolm. Hb. 22, 2'.
428
Prosa und Epik hin, in denen die Satzstellnng an Priamelform
erinnert. Orimm zitierte neben den Havamal: Berthold von
Begensburg, Beinbot von Durne, die Fabel vom Wolf in
der Schale, Spervogel, Beinmar, Freidank und Hugo von
Trimberg, ohne einen unterschied zwischen Poesie und Prosa
oder poetischer Gattung zu machen*). »Die Priamel' war ihm
also nur eine stilistische Form^) ein umstand, der für die seinen
Angaben Folgenden von verhängnisvoller Bedeutung geworden ist
und der es ohne Zweifel am meisten verschuldet hat, daß bis
heute Unklarheit darüber geblieben ist. Noch wichtiger für
Orimms Stellung zur Geschichte des Priamels ist es, daß er
in dem klassischen Priamel nur tadelnd Überfüllung gesehen zu
haben scheint. Freilich konnten viele der Beispiele Esc he n-
burgs, die ihm allein zu Gebote standen, wohl zu solchem Urteil
verleiten. Wenn nun gar die Anapher schon ,die Priamel* aus-
machen solP), dann hat fast jeder mittelhochdeutsche Autor
einmal ,eine PriameP gemacht. Aufzählungen lassen sich eben-
falls überall auftreiben. Selbst Neidhart zählt wohl einmal dreierlei
Leid (78, 11 flf) oder dreierlei Schaden (99, 15 flf.) auf; in der
Spruchdichtung übt die aufzählende Häufung im Verlauf der
Zeit allmählich formsprengende Herrschaft^). Man hat wieder-
holt auf eine Jweinstelle (3350 ff.) hingewiesen. Boethe nennt
sie und eine Walther-Strophe ^) (80, 19) in ihrer Wirkung
bessre Priameln, als Beinmars strenger gebaute Sprüche.
Sehen wir von der Waltherstelle ab, so ist bei Hart-
mann offenbar nur die syntaktische Form in ihrer Ähnlichkeit
mit dem Typus A des Priamels berücksichtigt, nicht der Inhalt,
nicht die Gattung^). Gerade der höfischen Dichtung scheint
>) Freidank S. CXXII. Keller, Schwanke » S. 9.
^) er behandelt sie dementsprechend in dem Kapitel: Äußere Form.
3) Uhl, Die deutsche Priamel S. 304. Über Anapher und Priamel in
der mittelhochdeutschen Spruchdichtung hat grundlegend Roethe, Beinmar
von Zweter S. 295 ff. 173 ff. 146 ff. gehandelt.
*) Boethe, Beinmar von Zweter S. 317.
5) „trotz ihrer überlockern Form, trotzdem sie Priameln gar nicht sein
wollen**. Beinmar von Zweter S. 246.
®) Dasselbe gilt von der meist bombastischen Bhetorik Beinbotsvon
Durne 715 ff. 748 ff. 1047 ff. 1069 fl. 1188 ff. 3668 ff. 3960 ff., Stellen, die
W. Grimm offenbar im Auge hatte.
429
der deutliche Anklang an die „eminent volkstümliche" Form des
Priamels, wie wir uns beim Vierzeiler überzeugten, unbequem
gewesen zu sein. So wäre denn Singers^) Frage: „Liegt Par-
zival 241, 26 ff. etwa eine der vielen Priameln von vergeblicher
Arbeit (Uhl 306. 307. 361.) zugrunde?« in unserm Sinne aller-
dings zu verneinen. Man vergleiche nur die Fassung:
min arbeit ich gar verliir,
op den min msere drunge:
ich sagte oder sunge,
daz ez noch paz vernseme ein boc
odr ein ulmiger stoc.
Formell bieten diese Verse gar keine Handhabe zur Annahme
eines Priamels, und ein inhaltlich entsprechendes Verschen ist
nibht erhalten.
Erst der bürgerliche • Kon r ad von Würzburg gibt form-
losen priamelartigen Beihen Baum, die das Motiv des Erforder-
lichen anschaulich variieren und antithetisch den Gedankengang
abschließen lassen.
swer ander Icunst bewseren sol
den jungen und den alten,
der muoz geziuges walten
und helfericher stiure,
mit der sin kunst gehiure
mUg an daz lieht gefliezen.
und sol ein schütze schiezen,
er muoz han bogen unde bolz,
kein snider lebt so rehte stolz,
der sine kunst bewsere,
gebristet im der schaere^)
da mite er schr6te ein edel tuocb.
ein kurdiwaener wsehen schuoch
nach lobelichen Sachen
mac niemer wol gemachen,
hat er niht alen unde borst,
nieman des wilden waldes vorst
an akes mac gehouwen.
swer durch die werden frouwen
riliche sol tumieren,
^) Abhandlungen zur germanischen Philologie. Festgabe für R. Heinzel.
Halle 1898. S. 422.
3) Kolm. Hs. 22, 22.
430
den rnttezen schone zieren
ros unde wapenkleider.
j6 darf er wol ir beider,
sol im sin vrouwe nigen.
tarobüren, harpfen, gigen
bedürfen ouch geziuges wol.
swaz künste man eht öugen sol,
die mUezen hin gerüste,
mit der si von der brüste
ze liehte künnen dringen,
wan sprechen unde singen:
diu zwei sint als6 tugenther,
daz si bedürfen nihtes mer
wan Zungen unde sinnes *).
Die Moralisatio der Fabel vom Wolf in der Schule fördert
ebenso wohl priamelhaften Inhalt zu Tage, aber die Formgebung
ist individuell.
Diz bispel vemement wol.
swer den wolf leren sol,
und den esel ze tanze gan,
und daz rint die schellen slan,
und einen unverstanden man,
der niht enweiz noch enkan,
bringen von sinem site,
da er ist erwahsen mite:
der muoz biz an sinen tot
liden angest unde nöt^).
Was Frei dank an längeren, über den Vierzeiler hinaus
gehenden, priamelartigen Sprüchen der Bescheidenheit einverleibt
hat, lehrt, daß es keine dieser Sprucharten zu dauernder kano-
nischer Geltung hat bringen wollen oder können. Dadurch wird
Wackernagels Meinung widerlegt, der Freidank es glaubte
zuschreiben zu müssen, daß die sogenannte Priamel die Lieblings-
form der deutschen Sittensprüche geworden ist^). Es kommt
folgendes Spruchmaterial in Betracht.
') Troj. 102 ff. Vielleicht ahmt Hermann Fressant im Prolog seiner
Novelle Konrad nach; eine priamelhafte Wirirang ist, wie der Bau lehrt,
offenbar nicht beabsichtigt.
2) Wackernagel, Lb. I^ 824. Geschichte der deutschen Literatur
12 360. A. 6L
3) Wackernagel -Martin I2 360.
431
Für die Verse vom Almosen ist oben Kap. IV S. 104 eine
orientalische Quelle zu gunsten der patristischen abgelehnt. Der
priamelhafte Charakter dieses Sechszeilers ist, wie die Form be-
weist, recht zweifelhaft:
Vier grdze loene almuosen hdt:
als vr6 der ist, der ez enpfat,
als vil sin ist, des man da gtt,
als dürft sin ist in hungers zit:
swerz git mit guotem willen dar,
dem werdent die vier loene gar').
Seine Selbständigkeit stützt mnl. Überlieferung:
Vier grote loene dalmoesen heeft:
Si verblijdt dien mense gheeft;
Hi es blide diese mach gheven;
Si verbluscht die sonde ende linghet leben.
Soe wiese ghevet onstelike,
Hie heeft dese IUI sekerlike').
Demselben kirchlich-theologischen Gedankenkreise gehört die
Vorstellung von den drei Straßen an, die zur Hölle fuhren:
Zer helle dri straze gant,
die zallen ziteu offen stant.
derst einiu, swer verzwivel6t:
des sele ist ^wecliche t6t.
diu ander ist, swer Ubele tuot,
unt er sich dannoch dunket guot.
diu dritte ist breit unt s6 gebert,
daz si diu werk gemeine vert^).
Deutlicher im Ausdruck, noch verschwommener in der Form
ist hier der strophische Heidelberger Freidank:
Vil stige hin zer helle gat,
der aller möhte werden rdt,
wan daz ich vtirhte drie breite straze.
Derst einiu swer durch gr6zen zorn
verzwivelt, der ist gar verlorn,
daz kumt von starken Sünden dne mäze.
^) 39, 10. W. Grimm, Kleinere Schriften 2, 465 f. In der Interpunktion
bin ich von Grimm abgewichen. Die zweite Ausgabe liest ,s6 grozen Ion',
ohne dem verunglückten Spruche aufhelfen zu können. Zur Sache Pfeiffer
S. 183f. Renner 2376fr. Boner 27,40. Vintler 1983 fif. LoewerS.36.
*) Suringar, Rijmspreuken 2, 207. Nr. 2.
3) 66,5. Pfeiffer, Freie Forschung S. 180.
444
Wie Bosenplüt später einmal in einem geistlichen Priamel
sagt: Gäbe es keine Hölle, keine Folgen der Sünden, dennoch
sollte man sie meiden: so meint Hugo:
Harpfen, Itren, selten klingen,
menschen stimme und vöglin singen,
wazzers wunder in siben gerihten,
der meister lere und h6hez tihten,
manic wunnecltcher lip,
den in der werlde hdt man und wip,
und manic antlUzze erliuhtet gar,
lilien unde r6sen var:
swie vi] ditz wunne hab Über al:
doch ist diu werlde ein jimertal — (226 ff.)
Hier wäre man versucht abzuschließen; aber Zusätze heben
die priamelhafte Wirkung wieder auf:
gen der wunneclichen stat
in der got gezieret hat
sfn gesinde, als6 daz wip noch man
die vröude niht durchgrttnden kan
In ähnlicher Weise heben Einleitung und Zusätze bei Vers
6817 ff. 10438 ff. 11058 ff. den Priamel-Charakter auf. In der
Periode des Verfalls unserer Kunstform wird freilich auch an
solches Verfahren wieder angeknüpft.
Einige treffliche Sechszeiler sind Hugo gelungen. Schon
Fr ei dank hatte einen Vierzeiler mit jedesmaligem ,swä' und zu-
sammenfassendem Urteil gebildet oder wiedergegeben; nach diesem
Muster verfährt folgendes, in den ersten vier Zeilen durchge-
reimte Priamel:
Swä geistliche Hute ungeistlich sint,
swä wtse sich dunkent kleiniu kint,
swä wegewiser sint selber blint»
swi der lewe muoz vürhten ein rint,
swä unreht dem rehten dröuwet:
da werdent die wtsen wSnic gevröuwet').
Wie wenig fest aber die Form geworden ist, bezeugt ein
Siebenzeiler (11203 ff.) Lockere Form hat ein Sechszeiler, der
analytisch und synthetisch zugleich ist (20 353 ff.):
») 10720 ff.
445
Mit siben dingen bUezet man
des libes siuche, swer ez kan :
vasten, undöuwen unde sweiz,
latwerge pulver kalt und heiz,
äderldzen und gctranc
machent den gesunt, der e was kranc.
Analytisch verfährt die Seligpreisung (10122 ff.):
selic ist der man, der sich des went,
daz er nich woUust sich niht sent,
nich wine, nich mete und zarter spise,
nach kurzwtle und ndch werlde prlse,
und den benUeget, des er hat,
ez st getraue, spise oder wÄt.
Einfluß der anaphorischen Fragemethode fieinmars verrät^),
wie der sogen. Seifried Helbling, vielleicht mit ausdrücklichem
Anschluß an den österreichischen Satiriker, Hugos Sechszeiler:
Waz sol der markt, den nieman suochet?
waz sol diu kunst, der nieman geruochet?
waz töhte silber unde golt
und gimme, were in nieman holt^)?
waz stün diu buoch, diu nieman list?
Diu sint noch unnützer denne mist^).
Wie oben in den Versen 10720 ff. reimen die ersten 4 Zeilen
folgenden Sechszeilers:
An wtten tanzen schcene kitel,
b! jungen meiden valsche bitel,
in samenunge valsch capitel,
in tiefen buochen valschiu titel:
bringent vil mSr schaden denne frumen,
als ich die wärheit hin vernumeni).
Ähnlich gebaut erscheinen:
Rouber oder wuocherer,
valscher, brenner, unkiu scher,
Verräter, morder, valsche rihter,
gllhsener oder gltiger:
swaz die ersparn uf ertrtch
daz vrumt in w£nic in himelrich. (16316 ff.)
») Roethe S. 247. «) vgl. den Vierzeiler 13324 ff.
^) 5 933 ff. Hugo liebt das derbe Wort: 19 630 in barocker Anwendung.
Vintler 5485.
*) 12 360 ff.
-fcrfi
Mun wpfT irk^T*' IST iii^itr:
ssesbh
Man -j^nerst: -rre rie ssTEa ^TP^rPT- ^öCl xb: ibd: ^rnngfiffr
iannoetru A^irii \nf Ten Aihrze^lHr ssreeJET äca übs T.H:aiir«u
5Inen iHcnsseiiör Fr^iiaa^ö '^til ier Minna iö t^r^KS
51. ir* Mehr ier Jirni liä inm "nhain^ aaüä mir ifflaa: Prfanri
..ST 511. 3DB •^ffff^g. ^»**'?|i
TTnit& lenÖEL sszxmwc ^
wimiiliflit. •fTi»w*jfiafi 3ini
des lihes sn ipff md ^«oi
dociL wtc ar jeites. an wnl __^
aäcii anffm ^vcffct& sv^ 'rniL sr üuc:
sr 32tLe -fannif jeuter nrnsca. .sruic^.
E.ia^^ ka^loft mit .wanne' shl.
mctrfez. tpnher. onknissxis;.
^der, üeäe imf "nnifgner,
göler, ▼«Ls^iaac; ehrten er,
bekdxr msui e <ft*rmt* wnccäficer
dmrif a=ä«r hexre Jeaos Crist.
Beide AthtzeiieT we^iien mit dem Schlagreim auf den Tier-
zeiler zurück nnd haben den Zuschnitt eines SediaeOers; die
rn^jch^heit in der Enreitenxcg der Schlußzeüen lengt dafor,
daß (lih9,e§ acbtzeilige Gebilde njch keineswegs wie im 15. Jahr-
hand^rt zu kanoni^^cher Geltrmg aasgebildet war. Gleichklingende
Al>»ira/;ta haben einen Achtzeiler Teranlaßt, den Hngo als einen
Hprnch Ah% heiligen Augastinas (18054 ff.) so wiedergibt:
Swei gedehte sins libes broedikeit
und stner sele wirdikeit
dirre wilden werlde unstitikeit
und siner sttnden unvletikeit,
der Ewigen pine unmezikeit,
der ewigen vröude reinikeit:
der hUetet sich an aller stat
vor allerhande missetit.
Einmal hat der Achtzeiler schon vollendeten Aasdruck ge-
fanden (23564 flf.) ^):
Swer 16rt ein bunten hiute schaben,
einen handel6sen stricke graben,
und durch gemach wil katzen baden,
dem kargen geste ze hüse laden,
einen lamen wil l£ren verre springen
einem t6ren vil sagen von wtsen dingen,
einem touben singen süezen sanc:
der dient in allen äne danc.
Kaum priamelhaft dürften Vorschriften sein wie Vers 1 7832 ff.
17876 ff. Eine zehnzeilige priamelartige Periode mit sehr un-
deutlicher Gliederung liegt Vers 11574 ff. vor. Ein anderer Zehn-
zeiler lautet:
swer stn diube kan verheln
und fürbaz üf ein lougen stein
und gein dem gelachen kan,
dem er den schaden hdt getan,
und den claget mit valschem munde,
des guot er zu der selben stunde
vil schentltche hat dd heime verborgen
und disen let in gr6ien sorgen,
der im nie kein leit getet:
we, wie mit grdzen eren er get*)l
Tadellosen Bau und passenden Inhalt vereinigt das 12 zeilige
Priamel Vers 15078 ff.:
Suez umbrede 4n triuwen vruht;
vil clöster vrouwen an cldster zuht;
äne gotes vorhte gr6z wirdikeit;
Sllch leben an reinikeit;
in gröze milte höhez schallen;
») Vergl. 12740if. «) 7128«:
446
knehte nnd dieme widerkallen;
manche und schuoler ungehorsam;
pfaffen nnd ritter an zühten lam;
vil geloben und lützel geben;
bt grözem lichtuom swindez leben:
sint got und vrummen Hüten unweit
in allen landen hiur als vert.
Wohl nur Zufall ist es, wenn Hngo einmal auf das vierzehn-
zeilige System verfällt. Als Qaelle nennt er diesmal ,Aagustinus/
Bistn s6 wise als Salomdn,
und onch s6 starc als her Sams6n,
s6 gar schcen als her Absoldn,
ond darzuo kfiene als G^edn,
geringe zn loufen unde snel
als der snelle man Asahll,
gewaltic als Octiviin,
riche als Cresas der riche man,
- landebic als fiiatüsalam
und Enoch den got selber nam,
und ouch künic Alexander gelich
unüberwunden und Iren rfch:
alliu din gl6rie ist enwiht,
hästu der waren minne niht*).
Zu Gründe liegt die bekannte Bibelstelle 1 Corinther 13,
1 ff. Ahnliche Form ohne priamelhaften Inhalt haben die Verse
22396 ff.
Individuelle Form haben auch seine Aufzählungen, die
in Fredigt und Traktat eine unerschöpfliche Quelle fanden.
Typisch sind die Charakteristiken des Innocentius ni, De con-
temptu mundi 2, 29 ff. Vgl. Benner 292 ff., 14106 ff., 9412 ff.
So läßt er das Gesinde des ,nides' (14 117 ff.), der ,lazheit'
(15 926 ff.), Bevue passieren. Oder er zählt mit dem Präfix ,un'
zusammengesetzte Wörter auf 9159 ff. Vergl. 8448 ff. 10239 ff.
12 740 ff. 16 110 ff. 16 154 ff. Zahllos sind Hugos anaphorische
Aufzählungen'); sie haben dadurch ein besonderes Interesse, daß
«) 20862 ff.
3) 479ff. 1898flf. 2376ff. 3118ff. 4513ff. 4822ff. 7271ff. 9881ff. 10592ff.
11952 flf. 11 714 ff. 15332 ff. 15974 ff. 17652 ff. 17698 ff. 18434 ff. 18838 ff.
20583 ff. 20671 ff. 20964 ff. 21 168 ff. 21235 ff. 21 549 ff. 22 144 ff. 23047 ff.
23323 ff. 24084 ff. Schon die eben angefahrten Aufz&hlungen waren zum
Teil anaphorisch.
449
die Nürnberger Schale des ausgebenden 15. Jahrhunderts mehrere
dieser Stellen zu Buch-Priameln umgebildet hat. Dort wird da-
rauf einzugehen sein.
Einige dieser Stellen (10315 ff.) weisen schon steigernden
Abschluß auf, den sonst die späteren Priameldichter erst hinein-
brachten. So heißt es in einem die Frauen behandelnden Ab-
schnitt 12910 ff: ^. , , , .
Minne, schätz und groz gewin
verk^rent guotes mannes sin.
Das ist sein Thema. Nun führt er aus:
Ein dinc mich gar ser eltet,
swenne sich ein arcwän speltet,
und swenne der wUrfel uneben veUet
nnd scheidet, die er vor het gesellet,
und swer unrehtem gewalte niht
mac widerstln, des vil geschiht;
vil ofte ouch dem diu dren klingent,
den Juden, rihter, erzte twingent.
sd Ht der ouch in sorgen stricke,
den sin borger suochen dicke
und er in niht vergelten mac,
der hdt unruowe naht und tac:
noch derret ein Übel unkiusch wip
vil mere irs vrumen Wirtes lip,
der si in ganzen triuwen meint
und si in untriuwen ist versteint.
Einmal verbindet er die Anaphora mit einer glücklichen
Steigerung in einem Zehnzeiler (17625 ff.):
Swer lernet kunst durch hoffart,
der hdt sfn sele niht wol bewart;
swer lernet kunst durch gitikeit,
diu kunst wirt übele angeleit;
swer lernet kunst und durch haz
die verbirgt, der ist ein nidisch vaz;
swer lernet kunst, daz er sin leben
von ir gebezzer, der vert eben :
swer lernet kunst, und die vUrbaz
lert durch got, der tuot vil baz.
Als Quelle gibt er den Meister Hugwitz an.
Ähnlich ist ein Sechszeiler gebaut (539 ff.), der wirkungsvoll
einen Abschnitt von der Hoffahrt und untreue schließt *). Auf-
0 Vgl. 8042 ff., weniger abgerundet.
Euling, Priamel 29
44d
knelite and dieme «idcrkallen;
mönche und schuoler ungehorsam;
pCsifien and ritter an zählen lam;
Til geloben and lützel geben;
bl gi&zem lichtnom swindez leben:
sint got und Trummen listen anwert
in allen landen hior als vert.
Wohl nur Ziifiül ist es, wenn Hugo einmal auf das Tierxefan-
zeilige System TerfällL Als Qaelle nennt er diesmal ,Aiigustiniis/
BistB s6 wise als Salomdo,
md oodi s6 ttaic als her SauBsda,
s6 gar schon als her AbsoldB,
md danao kfiene als Gede6o,
als der sudle man Asahä,
gewahic als Octaman,
liehe als Cresas der ridie man,
- landebiC als MatAcalam
und Enocli den got selber nam,
imd ooch lEünic Alezander gelich
mflbei w II lidm imd ercn ndi:
allin din glörie ist cnwiht,
bastn der waren minne 0011*).
Za Grande liegt die bekannte Bibelstelle 1 Corinther 13,
1 ff. Ähnliche Form ohne priamelhaften Inhalt hahen die Verse
22396 fL
Individnelle Form haben aach seine An&ählnngen, die
in Predigt nnd Traktat eine nnerschöpfliche Qaelle fitnden.
Tjpisch sind die Charakteristiken des Innocentins 111, De con-
temptn mnndi 2, 29 ff. Vgl. Benner 292 ff., 14106 ff, 9412 ff.
So läßt er das Gesinde des ,nides' (14 117 ff.), der ,lazheit'
(15926 ff.), Bevne passieren. Oder er zahlt mit dem Präfix ,an'
zusammengesetzte Wörter anf 9159 ff. Yergl. 8448 ff. 10239 ff.
12740 ff. 16 110 ff. 16 154 ff. Zahllos sind Hngos anaphorische
Aufzählungen *); sie haben dadurch ein besonderes Interesse, daß
0 208621L
9) 4791L 18981L 2376ff. SllSffl 4513ff. 4822fL 7271iL 98811L 105931L
11952 IT. 11 714 ff. 15332 ff. 15974 ffl 17652 ff. 17698 ff. 18434 ff. 18838 ff
20583 ff: 20671 ff 20964 ff. 21 168 ff. 21 235 ffl 21 549 ff. 22 144 ff 23047 ff.
23323 ff. 24 084 ffl Schon die eben angeführten AofiShlungen waren inm
Teil anaphorisch.
449
die Nürnberger Schule des ausgehenden 15. Jahrhunderts inehrero
dieser Stellen zu Buch-Priameln umgebildet hat. Dort wird da-
rauf einzugehen sein.
Einige dieser Stellen (10315 fr.) weisen schon steigernden
Abschluß auf, den sonst die späteren Priameldichter erst hinein-
brachten. So heißt es in einem die Frauen behandelnden Ab-
schnitt 12910 ff: ^. V,* ^ A
Minne, schätz und groz gewin
verkerent guotes mannes sin.
Das ist sein Thema. Nun führt er aus:
Ein dinc mich gar s§r eltet,
swenne sich ein arcwän speltet,
und swenne der wUrfel uneben vellet
und scheidet, die er vor het gesellet,
und swer unrehtem gewalte niht
mac widersten, des vil geschiht;
vi! ofte ouch dem diu Ären klingent,
den Juden, rihter, erzte twingent.
so lit der ouch in sorgen stricke,
den sin borger suochen dicke
und er in niht vergelten mac,
der hat unniowe naht und tac:
noch derret ein Übel unkiusch wip
vil mere irs vrumen Wirtes 11p,
der si in ganzen triuwen meint
und si in untriuwen ist versteint.
Einmal verbindet er die Anaphora mit einer glücklichen
Steigerung in einem Zehnzeiler (17625 ff.):
Swer lernet kunst durch hoffart,
der hat sin sele niht wol bewart;
swer lernet kunst durch gftikeit,
diu kunst wirt übele angeleit;
swer lernet kunst und durch haz
die verbirgt, der ist ein nidisch vaz;
swer lernet kunst, daz er sin leben
von ir gebezzer, der vert eben :
swer lernet kunst, und die vUrbaz
iSrt durch got, der tuot vil baz.
Als Quelle gibt er den Meister Hugwitz an.
Ähnlich ist ein Sechszeiler gebaut (539 ff.), der wirkungsvoll
einen Abschnitt von der Hoffahrt und Untreue schließt *). Auf-
1) Vgl. 8042 ff., weniger abgerundet.
Euling, Priamel 29
^50
Zählung mit traktatartiger Disposition übt auch Hugo, z. B. 16010 ff.
Vers 20 754 ff. werden die sechs Werke der Barmherzigkeit auf-
gezählt. Mit Aufzählung der acht Seligkeiten und sieben Eardinal-
tugenden verschont er uns. Dreierlei Märtyrer des Herrn (12890ff.)
und des Teufels (20898 ff.), dreierlei Grund, die Sünde zu meiden
(22796 ff. 23 322 ff.), neun Fenster des Menschen (23152 ff.) u. ä.
werden behandelt.
Ein Ansatz zu dem später so reich ausgebildeten Doppel-
priamel ist in folgender Stelle zu erkennen, der es aber auch an
Abrundung fehlt (1176 ff):
Triuwe, zuht und wdrheit,
diemuot, schäm, einveltikeit,
kiusche und maze sint vertriben
zu hofe und an ir stat sint beliben :
liegen, triegen, ribaldiei
lotervuore und buoberie,
unkusti unzuht, lecker schimpfen,
trinken, slinden, nasen rimpfen,
luoder, spil, diube unde spot,
lUtzel ahten üf got,
üf die sele und üf den t6t,
üf den tiuvel und üf die n6t,
diu immer wert und immer,
ie grimmer und ie grimmer.
Vers 2734 ff. bildet Hugo, indem er die törichte Habsucht des
Alters und der Pfaffen treffen will, ein Friamel mit doppeltem
Abschluß. Auch hier hat Hans Folz^) wieder an Hugos Art
angeknüpft. Formlos und ohne Einfluß auf die Entwicklung unserer
Kunstform sind lange Stellen, wie 17 332 ff. Da gibt Hugo von
einer Virgilstelle, vielleicht Oeorgica 2, 110 ff. aus. Es' ist, als
ob Hugos Bedseligkeit eine gedrängte epigrammatische Form ge-
radezu unmöglich macht ^).
Formloser Parallelismus herrscht: 10438 ff. 18 158 ff. u. o.
Mehrere schlecht überlieferte Stellen, deren Heilung nicht ohne
handschriftlichen Apparat gelingt, bleiben billig außer Betracht.
Im weiteren Verlauf des 14. Jahrhunderts bildet sich erst
ein literarisches Leben in den bürgerlichen Kreisen aus, das für
») Göttinger Beiträge 2, 72. Nr. 52.
^ Vgl. 4989 ff. 8314 ff. 8322 ff.
451
eine Stegreifdichtung als epigrammatische Gattung die Voraus-
setzung bot. Was in der vervoUkommenden Pflege der priamel-
haften Improvisation bis auf Eosenplüt geleistet worden ist,
steht hinter der Erwartung eigentlich weit zurück. Die voll-
kommensten Muster des voraufgegangenen Jahrhunderts blieben
ohne Folge. Echte Improvisationsformen sind dürftig bezeugt,
Individuelles und Sentenzenmäßiges überwiegt. Nach Landschaften
geordnet, mögen die bezeichnendsten Erscheinungen dieser Pro-
duktion kurz erörtert werden.
An Früheres anzuknüpfen, war das Natürlichste. Hatte Frei-
dank gerügt: .,. , ,
® ^ Vischsere unde vergen,
zolnsere unde schergen,
die kunnen manegen boesen list,
der dem tiuvel liep ist (75, 5 a — d),
so erweitert Boner (9, 37 flf.) das Motiv:
der vogt) der schaltheiz und der rat,
und woz er weibel hotten hat,
der meier und der richter,
der vüi Sprech und der heimlkher,
der brugger und der torwart,
der hirte und der banwart,
pfaffen leigen, jung und alt,
mtinche, nunnen mannigvalt,
der bischof und der kappelän,
der apt, der propst und der techän:
waz man singet oder seit,
si lebent alle in gitekeit^).
Aus der mnl. Fassung des Freidankspruches, die alle priamel-
hafte Form auflöst, ist zu ersehen, daß kaum ein altes Priamel
zu Grunde liegt ^); aus einem Fol zischen Priamel^), was sich aus
diesem Motiv gestalten ließ.
Volksmäßigen Improvisationscharakter zeigen dagegen Sprüche,
die Graffund Massmann einer jetzt vernichteten Straß burger
Handschrift entnahmen. Die rohe Form gibt wahrscheinlich
einen Maßstab für die unliterarischer Poesie zur Zeit erreichbare
Kunstübung dieser Art.
») Vergl. Bon er 78, 45 ff. Mones Anz. 2, 229.
^) Suringa r, Rijmspreuken 2,210. Nr. 6.
3) Göttinger Beiträge 2, 78. Nr. 64.
29'
442
lieber kneht, umbe diu,
der Wandel sint wol zwelfiu,
als ich sie gemerket hdn. 2, 419 ff.
Bequemer löst sich aus der letzten Bede des Knechtes in
dieser Satire das treffliche Priamel ab:
ein hanttraeger gigaer,
ein alter holerphifaer,
ein Singer ungedoenet,
ein hofwart, der vil hoenet,
ein rätgeb kne triuwe,
ein übeltaet äne riuwe,
ein fürsprech äne sinne,
ein siechiu hübscherinne,
ein buochsagser trunken,
ein valsch ros erhunken,
für kolbensieg ein str&huot:
daz allez ist für niht guot. 2, 1439 fT.
Es i»t also unbegründet, daß man, wie W. Wackernagel
in der Poetik (S. 212) lehrt, erst im 14. Jahrhundert zur Priamel-
form gekommen sei.
Nächst Freidank der beste Zeuge für das Werden unsrer
Kunstform ist der ,priamelreiche' Hu^o von Trimberg. Es
wird sich zeigen, in welchem Sinne dieser Ausdruck des um die
spätere mhd. Spruchdichtung am meisten verdienten Gelehrten
zu verstehen ist. Der Benner zeigt die Volksdichtung, die in
der Bescheidenheit eine altertümliche Herbheit auszeichnet, auf
vorgerückter Stufe. Die Form ist geläufiger, bis zur Virtuosität;
die Ergebnisse einer reichen Entwicklung der poetischen Technik
sind auch Hugo zu Oute gekommen. Ihn leiten aber auch nicht
mehr Gesichtspunkte der höfischen Gesellschaft und ritterlicher
Poesie, frei ergeht sich sein bewegliches Talent in Ausgestaltung
und Wiedergabe echt volksmäßiger wie gelehrter Gnomik. Der
Greis verfällt wieder dem psychologischen Mechanismus primitiver
volkstümlicher Kunst, der die Form für sich dichten läßt. Schlag-
reim, Anapher, Bilder, Parallelismus, Kettenspruch, Kontraste,
Aufzählungen, Priamelform sind willkommene Stützen, an die sich
die alternde irrlichterierende Phantasie klammert und von denen
sie sich fortleiten läßt. Dazu kommt noch ein umstand, der sein
Werk als ungeschminktes Bild auch der m und liehe n goomischen
443
Überlieferung erscheinen läßt: seine Individualität. Altersschwach,
wie er ist, fehlt ihm die Kraft, seinen Stoflf wirklich zu durch-
dringen und zu beherrschen, ünda fert, nee regitur. Lehren der
Jugendzeit, die Klugreden des Volkes, Lebenserfahrung, impro-
visierte Moralisationen, neben Lesefrüchten und Citaten aus früheren
Onomikern klingen in seinen Versen wieder: alles in allem stellt
Hugos Renner einen Durchschnitt der Produktion seiner Zeit dar,
der mündlichen wie schriftlichen. Andrerseits verschmäht der
seßhafte Schulmeister die Kleinkunst des Spielmanns, das Quod-
libet, den Spielmannsreim, den Lügenspruch, und schwelgt lieber
in gelehrten Citaten. Aber die Gelehrsamkeit ist nicht so bös
gemeint, und .der Mann aus dem Volke verleugnet sich nirgends.
Ausgiebig verwendet er priamelhafte Formen, hält sich aber,
was die spezifische Kunst des Priamels betrifft, noch in sehr
engen Grenzen. Er versucht alle Systeme vom Vierzeiler bis
zum Vierzehnzeiler; aber mit ganz anderm Ergebnis als in der
klassischen Zeit des Priamels. In der Komposition des vierzeiligen
Verses ging er über Freidank hinaus, indem er volksmäßigen
Formen breiteren Spielraum* ließ; der durchgereimte Vierzeiler
war besonders häufig. Hugos Sechszeiler und selbst die Acht-
zeiler tragen meist noch die Spuren ihrer Entstehung aus dem
durchreimenden Vierzeiler an sich. Alle andern Formen sind in-
dividuell und wegen Vereinzelung und des Mangels an fester
Durchbildung fast ohne Folge für die Priameldichtung des 14. Jahr-
hunderts geblieben. Eigentlich sind es, von Sechszeilem ab-
gesehen, nur zwei Priamel, ein acht- und ein zwölfzeiliges, die,
nach Inhalt und Form vollendet, deutlich auf das klassische
Priamel hinweisen, Hugos Meisterstücke. Mann kann sie nebst
dem Zwölfzeiler des sogen. Seifried Helbling dem Besten an
die Seite stellen, was diese Poesie überhaupt hervorgebracht hat.
Wir sahen schon, wie meisterhaft er den alten Vierzeiler
handhabt; reichere, entwickeltere Formen des Priamels versucht
er nicht mitider, aber ohne daß es zu einer typischen, muster-
gültigen Form gekommen wäre. Auch er beweist, daß noch im
14. Jahrhundert alle über die einfachsten Formen hinausstreben-
den Erzeugnisse individuell sind. Das zeigt sich auch besonders
darin, daß den meisten seiner priamelhaften Stellen die Abrundung
und Selbständigkeit fehlt.
444
Wie Bosenplüt später eininal m einem geistlichen Priamel
sagt: Gäbe es keine Hölle, keine Folgen der Sünden, dennodi
sollte man sie meiden: so meint Hogo:
Hnpfen, liren, seitm Uiiigeii,
mensdien stimme und t0^id mgea,
waiicn wimder in siben gerihten,
der meister lere und höbes tihteo,
numic wimnccUdier lip,
den in der wcrlde bit man ond wip,
ond manic antlQzze erliuhtet gar,
lüien nnde r6sen var:
swie tU ditx wonne hab Aber al;
doch ist diu werlde ein jamertal — (226 ffl)
Hier wäre man versucht abzuschließen; aber Zusätze heben
die priamelhafte Wirkung wieder auf:
gen der wannedichen stat
in der got gexieret bat
sin gesinde, a]s6 daz wip nocb man
die vröade niht dnrchgründen kan
In ähnlicher Weise heben Einleitung und Zusätze bei Vers
6817 ff. 10438 ff. 11058 ff den Priamel-Charakter au£ In der
Periode des Verfalls unserer Eunstform wird freilich auch an
solches Verfahren wieder angeknüpft
Einige treffliche Sechszeiler sind Hugo gelungen. Schon
Freidank hatte einen Vierzeiler mit jedesmaligem ,swä* und zu-
sammenfassendem urteil gebildet oder wiedergegeben; nach diesem
Muster verfährt folgendes, in den ersten vier Zeilen durchge-
reimte Priamel:
Swä geistliche liute ungeistlich sint,
swä wtse sich dunkent kleiniu kint,
swi wegewtser sint selber blint,
swä der lewe muoz vttrhten ein rint,
swi unreht dem rehlen dröuwet:
di werdent die wtsen wSnic gevröuwet^).
Wie wenig fest aber die Form geworden ist, bezeugt ein
Siebenzeiler (11203 ff.) Lockere Form hat ein Sechszeiler, der
analytisch und synthetisch zugleich ist (20 353 ff.):
>) 10720 iL
445
Mit siben dingen bUeset man
des libes siuche, swer ez kan:
vasten, undöuwen unde sweiz,
latwerge pulver kalt und heiz,
äderldzen und gctranc
machent den gesant, der e was kranc.
Analytisch verfährt die Seligpreisnng (10122 ff.):
selic ist der man, der sich des went,
daz er ndch woUust sich niht sent,
nach wine, nach mete und zarter splse,
nach kurzwile und ndch werlde prise,
und den benUeget, des er hat,
ez si getraue, spise oder w4t.
Einfluß der anaphorischen Frageinethode fieinmars verrät^),
wie der sogen. Seifried Helbling, vielleicht mit ausdrücklichem
Anschluß an den österreichischen Satiriker, Hugos Sechszeiler:
Waz sol der markt, den nieman suochet?
waz sol diu kunst, der nieman geruochet?
waz töhte silber unde golt
und gimme, were in nieman holt')^
waz Silin diu buoch, diu nieman list?
Diu sint noch unnützer denne mist^.
Wie oben in den Versen 10720 ff. reimen die ersten 4 Zeilen
folgenden Sechszeilers:
An witen tanzen schoene kitel,
bt jungen meiden valsche bitel,
in samenunge valsch capitel,
in tiefen buochen valschiu titel:
bringent vil mSr schaden denne frumen,
als ich die wärheit hän vernumeni).
Ähnlich gebaut erscheinen:
Rouber oder wuocherer,
valscher, brenner, unk iu scher,
Verräter, morder, valsche rihter,
glihsener oder gttiger:
swaz die ersparn uf ertrlch
daz vrumt in wSnic in himelrich. (16316 ff.)
>) Roethe S. 247. ») vgl. den Vierzeiler 13324 ff.
') 5 933 ff. Hugo liebt das derbe Wort: 19630 in barocker Anwendung.
Vintler 5485.
*) 12 360 ff.
446
Auch hier stört der Zusatz:
ir kint zeraz oft gar rilich,
swaz sie ersparn jslmerlich.
Man bemerkt, wie die ersten Glieder noch an den Vierzeiler
erinnern. Auch auf den Achtzeiler erstreckt sich dies Verfahren,
wie unten ersichtlich.
Einen Sechszeiler Freidanks von der Minne des Greises
hat Hugo 21006 ff. wiederholt. fBezzenberger zu Freidank
51, 17.) Mehr der Form als dem Inhalte nach mit dem Priamel
zu vergleichen sind Vers 19808 ff. Der später beliebte Achtzeiler
kommt viermal vor.
Ist ein man edele, kiuscbe und reine,
wolgezogen, schcene und gemeine,
milte, senfte, getriuwe, gew^re,
vriuntholt, diensthaft und hovebsere,
des libes ein helt und wol gellrt :
doch wirt er selten nu wol ge^rt
nich sinem werde, swie wol er tuot:
er habe denne leider irdisch guot^).
Ein zweites Verschen dieser Art liegt 17286 (17286 b) ff. vor.
Hugo knüpft mit ,wanne' an.
morder, rouber, unkiuscher,
spiler, diebe und luoderer,
Juden, beiden, zouberer,
gÜer, valscher, ebrecher,
bek^rt man e denne wuocherer
vUrkoufer unde satzunger:
und swem irdisch guot lieber ist
denne unser herre Jesus .Crist.
Beide Achtzeiler weisen mit dem Schlagreim auf den Vier-
zeiler zurück und haben den Zuschnitt eines Sechszeilers; die
Unsicherheit in der Erweiterung der Schlußzeilen zeugt dafür,
daß dieses achtzeilige Gebilde noch keineswegs wie im 15. Jahr-
hundert zu kanonischer Geltung ausgebildet war. Gleichklingende
Abstracta haben einen Achtzeiler veranlaßt, den Hugo als einen
Spruch des heiligen Augustinus (18054 ff.) so wiedergibt:
*) 13286 ff.
447
Swei gedShte sins libes broedikeit
und stner sele wirdikeit
dirre wilden werlde unstitikeit
und siner Sünden unvletikeit,
der Ewigen pine unmSzikeit,
der ewigen vröude reinikeit:
der hUetet sich an aller stat
vor allerhande missetat.
Einmal hat der Achtzeiler schon vollendeten Ausdruck ge-
funden (23564 ff.) »):
Swer Idrt ein blinten hiute schaben,
einen handelösen stricke graben,
und durch gemach wil katzen baden,
dem kargen geste ze hüse laden,
einen lamen wil ISren verre springen
einem t6ren vil sagen von wtsen dingen,
einem touben singen süezen sanc:
der dient in allen äne danc.
Kaum priamelhaft dürften Vorschriften sein wie Vers 1 7832 ff.
17876 ff. Eine zehnzeilige priamelartige Periode mit sehr un-
deutlicher Gliederung liegt Vers 11574 ff. vor. Ein anderer Zehn-
zeiler lautet:
swer sin diube kan verheln
und fürbaz üf ein lougen stein
und gein dem gelachen kan,
dem er den schaden hat getan,
und den claget mit valschem munde,
des guot er zu der selben stunde
vil schentlfche hdt d4 heime verborgen
und disen let in gr6zen sorgen,
der im nie kein leit getet:
we, wie mit gr6zen eren er get^)!
Tadellosen Bau und passenden [uhalt vereinigt das 12 zeilige
Priamel Vers 15078 ff.:
Suez umbrede in triuwen vruht;
vil cl6ster vrouwen an clöster zuht;
äne gotes vorhte gr6z wirdikeit;
Such leben an reinikeit;
an gröze milte höhez schallen;
>) Vergl. 12 740 ff. ») 7128«:
m
knehte und dierne widerkallen;
münche und schuoler ungehorsam;
pfafTen und ritter an zühten lam;
vil geloben und lützel geben;
bt grözem rtchtuom swindez leben:
sint got und vrummen Hüten unwert
in allen landen hiur als vert.
Wohl nur Zufall ist es, wenn Hugo einmal auf das vierzehn-
zeilige System verfällt. Als Quelle nennt er diesmal ,Aagustinus/
Bistu s6 ¥rise als Salom6n,
und ouch s6 starc als her Sams6ii,
s6 gar schoen als her Ahsolön,
und darzuo küene als Gideon,
geringe zu loufen unde snel
als der snelle man AsahSl,
gewaltic als Octavidni
rtche als Cresus der rfche man,
* lanclebic als Matüsalam
und Enoch den got selber nam,
und ouch kUnic Alexander gelfch
unüberwunden und Sren rtch:
alliu din gl6rie ist enwibt,
hästu der waren minne niht').
Zu Grunde liegt die bekannte Bibelstelle 1 Corinther 13,
1 ff. Ähnliehe Form ohne priamelhaften Inhalt haben die Verse
22396 ff.
Individuelle Form haben auch seine Aufzählungen, die
in Predigt und Traktat eine unerschöpfliche Quelle fanden.
Typisch sind die Charakteristiken des Innocentius III, De con-
temptu mundi 2, 29 ff. Vgl. Renner 292 ff., 14106 ff., 9412 ff.
So läßt er das Gesinde des ,nfdes' (14 117 ff.), der ,lazheit'
(15 926 ff.), Bevue passieren. Oder er zählt mit dem Präfix ,un'
zusammengesetzte Wörter auf 9159 ff. Vergl. 8448 ff. 10239 ff.
12 740 ff. 16 110 ff. 16 154 ff. Zahllos sind Hugos anaphorische
Aufzählungen^); sie haben dadurch ein besonderes Interesse, daß
») 20862 ff.
2) 479ff. 1898ff. 2376ff. 3118ff. 4513ff. 4822ff. 7271ff. 9881ff. 10592ff.
11952 ff. 11 714 ff. 15332 ff. 15974 ff. 17652 ff. 17698 ff. 18434 ff. 18838 ff
20583 ff. 20671 ff. 20964 ff. 21 168 ff. 21 235 ff. 21 549 ff. 22 144 ff. 23047 ff.
23323 ff. 24084 ff. Schon die eben angefahrten Aufz&hlungen waren sum
Teil anaphorisch.
449
die Nürnberger Schule des ausgehenden 15. Jahrhunderts mehrere
dieser Stellen zu Buch-Priameln umgebildet hat. Dort wird da-
rauf einzugehen sein.
Einige dieser Stellen (10315 ff.) weisen schon steigernden
Abschluß auf, den sonst die späteren Priameldichter erst hinein-
brachten. So heißt es in einem die Frauen behandelnden Ab-
schnitt 12910 ff: ^. ^, , .
Minne, schätz und gros gewm
verkerent guotes mannes sin.
Das ist sein Thema. Nun föhrt er aus:
Ein dinc mich gar ser eltet,
swenne sich ein arcwän speltet,
und swenne der Würfel uneben veUet
und scheidet, die er vor het geseUet,
und swer unrehtem gewalte niht
mac widersten, des vil geschiht;
vil ofte ouch dem diu 6ren klingent,
den Juden, rihter, erzte twingent.
so lit der ouch in sorgen stricke,
den sin borger suochen dicke
und er in niht vergelten mac,
der hdt unruowe naht und tac :
noch derret ein Übel unkiusch wip
vil m§re irs vrumen Wirtes lip,
der si in ganzen triuwen meint
und si in untriuwen ist versteint.
Einmal verbindet er die Anaphora mit einer glücklichen
Steigerung in einem Zehnzeiler (17625 ff.):
Swer lernet kunst durch hofiart,
der hat sin sele niht wol bewart;
swer lernet kunst durch gitikeit,
diu kunst wirt Ubele angeleit;
swer lernet kunst und durch haz
die verbirgt, der ist ein nidisch vaz;
swer lernet kunst, daz er sin leben
von ir gebezzer, der vert eben :
swer lernet kunst, und die vUrbaz
llrt durch got, der tuot vil baz.
Als Quelle gibt er den Meister Hugwitz an.
Ähnlich ist ein Sechszeiler gebaut (539 ff.), der wirkungsvoll
einen Abschnitt von der Hoffahrt und untreue schließt *). Auf-
*) Vgl. 8042 ff., weniger abgerundet.
Euling, Prlamel 29
450
2ählaDg mit traktatartiger Disposition übt auch Hugo, z. B. 16010 ff.
Vers 20 754 ff. werden die sechs Werke der Barmherzigkeit auf«
gezählt. Mit Aufzählung der acht Seligkeiten und sieben Eardinal-
tugenden verschont er uns. Dreierlei Märtyrer des Herrn (12890 ff.)
und des Teufels (20 898 ff.), dreierlei Grund, die Sünde zu meiden
(22796 ff. 23 322 ff.), neun Fenster des Menschen (23152 ff.) u. ä.
werden behandelt.
Ein Ansatz zu dem später so reich ausgebildeten Doppel-
priamel ist in folgender Stelle zu erkennen, der es aber auch an
Abrundung fehlt (1176 ff):
Triuwe, zuht und warheit,
diemuot, schäm, einveltikeit,
kiusche und maze sint vertriben
SU hofe und an ir stat sint beliben:
liegen, triegen, ribaldie,
lotervuore und buoberie,
unkust, unzuht, lecker schimpfen,
trinken, slinden, nasen rimpfen,
luoder, spil, diube unde spot,
lützel ahten üf got,
üf die sele und ilf den tot,
üf den tiuvel und üf die not,
diu immer wert und immer,
ie grimmer und ie grimmer.
Vers 2734 ff. bildet Hugo, indem er die törichte Habsucht des
Alters und der Pfaffen treffen will, ein Priamel mit doppeltem
Abschluß. Auch hier hat Hans Folz^) wieder an Hugos Art
angeknüpft. Formlos und ohne Einfluß auf die Entwicklung unserer
Kunstform sind lange Stellen, wie 17 332 ff. Da gibt Hugo von
einer Yirgilstelle, vielleicht Georgica 2, 110 ff. aus. Es* ist, als
ob Hugos Bedseligkeit eine gedrängte epigrammatische Form ge-
radezu unmöglich macht ^).
Formloser Parallelismus herrscht: 10438 ff. 18 158 ff. u. o.
Mehrere schlecht überlieferte Stellen, deren Heilung nicht ohne
handschriftlichen Apparat gelingt, bleiben billig außer Betracht.
Im weiteren Verlauf des 14. Jahrhunderts bildet sich erst
ein literarisches Leben in den bürgerlichen Kreisen aus, das für
») Göttinger Beiträge 2, 72. Nr. 52.
^ Vgl. 4989 ff. 8314 ff. 8322 ff.
451
eine Stegreifdichtung als epigrammatische Gattung die Voraus-*
Setzung bot. Was in der vervollkommendon Pflege der priamel-
haften Improvisation bis auf Bosenplüt geleistet worden ist,
steht hinter der Erwartung eigentlich weit zurück. Die voU^
kommensten Muster des voraufgegangenen Jahrhunderts blieben
ohne Folge. Echte Improvisationsformen sind dürftig bezeugt,
Individuelles und Sentenzenmäßiges überwiegt. Nach Landschaften
geordnet, mögen die bezeichnendsten Erscheinungen dieser Pro-
duktion kurz erörtert werden.
An Früheres anzuknüpfen, war das Natürlichste. Hatte Frei-
dariK ffflrftfft*
ö o • Vischsere unde vergen,
zolnsere unde Schergen,
die kunnen manegen boesen list,
der dem tiuvel liep ist (75, 5 a — d),
SO erweitert Boner (9, 37 ff.) das Motiv:
der vogt, der schultheiz und der rat,
und waz er weibel hotten hat,
der meier und der richter,
der vüi Sprech und der heimlicher,
der brugger und der torwart,
der hirte und der banwart,
pfaffen leigen, jung und alt,
mUnche, nunnen mannigvalt,
der bischof und der kappelan,
der apt, der propst und der techän:
waz man singet oder seit,
si lebent alle in gftekeit^).
Aus der mnl. Fassung des Freidankspruches, die alle priamel-
hafte Form auflöst, ist zu ersehen, daß kaum ein altes Priamel
zu Grunde liegt ^); aus einem Fol zischen Priamel^), was sich aus
diesem Motiv gestalten ließ.
Yolksmäßigen Improvisationscharakter zeigen dagegen Sprüche,
die 0 raff und Massmann einer jetzt vernichteten Straß burger
Handschrift entnahmen. Die rohe Form gibfc wahrscheinlich
einen Maßstab für die unliterarischer Poesie zur Zeit erreichbare
Kunstübung dieser Art.
») Vergl. Bon er 78, 45 ff. Mones Anz. 2, 229.
*) Suringa r, Eijmspreuken 2, 210. Nr. 6.
3) Göttinger Beiträge 2, 78. Nr. 64.
29*
452
Wer kissling meget,
und Stupfion seget,
und in dem sack kofiet,
und sich mit dem toren roffet:
daz sint vier ding,
die torlich sint^).
Hinkender kellner,
hofirohter kamerer,
blinder wahter,
tober portener
unde schebiger koch:
die fünf ding schendent aller herren hoff*).
Alter, der tinfel mns din walten 1
aim pförit nimest sinen zog,
ainem falken sinen flog,
ainem hunt sin geserti
und ainem zagel sini herti,
ainem menschen sinen <:wiz,
ainer fot ir> hiz;
ainem man machest den zagel blaw
und das houpt graw
und die hoden lang:
sprichet maister Fridang^).
Auf derselben Stufe der ünvoUkommenheit steht die vielleicht
älteste Fassung des unverwüstlichen Neckerei-Motivs:
HUet dich vor Rottenburger rette,
und vor Tuwinger kelre,
und vor Rutlingen rossen,
und vor Ulmer wiben:
wiltu bi glttck und seiden bliben^).
') Graff, Dintiska 1, 325. Das Nachleben dieses Spruches ist oben
aus der Eifel nachgewiesen. Wand er 5, 1156. Weiterbildungen bei Pfeiffer,
Germania 1857. S. 147. Göttinger Beitr&ge 2, 18. Zeitschr. f. d. Phil. 9, 194.
3) Diutiska 1,324. keilner] keller.
^ W. Grimm, Kleinere Schriften 4,29. Renner 23019 ff. Plori-
legium Gottingense Nr. 130 (taurus, equus). Göttinger Beiträge 2, 12 und
Nr. 50. Germania 3,371. Cod. Pal. Germ. 98, 198d. Hoffmann, Find-
linge S. 445. Nr. 88. ühl S. 332. 330.
*) Bl. 81 b unter Federproben der Darmstädter Hs. 2225, die also nicht
von 1410 datierbar sind. Germania 12, 232.
45ä
In besserer literarischer Haltung und in bestimmtem Literatur-
kreis, dem Kreis der sogenannten mystischen Literatur, treten
andere elsäsäische Verse auf; z. B.
Mensch, laß din eigenwillikeit,
blib fest in widerwertikeit,
durchbrich die unerstorbenheit,
nit suoch zuo vil ergeczlicheit :
so Wirt din hercz wol bereit
zuo göttlicher heimlicheit ').
Den ungelenken Beispielen der Straßburger Handschrift vom
Jahre 1385 entsprechen in Bayern die Verse des Sulz er s^), die
oben angeführten ungeregelten Beihen der Indersdorfer und der
aus Deggendorf stammenden Wiener Handschrift 3027').
Ausnahmsweise gelungen sind Priamelverse Hans Vintlers
(9472 If.):
iederman sol mit seim geleich
tragen, als das im pUret an.
als das spricht der weise man:
^wenn der pischolf den topf treibt,
und wenn der ritter püecher schreibt,
und das der münich harnasch trait,
und wenn ain hübsche stolze mait
ze rosse sol ain schütze sein,
und wenn die nunnen und die pagein
wellen t zue den höfen varen,
und wenn der man sol spinnen garen,
und wenn ein achtzigjärig man
sol gen schuel umb lernung gan,
und wenn ain chint mit ainem geren
sol stechen ainen alten peren:
das selb ist alles widerwärtig
und wirt nimmer recht artig.«
der weise man also sait,
das alle widerwärtichait
sei von frawen am ersten komen u. s. w.
') Wackernagel, Kirchenlied 2,317. Nr. 481 e. Die Varianten sind
herangezogen. Ähnlich Nr. 481 a.
^) Göttinger Beiträge 2, 17 ff. Ein Sultzer kommt in den Monumenta
Boica 34, 89 Tor, zum Kloster Fürstenfeld gehörig.
") Sie wird uns bei Eosenplüts geistlichen Priameln beschäftigen.
454
Aber als Epigramm sind die Priamelverse hier nicht gedacht,
wie Einführung und Zusätze beweisen.
Von recht bescheidener Kunst zeugt ein sentenzartiger md.
Beim, der samt seiner lateinischen Entsprechung, allerdings erst
im 15. Jahrhundert am Schluß der Wiener Handschrift 4501
aufgezeichnet ist:
Quinque roirabilia:
Balneator sine sudore,
Molitor sine furtu et pudore,
Histrio eque sine mendacio,
Beckhardus sine bombisacio,
Lusor sine perjurio.
Ein beder, der nicht enswiczet, der hod nicht lange leben;
Ein meiner ungestolen findestu seiden, merke eben;
Russtuscher, der <nicht> luget unde sich mid lugen nert,
Ein speler, wo ist der, der nicht enswert?
Ein beckhard der ist ungefisten nicht:
Dut sint fünf wonder, so ben ich bericht
Die mnd. priamelhaften längeren Seimverse gehören im all-
gemeinen dem folgenden Jahrhundert, meist der nachrosenplütschen
Zeit an und beruhen in der Hauptsache auf nl. und hd.^) Mustern;
sie fallen also fast gänzlich aus dem Bahmen dieses ersten Bandes
heraus. In verschiedenen mnl. Handschriften finden sich Spruch-
sammlungen eingetragen, in einer Handschrift Maerlants, einer
Boendales, in der großen Hulthemschen Sammelhandschrift
Nr. 192, um nur die wichtigsten zu nennen. Diese Erzeugnisse,
soweit sie priamelhaft gebaut sind, war man geneigt als praem-
bula Batava vestustissima zu betrachten^). Das kann nur
mit allerlei Einschränkungen geschehen.
Die Eintragungen auf Deckblättern und leeren Blättern sind
zunächst nicht alle für das 14. Jahrhundert in Anspruch zu nehmen;
sie sind meist erst später entstanden als die Hauptwerke der
Handschriften. Sodann ist der Bau dieser Sprüche höchst indi-
viduell und wechselvoll, ihr Auftreten sporadisch und zusammen-
hanglos. Leider hindert die Art ihrer Publikation und Bearbeitung
^) Deutsche Sprecher in der 2. Hälfte des 14. Jhs. in den Niederlanden:
Te Winkel, Tijdschrift 5, 310 ff.
^ Wendeler, De praeambulis S. 50.
455
durch Willems und Suringar sich ein Bild von der Anordnung
und dem daraus sich ergebenden Charakter zu machen. Willems
hat sie, umgestellt nach der Anzahl der Verse, veröffentlicht*), und
Suringar die auf Freidankversen beruhenden Sprüche ausgelesen.
Jedenfalls haben wir mit Spruchgut zu tun, das, von der späteren
Nürnberger Priameldichtung unbeeinflußt, eine besondere Vorstufe
in der Entwicklung des Friamels darstellt. Zunächst charakte-
ristisch ist für diese mnl. Sprüche die Zusammenfassung durch
Aufzählen; die Beihen werden mit der Zeit durch Interpolationen
erweitert. Qrundlage scheint mehr die Sentenzliteratur als freie
Stegreifdichtung. Das Ergebnis ist teils Künstelei, teils der rohe
Volksreim.
Zu den zahlreichen Fassungen des Beimes von dem Dutzend
Verkehrtheiten^) füge ich hier die der Dresdener Hs. M 33aBl. 6a:
Prelaten sonder gode tontsienCi
papen die haer kerke vlien,
prijnsen wreet ende onghenadich,
jonge vrouwen onghestadich,
een reechter die dat reecht verkeert,
een scepene die lieghen leert,
ende rydders die haer goet vercopen,
jonghe vrouwen die snachts ut lopen,
ende een out man die ter dulleyt tijdet,
ende een monnck die dickwile ut synem cloestre rijdet,
ende een cleerc die tijtelijc mijnt,
ende een aerman die wel wijn kent:
dat is een dosijnn, wijl dijs lijden,
die my seiden sied bediden.
Ein Gegenstück liefert die Hulthemsche Handschrift:
Gherechtich lansheren ende goet.
Rechtere mechtich ende vroet,
Papen die peis connen maken,
Vrouwen sempel ende hovesch van spraken,
Scepenne die gheen recht en verkeren,
Doude die den jonghen leren,
^) Die richtige Anordnung teilt Y er dam Tijdschrift voor nederlandsche
Taal-en Letterkunde 3, 177 ff. mit.
2) Napoleon de Pauw, Mnl. Gedichten S. 646. Tijdschrift 16,308.
Borchling, Mnd. Hgn, 1, 2U. Nd. Korrespondenzblatt 23, 91 ff. 24, 59 f.
456
Die jonghe die den ouden verstaet,
Ghemeinte sonder quaden raet:
Dese achte comen te goeder baten
Den lande, ende oec den ommesaten').
Yele wijsheden und daesheden werden so aufgezählt:
Yele wijsheden.
Scoene seden, sonder overmoet,
Seiden spreken, datselve goet,
Te pointe connen nemen ende gheven,
Wel ende redelike leven,
Vremder dinc niet onderwinden,
Ghiericheit verre wechsinden,
Onrecht vroroelic wederstaen,
Metten goeden, vroeden gheeme gaen,
Te pointe connen verdragben,
Ende in redenen hulpen den maghen:
Di dese pointe houden can,
Mach wel heeten een wijs man').
Yele daesheden.
Grote hoverde ende oeghen moet,
Yele talen die onbehoet,
Alle dinc wreken, niet verdraghen,
Yele verlaten up grote maghen,
Letel winnen ende vele verteeren,
Niet connen ende niet willen leeren,
Up levende lieden zeere hopen,
Niet betalen ende vele copen,
Yan vremden dinghen vele bedriven,
£nde vele wercken by quaden wiven,
Lettel goets ende vele kinderen:
Brinct den meneghen in den indre^).
Te scrivene up der stadt huus.
Die eene Stadt willen regieren,
Süllen dese pointe anthieren:
1) Belgisch Museum 6, 213. Yergl. 1, 135.
^ Napoleon de Pauw, Middelnederlandsche Gedichten en Fragmenten.
S. 664. Brüsseler Hs. fol. 105. Yergl. daselbst S. 654 Yarianten einer zweiten
Fassung. Belgisch Museum 6,212. Ippel, Die niederländischen Meerman-
Handschriften. Berlin 1892. S. 12.
>) de Pauw, Mnl. Ged. S. 645. Brüsseler Hs. 105v.
457
Eendrachtlich sijn met trouwen,
Ende ghemeenen oerboor anschouwen,
De Stadt bevelen den vroeden
Ende ghemeene goet nauwe hoeden
Ende bekeerent te meester baten;
Te vriende houden de ommesaten,
Hare vryheit niet laten breken;
Om ghemeenen oerboer dicke spreken;
Trecht altoes houden ghelike
Also wel den armen als den rijken,
Vaste houden hare Statute,
De quade werpen altoes ute;
Ghetrouwe te sine hären beere:
Dat es der ouder wijser leere.
Waer si yet ghebrect van desen,
Daer so staet de Stadt in vreesen,
Ende elc bepeinse hem wat hi doet,
Want hi emmer sterven moet^).
Van der Messen.
Nu hoort alle dise woort:
Soe wie dat gheerne messe hoort,
Sente Augustijn doet ons verstaen
Dat hi VII duechden sal ontfaen.
De eerste es, dat hem God ghevet
Daghelicx broet, daer hi bi levet.
Dander es, so wert hem verlaten
Ydele redenen buten maten.
Van der derder willic niet zwighen,
Verghetenheit doet soe verdriven.
De vierde es, dat hi up dien dach
Sijn lucht niet Verliesen en mach.
De vijfste willic daerup kerven,
Onversien mach hi niet sterven.
De seste volghet hiernaer säen,
Gheestelic heelt hi Gode ontfaen.
De sevenste es van groter ghewelt.
1) de Pauw, Mnl. Ged. S. 653. Brüsseler Hs. Bl. 112f. Belgisch
Museum 6, 211. Lecken Spieghel 3, 143. Suringar, Bijmspreuken 2, 193.
Ippel S. 12. Germania 32,495. Zum Motiv: Der Babylonische Talmud
hg. von Goldschmidt 7, 61.
458
Sine voetstappen worden ghetelt
Van den inghelen van hemelrike.
Nu laet ons alle vriendelike
Bidden Onsen Lieven Heere
Dat hi ons ten besten keere*).
Eine Qruppe von 12 gleicbgebautcn neunzeiligen Strophen
hat Suringar aus der zweiten Hulthemschen Sammlung aus-
geschieden ^). Darunter ist eine priamelhaft gebaut, eine Art
Kunstpriamel individueller Ausgestaltung^).
Die scalken knechten licht gheloeft,
Entie verraders niet en kint,
Entie weret na sijn selfs hoeft,
Ende die den smeekere mint,
Ende die mesdadeghen niet en doet ghenade,
Alse men hem mach doen ghevede,
Ende vroeden lieden niet gheet te rade,
Ende licht ontseit een godsmans bede:
Sijn rike en mach niet sijn ghestede.
Noch viel glücklicher ist folgender mnl. Achtzeiler derselben
Handschrift:
Alse mi een nonne biedt den mont,
Ende op mi wipsteert een hont,
Ende op mi lacht een scoen vrouwe,
Ende mi een loes man sweert op trouwe,
Ende op mijn scoudere sleet een here:
Mi es to moede, min no mere,
Ghelijc als mi was te voren,
Noch ghewonnen noch verloren*).
Variante:
Als op myn schouder clopt een beer,
En een baghyne my noot seer,
En my een loesman sweert by trouwe,
En my aenlacht een schon joncfrouwe,
») de Pauw, Mnl. Ged. S. 657. Brüsseler Hs. Bl. UQ. Die spätere
Nürnberger Schule bevorzugt solche traktatartige Sprüche. Zur Sache:
Franz, Die Messe im deutschen Mittelalter. Freiburg i. B. 1902. S. 36ff.
^) Bijmspreuken 2, 193. Leider kann auch er die Herkunft nicht an-
geben. S. 194. Belgisch Museum 1, 461.
3) Belgisch Museum 6, 206.
^) a. a. 0. S. 204. Ganz ähnlich Dresdener Hs. M, 33 a B}. 5 b.
459
En my een non biet hären mont,
£n my aenwispelsteert een hont:
So heb ick noch gewonnen noch verloren,
Maer bltjf als ick was te voren^}.
Aber Form und Situation sind subjektiv, so daß man hier
mehr Kunst als Stegreifdichtung sehen kann.
Ohne epigrammatischen Charakter ist folgende priamelhaft
endigende Charakterisierung:
Van den bonten houdevare. (cocu.)
Ic hoorde segghen in een wile,
maer ic hilt al over ghile,
van eenen bonten houdevare.
daer nae quam ic in een lant
daer ic eenen meester vant,
die mi seide trecht ende tware
welc een recht bont houdevare wäre:
Een man, die een scoon wijf heeft,
ende by eer quader lodigghen leeft
ende men hem dan sijn wijf ontbruudt
stille, of openbare, overluut,
so dat ter kennissen comt, int clare:
Dats en recht bont houdevare^.
Seltener ist Typus B vertreten:
Een goede vrouwe is een edel ymage,
twe vrouwen is een clappagie,
drij vrouwen is een garenmaerct,
vier vrouwen is een jaermaerct,
vijt vrouwen is een beer,
sesse vrouwen is een sduuels gheweer:
de seuenste soude peynsen
datter hem die duuel af soude eysen^).
Bis zu welcher Eünstlichkeit in den Niederlanden die Spruch-
dichtung gedieh, möge eine Probe aus späterer Zeit verdeutlichen.
Drei balladenartige Strophen mit Refrain fanden im Jahre 1510
am Hildesheimer Schildbaum ^) ihren Platz. Die erste lautete:
^) Aus A. Matthei Yeteris aovi Analecta UI 654.
3) Willems, Belg. Mus. 3, 236. Brüsseler Hs. 837—845.
^ Dresd. M. 33 a El. 5 a.
^) Archiv des historischen Vereins für Niedersachsen. Jahrgang 1849.
Hannover 1851. S. 317 f. Der Text hat in der späten Überlieferung gelitten.
460
Dat ick hedde Tan allen wünschen den pris,
Dat id alle golt wäre tin, isem ende loth.
De werlt so schon als dat erste paradijs,
Ende elligk gras droge eyn rosen roth;
Ende alle stejrne en steynraßen groth
Waren diamenten en robbjnen,
Ende alle dyßele en dorne bloth
Waren larendelen en rosmarinen,
Ende alle katten drogen arminen
Ende aller bome blader weren groen,
Elligk blat schon lasur intschinen
Mit gülden fruchten avens ende noen,
Ende alle eßeln weren rosse koen
Ende lame gulen dat men vor perde anßyt:
Hedde wy neyn reyne consciencie,
Id en were altomale niet.
Solche Eunstübimg mündet also (ähnlich wie in romanischer
Literatur) in Gebilden ganz anderer Art, als das klassische
deutsche Priamel gewesen ist.
Daneben improvisiert der einfache ungeregelte Volksreim auch
in späterer Zeit fort; z. B.
Wy hebben een land sonder beer;
£lk rooft en steelt even seer;
Wy bebben groote oorloghe sonder strijt,
Ende grooten honger sonder dieren tijt;
Wy hebben groote eters sonder tanden,
En groote dieven sonder schänden:
Desse sesse bederven onse Nederlanden ^).
Wonderlijke dingen sijnder verkeert,
Wante groote dieven men nu wel eert.
Die met practijcken meest können steelen
Gaet men nu die gemeynte bevelen;
Want, sijn Alteze aensiget al,
Ende den prince gouvemeert al,
Villeers die spreket al,
Merten die beloopet al,
Junius die coopet sl\,
Vander Werf vre solliciteeret al,
Cornelius die confiskeret al,
') Schimpdichten te Antwerpen rond gestrooid op het einde der
zestiende eeuw. Belg. Mus. 6, 218.
461
Den breeden raet consenteret al.
Daerm ghemeynte betaelet al.
Die woeckenaers ontfanghet al,
Die paepengoeden becoopent al,
Antwerpen tquaest broetsel voedet al,
Penne ende inkt onthoudent al,
Godt almachtig die lijdet al:
Die duyvel int lesten haelet al.
Niederrheinische vorrosenplütsche Priamelreime weisen
denselben ziemlich regel- und kunstlosen Charakter auf.
1 Vat doich gelove sonder werk»
Verstentenisse sonder gemirk,
Wisheit ind schätz verborgen,
Genoich haven ind vil sorgen,
5 Ein ongeoifent goed wille,
Bekentenisse sonder minne,
God denen om lofif ind dank,
Ein goed leven sonder vortgank,
Vil hoeren ind weinich verstaen,
10 Vil wissen ind mit sonden om gaen,
Ein reine leven sonder oetmoedicheit,
Beden sonder innicheit:
13 Dit es al verloren arbeit^).
Lateinische Überlieferung läuft auch bei solchen längeren
mehr oder weniger priamelhaften Beihen fast ununterbrochen
neben der deutschen her. Neun Hexameter des 13. Jahrhunderts
über die Laster verschiedener Völker hat Wright^) herausgegeben.
Wirklich priamelhaft klingen die von Wattenbach mitgeteilten
Verse des Clm. 18910:
Devocio in Italia,
Veritas in Ungaria,
Humilitas in Austria,
Castitas in Bavaria,
5 Paupertas in Venecia,
') Haupts Zeitschrift 15, 372 aus einem von 1427 datierten Vaticanus.
Außer Vers 4 — 8 ist alles andere nachweisbar überliefertes Spruchgut.
Ähnlich kompiliert ist der Spruch: ,Schoen gebagen und wenich doenS
Germania 19, 304.
3) Reliquiae 1, 5, 30.
462
Fonnose mulieres in Ethiopia,
Religiositas in Bohemia,
Foelicitas in Bolonia,
Panis in Colonia,
10 Ebrietas in Saxonia,
Fidelitas in Thoringia,
Miliaria in Westphalia,
Simplicitas in Suevia,
Glosa judaica,
15 Cerevisia in Erfordia:
Nichil valent per omnia^).
Zu festen literarischen Formen hat sich diese Überlieferung
ohne weiteres nirgend verdichtet.
0 Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit. 1877. S. 340.
vnr.
Priamelhafte Formen im Minne- und Meister-
Gesang.
Das Wahre fördert; ans dem Irrtum ent-
wickelt sich nichts, er verwickelt uns nur.
Goethe.
Minne- und Meistergesang bezeichnen im ganzen f&r die
Geschichte des Priamels kaum mehr als eine Episode und nehmen
darin eine ähnliche Stellung ein wie in seinem Nachleben die
galante Lyrik. Von den Versuchen und Errungenschaften dieser
kfinstlichen Dichtung konnte für die Entwicklung des Stegreif-
gedichtes keine fortwirkende Kraft ausgehen; das blieb fast ganz
der Yolkstümlichen Poesie vorbehalten. Die Spruchdichtung des
Minnesangs und der Meistersänger ist hier eigentlich nur insofern
von Bedeutung, als sie die volkstümliche Improvisationsgrundlage
noch irgendwie erkennen läßt.
Das Priamel verträgt kunstvollere Komposition ebensowenig
wie das Schnaderhüpfel, gegen dessen konzertmäßige Aufstutzung
Hans Grasberger sich verwahrte. Mit dem schlichten Improvi-
sationscharakter des Priamels steht eine kunstvolle Form an sich
schon in Widerspruch ; eine strophische Bearbeitung (die Heidelberger ;
Grimma) des Freidank ^) hat dementsprechend fast alle Spuren
der Priamelform getilgt So ist denn auch, was aus der strophischen
Dichtung des Minne- und Meistersangs mit dem Priamel sich zu be-
rühren scheint, meistens nur stilistischer Natur und wurzelt regel-
mäßig in bestimmter Kunsttradition, die schließlich von dem Improvl-
>) HMS 3, 468 ff. Ob der Beginn der 31. Strophe priamelhaft war,
bleibt zweifelhaft.
464
satioDSgedicht weit ableitet. Selten läßt sich der simple Priamel-
spruch unter dem verhüllenden Wust der Künstelei noch kenntlich
machen. Manche Erwägungen fuhren hier nur in einen Wald von
Fragezeichen.
Wenn die priamelartigen Sprüche der Havamal, wie Müllen-
hoff einmal andeutet^), erst in die zweite Hälfte des 12. Jhs. zu
setzen wären — was* ja nicht der Fall ist — , würden sie mit
dem ersten Auftreten solcher Formen in deutscher kunstmäßig
strophischer Spruchdichtung ungefähr gleichzeitig sein. Sper-
vogel^) hat die bis dahin nur undeutlich anklingende und in
volksmäßiger Tradition geübte Priamelform in die Literatur ein-
geführt; nicht in ihrer ursprünglichen Oestalt, sondern wie wir
sahen, in künstlicherer strophischer Überarbeitung, die sie zu
musikalischem Vortrag geeignet machte. Den alten Vierzeiler
glaubten wir an mehreren Stellen noch erkennen zu können ; aber
auch schon in längerer Beihe versucht er sich. Die Begabung
des Dichters für den Volksspruch, der Zusammenhang mit der
altvolksmäßigen Kunst ^) sind unverkennbar. Wie Talent*), künst-
lerische Absicht und Tradition % der Satzbau des zurückgehaltenen
Affekts^), psychologischer Mechanismus und primitives Denken
sich hier mischen, ist nicht leicht zu sagen. Das Spruchgut
dieser Poesie ist teilweise uralt; nahe berühren sich einige Sprüche
Spervogels mit denen der Havamal ; auch die Art der Verknüpfung,
die Häufung teilt er mit der altnordischen Spruchpoesie; das alt-
nordische Spruchgedicht und Spervogels Sprüche haben den gleichen
Nährboden^) in der volkstümlichen Gnomik der Fahrenden. Um
es literaturfähig und singbar ^) zu machen, verarbeitet Spervogel
das Priamel in ein künstliches System ; ein durchgehender Anfangs-
») DAK 5, 279.
«) Roethe ADB 35, 142. Schönbach WSB 141, 9 ff.
3; Arnold Berger hat Zs. f. d. Phil. 19, 440 ff. die volkstümlichen
Grundlagen des Minnesanges und S. 457 ff. die Gnomik besonders behandelt,
ohne des Priamels zu gedenken. Vgl. Schönbach, Walther S. HO.
*) Roethe ADB 35, 142. Eraepelinin den Philosophischen Studien
2, 133 f.
^) Burdach, Reinmar und Walther S. 55 f.
6) Wundt, Völkerpsychologie I 2, 346. 300 ff.
?) Meyer, Altg. Poesie S. 452 f. 536. 324.
8) Scherer, Deutsche Studien 2, 472.
4^65
f öfm vetfeiiidet vier Sprüche ^), von denen der zweite im Bau demf
Priamelspruch am' Nächsten kommt.
Swer einen friunt wil suocheh da ^r sfn niht enhat,*
und vert ze walde spüren sd der she zergat,
und koufet ungeschouwet vil,
und haltet gerne vlorniu spil,
und dienet einem boesen man
da ez äne Ion belibet,
dem wirt wol afterriuwe kunt,
ob erz die lenge tribet').
Es wird ein einfacherer synthetischer Sechszeiler dieser Strophe
zu Grunde liegen. Ihre Selbständigkeit bezeugt die gesonderte
Überlieferung in einer Münchener Handschrift^). Der Schluß
klingt etwas humoristisch. Den Kern der dritten Strophe dieser
Gruppe bildet wahrscheinlich ein alter Vierzeiler*); die erste
Strophe kommt über die Häufung von Vergleichen, die vierte über
gehäufte Sprichwörter nicht recht hinaus. Außerhalb dieser Gruppe
begegnen wir noch der uralten Form gehäufter Vorschriften mit ,sol' ^)
und einem Spruch, der eine priainelartige Steigerung enthält^),
deren ursprüngliche Form sich aber niclit mehr erkennen läßt^).
Unter den Strophen Beinmars des Alten ist ein sicher
nicht von Reinmar herrührender priamelhafter Spruch ^) überliefert,
dessen Bau nur wenig gestört und dessen Modell in der Bescheiden-
heit erhalten zu sein scheint^). Motiv und Bau gleichen sich in
beiden Stellen. ... . , , ,, ^ ^ .„. .
Blate und kröne wellent muotwillic sm:
so wsenent topfknaben wislichen tuon:
s6 jaget unbildc mit hasen eberswin:
so erfliuget einen valken ein unmehtic huon:
wirt danne der wagen für diu rinder gende,
treit danne der sac den esel zuo der mUln,
wirt danne eltiu gurre zeinem vUln,
s6 siht manz in der werlte twerhes stende.
*) über solche Besponsion Roethe, Reinmar von Zweter S. 313.
2) MF 21, 19. WSB 141, 13. Scherer 2,472.
3) 0ml. 4612. 40, 46 b. Zum Inhalt, insbesondere zu 21, 15 ist Göttinger
Beiträge 2,51 Nr. IX a zu vergleichen. Fr ei dank 85, 5 ff.
*) Oben S. 295; ebenso 30, 34. Schönbach S. 13 f. *) MF 20, 9. 22, 25.
6) 23, 21. '') Vergl. die späteren Fassungen MF* S. 237 f.
^) MF* 310. Dazu Berger in der Zeitschrift für deutsche Philologie
19,456 und Roethe S. 248.
9) 133, 27.
Baling, PriameL 30
466
Es ist das alte YolksmäOige Motiv der Verkehrtheiten^), das
die ganze Priameldichtong Tariiert. Verwandt damit ist die schon
erwähnte Strophe Walthers 80, 19:
Unmise, nim dich beidin an,
manltchiu wip, wipliche man:
p£afliche ritter, ritterliche pfaffen,
mit den solt du dinen willen schaffen:
ich wil dir si gar ze stiure geben,
und alte jangherren ftir eigen:
ich wil dir junge altherren zeigen,
daz si dir twerhes helfen leben.
Boethe sagt mit Bezog auf diese Strophe: „Als Walther
einmal einen kleinen Ansatz zur Priamel macht, da trifift er gleich
einen gemäßen^) Inhalt^; die Form nämlich ist bereits so subli-
miert, daß das zu Grunde liegende Gerüst des alt - volksmäßigen
Spruches kaum mehr wahrnehmbar ist. Noch allgemeiner ist ein
anderer Bügespruch (21, 29) gehalten:
Diu sunne hat ir schin verkeret,
untriuwe ir simen üz gereret
allenthalben zuo den wegen:
der vater bf dem kinde untriuwe vindet,
der bruoder sinem bruoder liuget:
geistlich leben in kappen triuget,
die uns ze himel solten Stegen:
gewalt gSt üf, reht vor gerihte swindet.
wol üfl hie ist ze vil gelegen.
Was sonst bei Walther als priamelhaft angesprochen werden
könnte ')y findet als Aufzählung und anapborische Beihe seine
Erledigung *),
Auch für Bein mar von Zweter^) war das einfache Steg-
reifgedicht zu vulgär, er läßt es nur in ganz eigentümlicher Um-
formung durchschimmern. Es sind zwei Beispiele vorhanden;
eins (93) gehört noch seiner böhmischen Periode an.
^) Das moralische Seitenstück: Roethe zn Beinmar 175, 10.
•) Freilich ist er zu geistreich für einen Yolksspruch.
3) 26, 13. 84, 1. 83, 27. 112, 10. Roethe S. 301. 317.
*) Vergl. Winsbeke 49, 1 ff. Roethe S. 211.
&) Boethe S. 246 ff.
467
Waz hilfet äne sinne kunst ?
waz hilfet wol gehoeren, der dar zuo nicht hat vernunst ?
waz helfent schoeniu ougen den, der daz wseger nimmer kan ersehen ?
Waz hilfet rfcheit äne rät?
waz hilfet vil geheizen, ders niht muot ze tuonne hat?
waz hilfet mannes schoene, von dem doch nimmer ere kan geschehen?
Waz hilfet Sterke, der si niht versuochet ?
waz hilfet dienest, da man sin niht ruochet?
waz hilfet ouch gebeitiu minne,
diu niender von dem herzen kumt?
noch minner zallen saelden vrumt
des mannes leben, der valsch ist üz unt inne.
Beinmar sucht hier ein altes, in den beliebten, mit ,ohiie'
negierten, antithetischen Gliedern durchgeführtes Motiv in die
höhere Sphäre der eignen sittlichen Denkart zu heben, und indem
er mit Nachdruck die Treue des Mannes an den Schluß stellt,
erreicht er eine nicht üble Steigerung. Ganz undeutlich erkennt
man die in späterer Priameldichtung landläufigen Verbindungen:
Hören und nicht Verstehen (2), Reichtum ohne Verstand (4).
Versprechen und nicht Halten (5), unerbetener Dienst (8), Liebe
ohne Treue (10). Allerdings wird durch solche Verfeinerung der
priamelartige Spruch blutleer, dürftig und etwas langweilig; es
ergeht dem Priamel dann wie der Waldblume, die im Garten
nicht recht gedeihen will. Nicht weniger als der Inhalt ist die
Form sublimiert; die pathetischen Fragen ,waz hilfet' und der
nachdrückliche Übergang zum Schluß haben etwas scheinbar
Rhetorisch-Posenhaftes, das dem Priamel an sich fremd ist. Doch
gerade hierin hat Reinmar nur gar zu eifrige Nachahmer gefunden ^).
Wie er damit die syntaktischen Schwierigkeiten des Priamels
vermied, hat Roethe (S. 247) feinsinnig motiviert^). Was die
Herkunft der anaphorischen Frageform anbetrifft, so brauchte
Reinmar nur an das volksmäßige und in der Spruchdichtung seit
Spervogel (21,5) geläufige Stilmittel anzuknüpfen. Der Zu-
sammenhang mit dem Rätsel, den Roethe zweifelnd andeutet, ist
nicht wahrscheinlich, weil er, wie R. selbst schon bemerkt hat,
auch in dem späteren volkstümlichen Priamel nicht vorhanden ist.
') Roethe S. 247.
^) Vorausgesetzt, daß Reinmar ein Priamel oder etwas ähnliches
schreiben wollte; was ich nicht glaube.
30*
w;*
«.su-ihiiisst ro'nAiiiiifti^isEa]^ iiszl gaiue Beiliea
Uta t>*»»*»^
SjiiiK ^*n de -hibiibb tax ^Kguuuhi:
iLmitt
- -r r^-i^'^i Ti.r li^ la iiitt. r^inr. iiartr u. i. sind in Tolks-
. vii^ '«?..:ii ^ni;;r'tüiitir. tjuit* ULu "ir zum Priamel faliren*).
-•rrOAi iiiis. iuii fiiHmail. »ir Ii.k r. pT^agereihen schwelgt^),
- ^-.o -Tu Hiu^wiriim amfUiinei^ »L-i <^e -^twa^ Reinm&r eigenes
.at mur»i iMi^iiitv irrao**- m^. - '*^ini bei Üeinmar ist
"i*iiir-** -C*i«imu, wHui:'-' "?•!!"• "»iä- ^ i*irit**ier. eoeotio »bOs ab-
-i: *. — . . .^^ . r vwii ÜTCn kamer vert:
... . i f K\4 , iji»> nrh. Keimes:
• ^
^ I ntj H.?rTmaiiii 1, 9<.>.
. r . .v..m«t4.> Nt. 4:JS^. iSlL
. •.. ij:r Nt. 3S4- 479.
. .. -♦•».- Vi'lfram.
.« d j .In r^'f riande S. 55.
. . ; i::i vai.L.. Bauen
"T^i.
» •
::. u >.
4fi9
Was sol ouch ir vil süezer name?
waz suln ir guotiu cleider, ob si diu treit ane schäme?
waz sol ir wibes gUete, ob si sich tugende mit uneren wert?
Waz sol ir schcene, clärheit unt ir jagende?
waz sol, ob si wil alten ane tugende?
waz sol, ist si nach Gote gebildet?
ir reinen man, ir werden wip,
hazt als6 schoenen boesen lip,
A
der Schanden zamt unt sich gar Eren wildet^).
Unter dem apokryphen Namen Gasts ^) sind 2 Strophen über-
liefert, die, wie Beinmars sogen. Fragepriamel gebaut, echtere
Priamelmotive verarbeiten: der Bitter ,der sin tac mit laster hie
verzert^),' der Landesherr ohne Mute (Gnade), der ungelehrte
Priester, ein Kaufmann ohne Gewinn, der Jäger ohne Hund und
Hom.
, Waz sol ein keiser ane reht, ein habest an barmunge?
waz sol ein kUnic an muten muot, waz sol ein fürste dn schäm?
waz sol ein ungetriuwer munt, darinne ein valsche zunge,
diu mangem dicke schaden tuot? si macht gesunden lam.
waz sol ein graf, der niht kan tugende walten?
waz sol ein frie, der sin triuwe niemer wil behalten?
waz sol ein richer dienestman, der sich nicht schänden wert?
waz sol ein ritter, der sin tage mit laster hie verzert?
Waz sol ein schoenez wip gar ane tugent und an ere?
waz sol ein landes herre, der dekeine milte hat ?
waz sol ein priester ane kunst der rehten gotes lere?
waz sol ein junger ritter, der niht ritterschaft begat?
waz sol ein koufmann, hat er niht gewinne?
waz sulent kloster unde bruoder 4n die wären minne?
waz sol ein bürge, der niht leisten wil dur sinen zorn?
waz sol ein jager ane guote hunde und ane ein hom?
waz sol ein valkensere, und hat er niendert vederspil?
unnützer ist ein kiinic, ob er niht rehte rihten wil^).
Wie sich diese Manier in der Spruchdichtung fortpflanzt, hat
Boethe (S. 247 f.) gezeigt, und wohin derartige Technik steuert,
lehren meisteVsängerische Nachahmungen (Kolm. Hs. 122, 150):
in blasse, breitzerflossene Bhetorik. Die Sprüche des Minne-
') Nr. 210. Eoethe S. 514. 209.
3) HMS 2, 260. Roethe S. 189. 240.
^ Göttinger Beiträge 2, 68. Nr. 44.
^) Bartsch, Die Schweizer Minnesänger S. 161.
470
und Meistergesanges verhalten sich ähnlich zum Bosenplütschen
Priamel wie die Quatrains zum Priamelvierzeiler.
Dagegen weist Eeinmars 97. Spruch mit der Steigerung der
Begriffe muntvol, hantvol, schözvol, malter, mütte auf den Priamel-
fünfzeiler: Ein ei ist ein muntvoP), oder wenigstens die darin
enthaltene BegriflFssteigerung: Mundvoll, Handvoll, Schoßvoll,
Nimmervoll zurück. Das Motiv gehört also dem 13. Jahrhundert;
es ist möglich, daß die Zote sich in diese Klimax erst später
eingedrängt hat^). Entfernt klingt Beinmars Spruch von der
Trunkenheit (Nr. 111) an Freidanks Vierzeiler (94, 1), sein
190. Spruch an den Spruch der Bescheidenheit 22, 12 an.
Wenn der Marner die zehn Gebote oder die sieben Tod-
sünden, das Vaterunser, das Ave Maria zusammenreimt, so kommt
dabei weder der Bau des Stegreifgedichts noch die Gattung des
späteren Priamels in Frage. Seine Motive sind andrerseits oft
echt priamelhaft: zwei Hunde an einem Knochen (VI 2), des
Reichen Lüge, des Armen Hoflfahrt, des Alten Torheit^). (X 18.)
Sol daz heizen guot, daz nie man hie ze guote kumt?
begraben hört, verborgen sin, der werlte vrumt
alsam der iuweln vluc,
der gires smac, des raben slunt, des aren grif, des wolves zuc,
der müggen marc, des bremen smalz unt des loupvrosches schre. (X 9.)
ZuRosenplüts Spruch von der Spothilt genannten Welt ist
eine Strophe Mamers das Gegenstück (VI 3).
üz eime herten steine zuker billen,
ald üz eim vülen holze wahs bern,
wer kan dirre werlte nach ir willen
sprechen, aide sinen sanc verzeren?
Volkstümliche Priamelmotive und -eflfekte liebt der Tann-
häuser. Freilich steht seine Fischartsche Freude an aufge-
zähltem Wissenskram, selbst wenn die pointierte Aufzählung ans
Priamel erinnert, auf einem andern Blatt*). Aber einige Strophen
«) Göttinger Beiträge 2, 18. Oben S. 336.
t ') Reinmar meidet bekanntlich schon den durch ,8un von boesen
wiben' umschriebenen Ausdruck (Rocthe S. 284). Beim 182. und 195. Spruche
ist der Volksspruch nicht bis zur Unkenntlichkeit zerstört. Boethe S. 245.
3) Strauch z. d. St. und Loewer, Patristische Quellenstudien S. 27f.
*) Roe the S. 317. HMS. 2, 94a 4. Im allgemeinen Erich Schmidt,
Charakteristiken 2, 24 — 50.
471
scheinen in ihrem Bau oder inhaltlich teilweise späterer Priamel-
dichtung zu entsprechen. Das antithetische Motiv, auf das er
zwei Strophen (2, 94b 1; 95b 2) baut, kehrt in einem ebenso
persönlich gehaltenen unsauberen Priamel Folzens') wieder. Das
Motiv des überraschenden Schlusses ist volksmäßig.
Mei Diendl haßt Nannerl,
Hat schneeweiße Zahnerl,
Hat schneeweiße Knie,
Abr gsegn hab is nie 2).
I bin wohl a Jaga.
I hab wohl a Buchs,
I schiaß aa wohl aufü,
Aber acha fallt nix 3).
Ka Straßn ohne Stan,
Ka Wald ohne Bam,
Ka Bue ohne Diendle,
Krat i bin allan^).
Wiederkehr ist uns beschieden
Aus dem Wald und aus der Lichtung,
Von der Wies und von dem Felde,
Von der £bne, von der Höhe,
Von dem Berg und von dem Tale,
Von den Teichen, von den Sümpfen,
Von den fahrvoll engen Sunden,
Selbst von der gewaltgen Meerflut,
Aber nicht aus Monas Reiche,
Aus dem Schattenreich der Toten ^).
Eine andre Strophe Tannhäusers (2, 96 a 3) verarbeitet ein
Motiv, das wir schon in einem mittelniederländischen und einem
Nürnberger Vierzeiler verwandt sahen ^).
Diu schcenen wip, der guote win,
diu mursel an dem morgen,
unt zwirent in der wochen baden, daz scheidet mich von guote u. s. w.
1) Göttinger Beiträge 2, 76. Nr. 60.
2) Pogatschnigg und Herrmann 1^, 19. Nr. 90 mit Variante. Hör-
mann, Schnaderhüpfeln' S. 83. Nr. 229.
3) Gundlach S. 192. Nr. 972.
*) Pogatschnigg und Herrmann P, 1. Nr. 4.
^) Altmann, Bunen S. 14.
«) Altdeutsche Blätter 1, 76. Nr. 23. Göttinger Beiträge 2, 60. Nr. 30.
472
An das hnmoristiscbe Bekenntnis seiner Arnint (2, 96b 6)
klingen moderne Vierzeiler an. Zum Beispiel:
I kann nimmer fabrn.
Der Wagen is zschwar,
Die Rößlen sein mager,
Der Geldbeutel lar*)!
Die StimmuDg ist die des Galgenhumors:
S Geld han i versoffn,
S Mensch han i vertan.
Und s Gwantl verfetzt,
Was fang i hiez an^)^
Aus is mit mir,
und mei Flaus hot ka Tür,
und mei Tür hot ka Schloß,
und mann Schatz bi ich los 3).
Im Grunde denselben vorzüglichen Effekt, wie Folz (Göttinger
Beitr. 2, 80. Nr. 68.), erzielt der Unverzagte mit seinem
Scheltspruch auf König Rudolf*).
Der künic Ruodolf minnet got und ist an triuwen stsete,
Der kUnic Ruodolf hat mangen schänden wol versaget,
Der künic Ruodolf rihtet wol und hazzet valsche rsete,
Der kUnic Ruodolf ist ein helt an tugenden unverzaget,
Der künic Ruodolf eret got und alle werden vrouwen,
Der künic Ruodolf lat sich dicke in höhen eren schouwen,
Ich gan im wol, daz im nach siner milte heil geschiht:
Der meister singen, gigen, sagen, daz hoert er gerne — und git in drumbe niht.
Nachgeahmt hat den Unverzagten Stolle in seinem Schelt-
spruch:
') Gr e i n z-K ap f e r e r , Schnaderhüpfeln 1, 127. Vergleiche T ann hau s er :
,inin malhe ist worden lasr'.
jinin söumer treit ze ringe gar, min pfert gät ze swaer'.
Lied des Jobsen aus dem Singspiel Der lustige Schuster von Christian
Felix Weisse, komponiert von Standfuß. Friedländer, Das deutsche
Lied im 18. Jh. 2, 254: „Das Geld ist versoffen, der Beutel ist leer".
3) Pogatschnigg und Herrmann 2, 43. Nr. 171. VergL2, 203.Nr.612.
Hörmann, Schnaderhüpfeln ^ S. 27. Nr. 72.
3) Dunger, Rundas Nr. 598. Vergl. Tannhäusers Haus ohne Dach
und Stube ohne Tür.
*) HMS 3,45a 1. VergL 3,5a 11. 2, 138a HL Boethe, Reinmar
S. 228. Marner XV 22.43,
473
Der kiinec von R6me ne git ouch niht, unde hat doch küneges guot.
er ne git ouch niht, er ist wserlich rehte also ein lewe gemuot.
er ne git ouch niht» er ist kiusche gar.
er ne git ouch niht unde ist doch wandeis eine.
Er ne git ouch niht, er minnet got unde eret reiniu wip.
er ne git ouch niht, ez enwan nie man s6 vollekomen lip.
er ne git ouch niht, er ist schänden bar.
er ne git ouch niht, er ist wis unde reine.
Er ne git ouch niht, er rihtet wol.
er ne git ouch niht, er minnet triuwe und dre.
er ne git ouch niht, er ist tugenden vol.
er ne git ouch leider nieman niht, was sol der rede mere?
er ne git ouch niht, er ist ein helt mit zUhten wol gemeit.
er ne git ouch niht, der kiinec Kuodolf,
swaz ieman von im singet oder geseit*).
Daß die Pointe Stolle besser als dem unverzagten ge-
raten sei, wird man allerdings Seydel schwerlich zugeben. Auch
grobianische Scherzlehren, wie der 9. Spruch StoUes, das aus
älterer Dichtung wohlbekannte gehäufte ,sol^ verwendend, sind
als Priamel nicht wohl anzusehen:
Swelch junger herre balde lop unde ere erwerben wil,
der sol der messe unde des gebetes ahten niht ze vil«
sin nühtem trunc, sin morgensegen,
slint er den vruo, wie mac im misselingen?
Ein junger herre vaste liegen unde triegen sol,
ot vil gedrewen, unt lUtzel tuon daz zirat im allez wol.
er sol ouch boescr worte phlegen,
nach lotere unde nach huore vaste ringen.
Er sol undaeres gruozes sin
unde über dem tische jsemerlich gebaren.
die guoten spise unde ouch den win
sol er vermüchen darzuo sol er eines winkeis varen.
meineide unde ouch unendelich, daz ist allez wol getan;
den vriunden wolf, den vienden schaf,
unt sine diener in den nceten lan^).
Als wirkliche ,Priarael' wird von Seydel StoUes 26. Ge-
dicht angesprochen.
Ich weiz wol wanne min armuot ein ende haben sol:
s6 herzöge Meinhart Kerntenlant vermildet unde Tirol,
^) Seydel, Meister Stolle nach der Jenaer Handschrift. Dissertation
Leipzig 1892. S. 78. Nr. 10; vergl. S. 65.
*) Seydel Nr. 9. S. 78; vergl. S. 65.
474
unde der giege üz Osterlant
umbe ere gibet die guoten stat ze Wiene.
S6 herzöge Heinrich von Bcierlant oiht me milte enphliget,
so der kUnec Ruodolf deme soldan an gesiget,
unde der Swarzwalt wirt verbrant,
unde daz mer gevUUet wirt mit griene.
So WUrzeburc niht wines hat,
unde alliu wazzer werdent vische laere;
so zucker wirt eines Juden quat,
unde alten hoverehten wibes minne vreudebaere.
s6 der bischof von Strazburc Kuonrät blibet ane nit,
unde der vUrste wert von Baden
die alten Ebersteine durh vorht üf git*).
Näher als dem Priamel steht dieser Spruch jedenfalls der
LügendichtuDg von unmöglichen Dingen^). Boppes merkwürdige
Poesie ist wie die der Galanten und mittelalterliclie Spruchdichtunp:
der Romanen der beste Beleg dafür, daß auch unabhängig vom
Priamel stilistisch ähnliche Erscheinungen üppig gedeihen können.
Und doch scheiden sie sich glatt von dem deutschen Volksspruche,
wenn auch Anklänge nicht zu verkennen sind. Für Boppe, den
Schüler des Tannhäusers, den ,,Fanatikür der Häufung^, bei dem
die Aufzählungsmanier ^) ^nahezu das herrschende ästhetische
Princip geworden ist," hat die Kunsttradition Roethe nachgewiesen.
Die altfranzösischen Balladendichter führt der Refrain^), die Galanten
die Lehre von der geistreichen epigrammatischen Pointe *), manche
Madrigalisten die zu behandelnde Sentenz ^) zu gleich ermüdendem
Verfahren.
Boppes erstes Gedicht fordert den Vergleich mit einem
Folzischen Priamel heraus. Beide malen sich Ideale aus, beide
schließen mit fragendem Ausruf. Boppe vergegenwärtigt Macht,
Kraft, Gewalt, Glück dieser Welt, Besitz eines schönen, tugend-
haften Weibes, um dann zu fragen:
waz wsere ez danne, und ob er niht erwürbe Gotes hulde^}.
1) Seydel S. 87; vergl. S. 64.
2) Uhland, Volkslieder 3^, 161 ff.
^ Auch volksmäßige Nürnberger Dialektdichtung übt sie im Princip.
Am längsten Die Leipziger Messe von W. Marx, 's Gänsemandla. Nürn-
berg 1887. I 6, 1.
*) G. Paris, Villon S. 103. ^) Q¥ 56, 106 ff. 120.
«) Vossler, Das Madrigal S. 76 ff. ') HMS 2, 377b.
475
Solche Gesinnung lobten Hugo von Trimberg (21084 flf.)
wie der Verfasser der Helbling-Satiren (1, 105—22). Wie völlig
hat sich das im 15. Jahrhundert mit der Entwicklung des
modernen Bewußtseins geändert, wenn man sagen konnte: ,0b
mich got selb solt füren zu himmelreich mit sei und leib, ee
wolt ich bei dem schönen weih hie ufiF erden beleihen'^)! und
das Volk hat wohl immer so gedacht^). Folz^) schließt die
Ausmalung des häuslichen Glücks, bei dem Essen und Trinken
die Hauptrolle spielen, mit der Frage: ,Solt der nit gern auf
erden leben'? Die Bhetorik des ersten Spruches verwendet Boppe
auch im zweiten, der ähnlich gerät*). Ein drittes Mal setzt er
in derselben Weise das Geld in Gegensatz zu sonstigen Vorzügen,
(21) in ümkehrung eines späteren Priamelmotivs (Göttinger Bei-
träge 2, 18); ein viertes Mal (22) wird Frauengunst als Pointe
verwandt, ohne aber die Hauptsache zu sein^). Dann erklingt
(3. 4. 19.) z. B. in den berüchtigten anaphorischen Reihen Lob
der Milte und der Barmunge, Tadel der Kerge^); ein unerfreu-
liches Verfahren, dem Folz wieder verfällt, aber ohne an die
strophische Spruchdichtung anzuknüpfen; Quelle und Vorbild
war ihm die Reimpaar-Didaktik. Litaneiartig werden Anrufungen
Gottes und der heiligen Jungfrau (13. 17. 27.) gehäuft. Noch
weiter ab von priamelartiger Dichtung liegen die von Eoethe
gekennzeichneten Aufzählungen^). Gehäufte Umschreibungen für
Nimmer (2, 384b IV. 385b VIH 1—5) teilt Boppe mit dem
Priamel und der sonstigen Volksdichtung 0), ohne daß besondre
Verwandtschaft einzelner Motive hervorzuheben wäre. Das glück-
liche stilistische Arrangement, das Kanzler seinen Registern zu
geben weiß^), erinnert in seiner Wirkung mitunter an die des
Priamels; z. B.
1) Hätzlerin 2, 57, 208 ff.
^) Altdeutsche Blätter 1, 75. Vriont van trouwen. Ebenso die Vier-
zeilerliteratur. GundlachNo. 163. 205. von Padbcrg, Inschriften ' S. 93.
3) Göttinger Beiträge 2, 79. Nr. 65.
<) 2, 377 b, f.
*) Roethe S. 208. 199. Johann von Rinkenberg 1, 341a. 14. 15.
6) Kanzler 2, 399a. 18. 19. 20. Roethe S. 309 jff.
7) 317 f.
8) Hauffen, Die deutsche Sprachinsel. Gottschee S. 168 ff.
9) Roethe S. 317.
47fi
In steten, üf bürgen widerpart,
geistlicher liute nit und haz,
bi wiser l^re unwisiu tat,
bi krefte ein zager muot,
roup unde brant üf gotes vart,
an valscbe snel, an rehte laz,
adel äne tugent, jugent äne rät,
äne ere gr6zez guot:
sus ist gestalt der argen vltz^).
Baumsland umschreibt einmal den Salomonischen Anspruch
über alte Toren, reiche Lügner und hoffährtige Bettler. Während
sonst dieser biblische Spruch ein rechter Volksspruch geworden
ist, zeigt Baumsland noch kaum eine Spur davon.
Der kUnic Salomdn gewaltic unde rieb,
der wfse man, er sprach: »ez ist unlobelich,
daz sich ein alter man ze t6ren machet;
Daz ouch des riehen mannes wort ist vil gelogen,
der habe undanc, arm man h6chvertic unde betrogen:
der drier bände liute sselde swachet.«
Got ist in sunderlichen gram, den alten t6ren, riehen lUgenseren;
des armen menschen h6chvart, der ez niht wol vermac,
der lidet in der werlde mangen swaeren tac:
nach irme t6de lit ir sele in swaeren').
Ebensowenig priamelhaft fällt die Umschreibung anderer
biblischer Spruchmotive durch Frauenlob aus, der „noch einmal
die ganzen Stoffe der früheren Spruchdichtung vor uns ausbreitet 'j.
Im Bau priamelartiger Strophen geht er über das, was frühere
Spruchdichtnng derart bereits versucht hatte, wesentlich nicht
hinaus. Trotz seiner überproduktiven Phantasie^) sind die Bei-
spiele, mit denen er priamelhafte Motive ausgestaltet, oft mühsam
abstrahiert und entspringen weniger der Anschauung als Reflexion.
So das Thema ,Alles nach seiner Art/
Ein hane sol kren, ein bunt sol bellen, kerrn ein swin
nach dünken min:
s6 sol ein lewe limmen
und der ber sol brimmen.
») HMS 2, 397b 8.
^ HMS 3, 54a 3. Ähnlich Bruder Wernher 2, 230b 16. Zingerle
S. 70.
3) Roethe 8. 350. 246 f. Vergl. z. B. Freidank 128, 6 ff. mit Frauen-
lob 3, 118a 31. «) Roethe 8. 274.
477
dem ochsen lUn, dem rosse zimt weien Dach der stimmen.
wie sol des esels lüten sin, s6 gouchen zimt dem gouche?
Ein smit sol smiden, ein bader baden, ein jager jagen,
ein trager tragen,
ein mdler bilde zirken;
sar den sarewirken
zimt eben: der kneht zu dienste pflege beidenthalp der lirken.
dem muncbe zimt sin kl6ster baz dan er zu höbe sich ouche.
Dem priester ist priesterschaft gegeben,
dem ritter ritterlichez leben,
dem weber weben.
swa man liez eben
daz diqc nach siner art bekleben,
s6 kern ez niht üf widerstreben.
der hof n4ch unart verwet sich alsam der verst nach rouche^).
Ebenso gestaltet er das Motiv vom Schicklichen:
Ein jager sol wol jagende hunde haben wert:
man roüz die pfert
durch riten haben in wirde,
durch des libes zirde
stein unde golt und edel wat; durch ein teil bcgirde
daz vederspil man sch6ne ernert: man heget den visch durch niezen.
ein bischof zimt
swa man sol kirchen wien.
sol der schuz gedien,
man müz den bogen e schicken eben, nach h6hen prise vrien
müz man mit tugent: der sluzztl vromt, swd man sol sl6z üf sliezen.
Sam hört zu ritterlicher tat
ein ritter wol und ouch sin rat.
swer sorge hat
üf ernstes pfat,
der darf wol helde, swennz ergat
daz sich der heim üf binden lät.
ich wene eins biderben mannes tat sich niemen Idt verdriezen ^).
Durch gehäufte Beispiele werden in anderen Spruchreihen
Sätze erhärtet wie: ,ein zltlich zit sich tempert mit gezierde^
(Nr. 2G8) oder ,diu zuht ist blint, diu sich ir selbe riuwet* (Nr. 269).
Die sogenannte Fragepriamel ist bei Frauenlob stark entwickelt ^).
*) Bartsch, Liederdichter ^ 248, 55.; vergl. Meisterlieder Nr. 22.
2) Bartsch, Liederdichter 3 249, 93.
3) Roethe S. 247.
478
Auf einen vierzeiligen Volksspruch seheinen die Verse zurückzu-
gehen :
Mit jungen junc, mit alten alt,
mit snellen balt,
mit vrevelen vrech, mit hübschen wolgestalt,
ie nach der zit sol man daz wegen *).
Als die beste „ganz streng gestaltete*^ Priamel Frauenlobs
gilt^) der 394. Spruch.
Künde ich den tac mit secken in gevüeren,
vieng ich den wint in stricken und in snUeren,
und schepfte ich waszer mit eim sibe
als vil es mich benuocte;
Sset ich daz körn in dorne und ouch in steine,
möht sich z gevUegen, min sniden würde kleine :
swer boesen herren dienen muoz,
des heil sich Uberbuocte.
Vil minner nutzes im geschiht
als einem, der vil veiles siht,
unt hat sin niht ze gelten :
er nimt der ougen lust mit dem gesihte do:
in boeser herren dienste wirt man selten vro,
unt wirt ouch nimmer kumbers buoz
von in, daz hoere ich selten.
Als Priamel hätte der Spruch nicht geringe Mängel; die
Durchführung erlahmt schon vor der Mitte, und was dann folgt,
ist nicht mehr priamelhaft gebaut; der abschließende Satz: ,m!n
sniden würde kleine^ kann übrigens auch nicht recht in Beziehung
zum Anfang gesetzt werden und paßt nur zum Säen. Kegel-
mäßiger sind zwei hier sich anschließende Strophen der Kolmarer
Hs. (39) gebaut:
Künd ich daz fiur in wazzer wol bestseten,
künd ich daz körn wol sniden vor den saeten,
trüeg ich den regenbogen dar den Hüten an die Straten;
Künd ich den sne geherten in den henden,
künd ich den künic von Ungern her gepfenden,
und wiste ich aller liute sin, die maze und ouch unmaze;
Künd ich den sunnenglanz erwern,
den siechen von dem tode emem,
künd ich varn in den lüften,
und künd ich zouberie me wan Filius,
1) HMS 3, 153b 5. «) Eoethe S. 246.
479
künd ich mir selbe glücke wünschen scbepfen sus:
so füere ich in der weite hin und wolte froelich güften.
Künd ich mir üf den regenbogen hüsen,
künd ich mir für die starken winde süsen,
und künde ich über mere jagen mich selben äne kiele;
Künd ich daz golt gesmelzen üz den steinen,
künd ich die boesen scheiden üz den reinen,
traet ich üf eines tracken zagel, er slünd mich in den giele;
Der herinc vanc waer mir wol kunt,
und künde ich aller wazzer grünt
gewaten ane schiffe;
west ich dann aller wiser pfafFen meisterschaft,
und het ouch dar zuo aller starken helde kraft:
Dannoch s6 waer der t6t min hagel, swann er mich nu ergriffe.
Vier unechte Eeinmarsprüche (303—306) der Spiegel-
weise, die in der Kolmarer und Wiltener Meistersänge r- Hand-
schrift überliefert, einen mitteldeutschen Dichter zum Verfasser
haben*), kommen dem Priamel recht nahe.
Es sol ein frunt mit frunde iiit vil bagen,
es sol kein priester in der bicht zu tieff nach sunden fragen,
es sol nit krancke meinsterschaft mit Juden disputieren;
Es sol kein man sin gut mit wucher riehen
man sol die frommen, wie die sin, zun bösen nit geliehen,
ein junger man sol sinen lip mit züchten schone zieren;
Die wisen soln von torheit lan,
dem rechten sol man bi gestan
werlich zu allen stunden;
vor schänden soln behüten sich die werden,
nach eren sol ein iglich man schon werben hie uff erden:
wer daz nu tut, der gewint daz lop vor gesten und vor künden^).
Die gehäuften Vorschriften mit: ,es sol' würden an sich gar
nicht priamelhaft sein; erst der Schlußsatz gibt die Abrundung.
Das Disputieren mit Juden kommt in späterer Priameldich-
tung vor'). Strenger gebaut ist der zweite Spruch (304).
Wo hohes adel sich an tugenden swachet,
wo frundes munt sins herczenlieben frundes leit erlachet,
wo junger man die sine zit on ere gar verswendet.
Wo wiplich bild ir wiplich nam enteret,
wo junger man tag unde nacht das beste nit enleret,
wo milte hant dorch falschen rat dem armen nit ensendet,
1) Eoethe S. 173. 175. •^) Roethe S. 559.
3) Göttinger Beiträge 2, 71. Nr. 51, 13 ff.
4S6
Wo geistlich ordn unrechtes pfligt,
wo kunterfei in herczen ligt,
wo zag stat hinder schilte,
wo liebes kint den vatter sin betraget
und wer eiro andern nimpt sin gut und zu dem- sinen buget,
hört ich den allen sprechen wol, ir lobes mich bevilte.
Weniger abstrakt und ohne Zweifel von allen vier am besten
gelungen ist der dritte Spruch, der nicht nur (1. 6. 7.) spätere
Friamelmotive, sondern auch einen halb humoristischen Schluß
wie Bosenplüt in seinem Schreiberpriamel verwendet.
Wer zeiget kunst, da man ir nit erkennet,
wer ungezempte junge ros unkundic vurte rennet,
wer lange krieget wider recht. wer vil verstolens kauffet,
Wer vil mit sinen nachgeburcn baget,
wer unverwissenlichen gar die ungezogenen fraget,
wer streichet dicke fromden hunt, wer alte Juden tauffet.
Wer dienet, da man sin nit gert,
wer sich mit lugen wil machen wert,
wer spottet vil der alten,
wer uff die ferren frunt zu sere fidet,
wer sin getruwes elich trut dorch falsche minne vermidet,
sol es dem alles wol ergan, des mus Gelucke walten!
Der letzte dieser Sprüche (306) zeigt, indem er in der
Mitte (6) abbricht, daß es auf priamelhafte Wirkung wieder nicht
abgesehen ist.
Wer wis wil sin und dörlichen gebaret,
wer sich des rechten wol verstat und er unrechtes faret,
wer frauwen übel sprichet vil und selten tut daz beste.
Wer nit enfolgt getruwes frundes lere,
und wer ein andern nit erlat, dez er gern erlossen were,
und wer nit meinstert sinen munt, es rUt in an dem lesten.
Wer sinem recht unrechte tut,
wer straffen wil nit han vergut,
wer sich zum bösen gesellet,
wer leschen wil und daz in nit enbrennet,
und wer wecket slaffenden hunt, sich selben nit erkennet,
daz sol niemanne wunder han, ob es im missevellet.
Drei Sprüche der Wil teuer Handschrift^) scheinen diesem
mitteldeutschen Dichter verpflichtet^); insofern sie priamelhaft
') Germania 5, 44. Mehrfach verdorben (1, 15. 17. 2, 11. 3, 14).
3) 1, 18 = Ps. Reinmar 305, 12. 3, 14 = 306, 11.
'481
sind, folgen sie sämtlich dem 3. Spruch (305). Ihr Inhalt ent-
spricht oft dem der besten Priameldichtung. Da wird ein Ziegel
gewaschen, daß er weiß werden soll, eine Krähe gebadet, ein
leichtfertiges Weib gehütet, in der Beichte gelogen, mit Wölfen
Schafe gehütet, ohne Geld gekauft u. s. f.^).
Im allgemeinen dürfte den oft gequälten Erzeugnissen dieser
Kunst ^) eher der Maßstab der galanten Lyrik und der halbgelehrten
Poeterei des 17. Jahrhunderts gemäß sein, als der des Priamels.
Ein direkter Zusammenhang mit dem Priamel-Vplksspruch ist denn
auch, von der inhaltlichen Grundlage abgesehen, selten zu kon-
statieren. Die Madrigalisten geraten bei der Jagd nach der Pointe
auf Formen, die man dann mit mehr Becht Priamel nennen müßte,
als die meisten Sprüche ihrer mittelhochdeutschen Kollegen der
Spätzeit. Steigernd ist ein Madrigal Henrich Bredelous gebaut:
Ein kleiner Knab tragt keinen Baicken.
Ein Sperling schertzet nicht mit Falcken.
Ein Lamm darff sich nicht unter Löwen mengen )
l^liegt eine Muck ans Licht so muß sie sich versengen.
Ein ider sol sein Thun abwarten |
Sonst ist es leicht um ihn geschehn.
Mit einem Fürsten soltu gar nicht karten |
Du habst ihm denn zuvor ins Spiel gesehn ^).
Mit mhd. Strophen teilen die Madrigale Bedauns den
zweifelhaften Vorzug musikalischer Komposition. Johann Georg
Bedaun komponierte sie selbst. Ein Beispiel:
Man kennt den TopfF am Klang:
Den Vogel am Gesang:
Den Menschen macht die Rede kund.
Der Hund sagt | das er hauset | .
Die Katz sagt | das sie mauset |
Ein Guckug nennt sich uns verständlich.
1) 3, 15 f. entspricht GA. 35, 1 f.
2) Inwiefern etwa Einwirkung des Rosenplütschen Priamels im
Meistergesänge vorliegt, wäre später zu erwägen.
3) Henrichs Bredelou (Von Königsberg aus Preussen) Neue Madri-
galen. (Nachher in den Seiten-Überschriften auch: „Allerhand Madrigaliien") .
Helmstädt 1689. S. 16. Nr. 21. Cum Leonibus non est jocandum. Vergl.
Nr. 38. S. 29. über die Kompositionsweise Vossler S. 75 ff. Künstlerische
Dürftigkeit gerät beim Marner und bei Frauenlob zu demselben Ziel.
Roethehat die Art S. 245 besprochen. >
Euling, Priamel 31
482
Sogar kamt inaii das Tliicr an
Wer sdilodlidi icdr | lebt mostenflieOs aadi triandliHi.
Red bringet Ehr | Red bringet Sdiande |
Narhdrm die Zong ist in dem Bande.
Es Bsaet sich ein fiud | mbrochen Ey abvisciien:
^n £nd GeschwäUz ^ Gemisdi
Wisdit ab kein Todi | kein Flcdcrwisdi >>.
All Vierzeilern fehlt es sdieinbar auch nicht Bredeloas
Nr. 8 endet (S. 7) wie ein Vierzeflei des Typus C:
Der Klugheit sind viel Arten |
Canindien die sind kfaig | dodi schaden sie den Hinsetn |
Ein Has ist kli^ Tor sich | doch scliadt er Kohl nnd Reisern.
Ein Maolwmff anch | allein er notxct nicht dem Garten.
Nicht anders in den Heisterliedem der Kofanarer Hs. (63,
14 fL)^.
Nu weite got daz alle wazcer beten stqpe,
nn wolte got daz niemer r^en kaeme in wege,
nn wolte got al onser sele haben in pflege:
daz wanc ein wmisch der waer so gnot: waz möhte dem wnnsdi geHdien!
Na woUe got daz nieman wilrd Ton alter kranc,
nn wolte got daz nieman titt^ sm armoot lanc,
nn wolte got daz nieman het kein boesen danc:
s6 fber din sele in aigen list inz fr6ne himebfdie').
und doch wird man geneigt sein, in solchen Kuns^rodakten
fast das Widerspiel des echten Stegrei^edichtes za sehen.
Auf priamelhafte Oestaltang Ton mehr oder weniger allge-
meinen LebensYorschriften ist bereits Kap. IV S. 118 hingewiesen.
Zwei hier in Betracht kommende Fassungen vergleidie man schließ-
lich mit den einfachen Priamelsprüchen; die erste entstammt einer
Leipziger, die andre der Kolmarer Handschrift.
>) y oßler S. 78. Genau so der unechte Mamenprach HHS. 3, 442a 2.
Kohn. Hs. 94. YgL Meissner HHS. 3, 86b 5.
>) Zn S. 261, 15—19 yergL Göttinger Beiträge 2, 18.
*) Boethe zu Bein mar 54, 1. Anch andre TolksmSßige, gelegentlich
priamelliafte Motive sind im Meistergesang verarbeitet : Nr. 22 ,olmeS 28, 39
Fiktion der hypothetischen Lage (Boethe S. 199 f.), 56, 181 Der Priester
beim Opfergang (Gott. Beitr. 2, 53. Nr. 15. Franz, Die Messe im deutschen
Mittelalter. Freibarg 1902. Index s. t. Opfergaben. Yintler 7269 ff.),
weibliche Eigenschaften 60, 1 ff. (Gott Beitr. 2, 81. Nr. 71 L) o. a.
483
Kiusche in der jugent,
erbarmik in gewalde,
milde in der tugent,
unt guotes muotes rieh
5 In zorne zühtik(liche),
willich in einvalde,
stsete in der triuwen,
unnidik Umbe sich,
10 zegelich ze alre missetsete,
ze guoter tat kuene unde halt:
swer daz allez an im hsete, •
der diuhte mich ze minnen wol gestalt^).
Ze kirchen, obe dem tische und an dem tanze
und in dem bade zuht zieret wol ze kränze,
zuht zieret umbe und umbe wol, noch baz an den vier enden.
Ze kirchen sol man pflegen gotes gUete
5 und obe dem tische haben fri gemUete:
sus zieret in dem bade schäm, dax brUeven die behenden.
Zuht zieret umbe und umbe wol
swd man die spise niezen sol
nach gotes handelungen.
Ans dem sonst sich ins allgemeine wendenden Spruche sei
noch hervorgehoben:
19 Kiusch an dem bet, schäm in dem bat,
zuht ob dem tisch, daz ist min rat,
al hdchvart soltu miden.
Preis der zuht und mäze schließen das Gedicht^).
Wir haben hier doch wohl eine parallele, nicht identische
Entwicklung auf volkstümlichen, wenn auch durch lateinische
Merkverse beeinflußten, Grundlagen zu sehen.
Wenn man das klassische Priamelgedicht zum Ausgangspunkt
der Beurteilung nimmt und die hier vorgeschlagene entwicklungs-
geschichtliche Bewertung der priamelartigen Formen des Minne-
und Meistergesangs in der Hauptsache nicht für verfehlt hält, so
ergäbe sich daraus, daß die wissenschaftliche Literaturgeschichte
eigentlich aufhören müßte, beim Minne- und Meistergesang von
Priamel als selbständiger Dichtungsart zu reden.
1) HMS 3, 419 XL Vgl. Vintler 5089 ff. Wiener Hs. 3027, 332b.
2) Kolm. Hs. Nr. 40.
31* '
IX.
Hans RosenplÜt
Formen werden nicht geschaffen, sondern sie
entstehen nnd wachsen. Der schöpferische Künst-
ler erzengt sie nicht, sondern bildet das Über-
kommene veredelnd nm. Usener.
1. Rosenplüt und Nürnberg; seine spezifische Begabung für das Priamel;
Fastnachtsspiel und Improvisation. — 2. Priamel-Stoffe und -Motive. — 3. Bau
des klassischen Priamels. Witz, Humor, Pointe, Satire. Vortrag, Nachwirkung.
1.
Eine des Zieles sichere Weiterbildung des alten Stegreif-
gedichtes über den Vierzeiler und die ungeregelte längere Beim-
paarreihe hinaus, eine Entwicklung zur literarischen Gattung
vermochte weder die Keimpaar- Didaktik noch Minne- oder Meister-
gesang aus sich hervorzubringen; Hans Bosenplüt war es vor-
behalten, der Klassiker des Priamels zu werden.
Die Aufgabe des künftigen Bosenplüt- Biographen ist be-
neidenswert. Eigentlich der erste Dichter deutschen Bürgertums:
nicht nur ein Vorzünder des Hans Sachs, wie Gottfried Keller
sagt (der ihn denn auch im Maskenzuge als kleines krummbuck-
liches Männchen mit der Klystierspritze unterm Arm auftreten
läßt), sondern ohne Zweifel sogar origineller und frischer, kräftiger
und eigenrichtiger als die beiden andern großen Nürnberger Hanse,
Hans Folz und Hans Sachs: wird Bosenplüt denn doch far
Deutschland ein ähnliches Interesse in Anspruch nehmen dürfen,
wie es in Frankreich Gaston Paris durch seine meisterhafte
Biographie des französischen Galgenschwengels Fran9ois Villon,
oder Schipper für Dunbar, Hoepffner und Baynaud für
Eustache Deschamps, jeder in seiner Art befriedigt hat Frei-
485
lieh so persönliche Poesie, wie der verbummelte maitre fes arts
geschaffen, der, mehrmals dem Hängen nahe, allerdings die indi-
viduellsten Lagen kennen gelernt, sind Bosenplüts Gedichte nicht.
Viel Minderwertiges steckt auch darunter; Nürnberg war kein
Paris, die fröhliche Bande der Basochiens und clercs de Paris kein
Handwerker - Publikum , Bosenpiüt sicher kein Gelehrter, kein
Humanist, kein Opfer wundersamer Lebensläufe, keine so leiden-
schaftliche dichterische Persönlichkeit wie Fran9ois Vi Hon.
Aber wenn Bosenplüts Poesie auch nicht die Bedeutung für die
Weltliteratur hat, wie die des Pariser enfant perdu, so ist sie
doch individueller und moderner, als die irgend eines früheren
deutschen Dichters. Zum ersten Mal überrascht hier das Bild
einer sicher umschriebenen konkreten städtischen Existenz, ein
Bild mit etwas Schatten und Perspektive, in dem ganz neue Auf-
gaben mit kunsthandwerksmäßiger Exaktheit keck bewältigt sind.
Nicht so sehr sich, als sein Nürnberg in der klassischen Zeit der
deutschen Demokratie gibt er wieder: immer nur selbst Geschautes,
oft seltsam auf den ersten Blick, aber immer interessant, Hin-
gabe und Vertiefung verlangend und lohnend.
Es ist die Zeit des Werdens der bürgerlichen Gesellschaft
und ihrer Literatur; voll, frisch, unverbraucht setzt die Produktions-
kraft ein; eine in gewissem Sinne große, schöne Zeit. Es ist
noch fraglich, ob die Individualitäten mehr der Benaissance ver-
danken oder diese ihnen. Das Leben wird sichtlich schrittweise
für die neue bürgerliche Poesie erobert, man lernt sehen, sich
freuen, sich ärgern, spotten, höhnen und triumphieren; für melan-
cholische Weltbetrachtung hatte die konventionell-kirchliche Lite*
ratur auf lange hinaus reichlich gesorgt. Die weichende Dämmerung
verschwimmt in den Schimmer des neuen Tages; nicht mit un-
recht hat die Ethnologie den entscheidenden Durchbruch der
Vollkultur ins 15. Jahrhundert gesetzt. Goethe zählt die „große
Zeit des 15. und 16. Jhs. ganz besonders zu den vorschreitenden ^
und nennt solche Epochen objektive, die aus dem Inneren heraus-
treten, sich auf die wirkliche Welt wenden und sie auszusprechen
suchen ^). Wie er auch mit seiner Sprache in dem Erdreich dieser
*) Jenny, Goethes altdentsche Lektüre S. 24. Prancke, A History of
German Literature (New- York 1903*) S. 105. Franckes viertem Kapitel hat
Deutschland noch nichts Ebenbürtiges an die Seite zu stellen; es herrscht noch
486
fröhlichen und phantastischen Welt wurzelte, hat Viktor Hehn
unübertrefflich gezeigt^).
Versuche, Bosenplüt als literarhistorische Persönlichkeit zu
verstehen, waren bis auf Roethe wenig befriedigend ^j. Vorurteile
standen massenhaft im Wege. Die spezifisch bürgerliche Literatur
sollte ja nach Zarnckes Ansicht erst mit Brants Narrenschiff
beginnen; dann mußte mindestens ein ganzes Jahrhundert in der
Versenkung verschwinden; Scherers Darstellung') steht unter
dem Einfluß der weitverbreiteten Vorstellung, auch Bosenplüt
hänge mit dem Meistergesang zusammen. Lucae konnte von
Nürnberg sagen: „Hier hatte Hans Bosenplüt mit andern
Dichtern gleicher Bichtung ein gewisses (!) poetisches Leben ge-
weckt*'*). Wie Nürnberg selbst erst wieder entdeckt werden
mußte, so auch seine Literatur. Mit glänzender wissenschaftlicher
Fantasie hat Boethe in seinem Artikel der Allgemeinen deutschen
Biographie ein Bild Bosenplüts gezeichnet, er mußte das Pro-
blem fast sozusagen aus der Pistole schießen. Die Anknüpfung an
vorangegangene Entwicklungen war noch nicht immer recht möglich.
Vertieft, ergänzt und berichtigt hat Michels das literarge^chicht-
liche Gemälde mit besonderer Berücksichtigung der Fastnachts-
spiele. Die folgenden skizzenhaften Bemerkungen woUea versuchen,
auf ein engumschriebenes, von der Einzelforschung noch nicht
betretenes Gebiet des Bosenplütschen Schaffens, auf seine
Priamelpoesie etwas Licht zu werfen^).
„An bestimmten geschichtlichen Orten entfaltet sich, zumeist
in sehr rascher Ausbildung der Typus einer Dichtungsart und
immer retrospektive Betrachtung, wie sie z.B. Grimm, Freidank^ S. CXIV
und Wackernagel -Martin I^ 153 übten. Eine rühmliche Ausnahme
macht wieder Vogt in seiner gemeinschaftlich mit Koch herausgegebenen
Literaturgeschichte.
>) Gedanken über Goethe S. 3326.
^ Meine Dissertation genügt natürlich heute mir am wenigsten.
3) Geschichte der deutschen Literatur S. 252 f.
*) Lucae, Aus deutscher Sprach- und Literaturgeschichte (hg. yon
Koch) S. 120.
*) Die meist unzureichenden älteren. Priamel-Texte sind absichtlich
nach den Handschriften zitiert, die in den Göttinger Beiträgen abgedruckten
in der Regel nicht wiederholt
487
nimmt von seinem Boden Beschaffenheit, Farbe, Oröße und
Form an"^). Das bestätigen die burchielleske Dichtung, das die
Friamelpoesie ; wie Burchiello in dem Florenz des beginnenden
15. Jahrhunderts, so wurzelt Bosenplüt im gleichzeitigen Nürn-
berg^). Hier lebt sich das deutsche Mittelalter aus'). Keine
Stadt ^) bietet in ihrer gesamten materiellen und geistigen Kultur
so sehr den Typus der mittelalterlichen Stadt als Bosenplüts
Heimat, das deutsche Venedig, das Auge und Ohr Deutschlands.
Geben wir Hans Bosenplüt selbst das Wort, wenn es sich um
die Beurteilung seiner Vaterstadt handelt^):
O NUrmberg, du edler fleck,
Deiner eren polz steckt in dem zweck;
Den hat dein weißheit darzu gschossen:
Die warheit ist in dir entsprossen.
Dein Ja wird nicht gefunden Nein.
Ein weiser rat, ein gehorsam gemein
Und ein wolgezogne priesterschaft,
Die ist gepunden mit solchem haft,
Das ir keiner getar über die snur hawen
Mit spil, mit unfiir, noch mit frawen.
Und hat ein man groß lieb und gunsi^)
Zu hübscher meisterlicher kunst
Und hat nach kUnsten al sein frag.
Sucht er im Beheimer land zu Prag
Und auch in Oesterreich zu Wien,
Sucht er nach dem zirkel und der lien
Und sucht in Bolan und in Preußen,
Und in Großen Nogarten und in Hohen Reußen,
1) Dilthey, Die Einbildungskraft des Dichters S. 474.
') Auch Villen ist Pariser yon ganzer Seele. G. Paris S. 63f.
^ Francke S. 166 sagt noch von Hans Sachs: „he was atheart a me-
diaeyal man^. Selbst Yillon ist von der Renaissance nicht beeinflußt.
Siegfried Graf Pückler-Limpurg, Die Nürnberger Bildnerkunst um die
Wende des 14. und 15 Jhs. S. Y lehnt auch für die Kunst dieser Zeit in
Nürnberg jede Beziehung zur Renaissance ab.
'^) Ernst Mummenhoff, Der Reichsstadt Nürnberg geschichtlicher
Entwicklungsgang. Leipzig 1898. Theodor Hampe, Die Entwicklung des
Theaterwesens in Nürnberg von der 2. Hälfte des 15. Jhs. bis 1806. Mit-
teilungen 12, 91 ff.
») Spruch Yon Nürnberg 1 ff. D 90.
•) D 96 f.
488
' .' ' Uiid zu Cohstantin'opel in Kriechen :
Noch vindt er nicht wahrhaftiglichen,
Das er mit suchen, habe ein feier.
Sucht er in Egipten lant zu Alkeier
Und auch in Hohen Indian,
Und an dem hofe des priesters Johann:
Noch ist sein suchen nicht gewiß.
Sucht er in Frankreich zu Paris.
Und in der höchsten schule zu Athenis,
Und sucht in visica Orienis,
Und sucht grammaticam Priscianis,
Und sucht die weißheit Salomonis,
Und sucht die loica Aristoteles,
Und sucht geometriam Erclides,
Und sucht retoricam des Tulius
Und practiciren Pitagorus,
Und sucht Bohecii musicani
Und Ptolemeus astronomiam:
Die kunst vindt er in Nürmberg all.
Nun ist ja bei diesem Urteil ein gut Teil Optimismus mit
untergelaufen, aber freiwilliger, nicht bezahlter. Denn daß er, wie
der 1470 angestellte Frauendienst offizieller städtischer Spruch-
sprecher gewesen^), ist nicht recht wahrscheinlich; die Pflege
besserer Literatur liegt mehr in den Händen der selbständigen
Sprecher, deren Zahl in Bayern um die Wende des 14. Jahr-
hunderts recht groß gewesen sein muß ^). Andrerseits verschleiert
er die Gebrechen seiner Zeit nicht, seine ganze didaktische Poesie
wurzelt in gründlicher Erkenntnis dessen, was der Menschheit
seiner Tage fehlt; und wenn er dieser Erkenntnis sittlich-ernsten
Ausdruck gibt, kliogt der Ton tiefer Empfindung durch. Sonst
ist auch bei ihm manches Konventionelle: vor allem Form und
Qehalt der kirchlichen Volksbildung seiner Zeit, die Bravaden der
internationalen Modeliteratur, Lokalwitz und Zote, die leider so
oft Geist, Humor und Laune ersetzen muß, volksmäßige Gnomik
und Improvisation. Die formellen Errungenschaften dichterischer
Bildung waren, modifiziert' und vergröbert, bis in die untersten
Stände der Gesellschaft durchgesickert. Selbst der altbajerische
^) Mitteilungen aus dem Germanischen Nationalmuseum. Nürnberg
1894, 28. Vergl. Mitt. des Vereins für Gesch. der Stadt Nürnberg 12, 102.
«) Germ. Abhh. 18, 102. 120.
489
Bauer ergötzte sich an Novellen, deren Technik auf höfische
Quellen zurückging. Eegsamer war die Teilnahme der Handwerker
an deutscher Literatur. In Lyrik und Spruchdichtung macht
schon am Ende des 13. Jahrhunderts Barthel Regenbogen den
deutschen Handwerksmeister heimisch. Das Volkslied hat nie die
Berührung mit der Werkstätte des gemeinen Mannes gescheut.
Für die Teilnahme des Handwerkerstandes an epischer Dichtung
redet eine Eeihe von Zeugnissen des 14. Jahrhunderts. In Straß-
burg versteigt sich ein Goldschmied zu einer großen Parcival-
dichtung, ein WeinrüfFer tritt mit einer Legende in die Öffent-
lichkeit. Gegen Ende des Jahrhunderts findet am Lechrain
Heinrich Teichner einen Schüler, der, jedenfalls den ein-
fachsten Lebensverhältnissen entstammend, eine festgewordene und
langt) fortwirkende Technik der Novelle handhabt. An solche
Erzählungskunst ^) konnte Rosen plüt anknüpfen, wenn er, freilich
ohne rechte epische Begabung, der Novellistik sich zuwandte. Ein
gewisser Wohlstand scheint den Handwerkern, die literarisch tätig
waren, nie gefehlt zu haben; von mehreren wissen wir, daß sie,
wie später Hans Sachs, ihr Handwerk ganz aufzugeben in der
Lage waren. Das Handwerk, dem sich der junge Schnepperer
widmete, konnte für ein vornehmes gelten. Es war in Nürnberg
ausnahmsweise stark vertreten, vom einfachsten handwerksmäßigen
Betriebe bis zur späteren Kunst eines Peter Vischer. Der
Botschmied war Metallarbeiter, Glockengießer, Geschützmeister.
Rosenplüt selbst behauptet einmal, in Nürnberg fände man so
treffliche, meisterhafte Metallarbeiter, wie man sie vielleicht in
der ganzen Welt nicht antrefTen könne; und wer heut<e die kunst-
vollen Epitaphien des Johannis Kirchhofs mustert, wird ihm nicht
ganz Unrecht geben. Er sagt:
Vil meister vind ich in Nürmberg,
der gleich in aller weit nicht lebt.
Was kreuchet, läuft, swimbt oder swebt,
mensch, engel, vogel, visch, wurm und tier,
und all creatur in loblicher zier.
^) Ich betone mehr das Gemeinsame als das Individuelle dieser Kunst ;
auch Kaufringer hatte wohl nur Teil daran. Dem Verfasser des Artikels
in der Zs. f. d. Phil. 35, 492 fp. bin ich dieselbe Antwort zu geben berechtigt,
die ihm im gleichen Fall Seuffert, Petzet und Michels gegeben haben.
490
und als das aus der erden mUg sprießen:
desgleichen können sie hawen und gießen,
und keinerlei stUck ist in zu swer.
ir kunst und erbeit wird ofTenber
in niangen landen vern und weit.
Sint das in got solch weißheit geit,
so sein sie wol wert, daß man sie nennt
und für groß künstig meister erkennt.
wan niemant solch meister nie gewan.
Im Jahre 1471 besucht auch der Kaiser Friedrich III. die
Werkstätten einiger Botschmiede. Eine kluge Politik des Bates,
einerseits große gewerbliche Freiheit, andererseits Hintanhaltong
aller zünftlerischen Bestrebungen, eine Konzentrierung des Hand-
werkertums in sich selbst^), förderte das Gedeihen. Hochent-
wickelte materielle Kultur wurde die Grundlage freierer Lebens-
auffassung und der Teilnahme nn literarischen Bestrebungen.
Und wenn es auch meist nur das Niveau der kirchlichen Volks-
bildung, der Werkstätte, der Kneipe, des Bürgerhauses von damals
ist, das man erreicht: die Handwerkerpoesie bekommt bald die
Führung, nachdem die Bürger sich als socialen Stand voll zur
Geltung gebracht haben. Ihre Dichtung beherrscht das 15. Jahr-
hundert. Sie ist nicht unproduktiv, nicht bloße Nachahmung:
abgesehen von manchen Mißbildungen, bereichert sie sogar die
vorhandenen Gattungen. Fastnachtsspiel und Priamel werden durch
sie literaturfähig. In beiden Fällen verbindet sich das Verdienst
mit dem Namen Bosenplüts.
Was machte ihn zum Klassiker des Priamels?
Eine ungewöhnliche Beweglichkeit des Geistes, sicherer heller
Blick für das nach seinen Begriffen Charakteristische, eine gewisse
Originalität der Anschauung, halb launig, halb satirisch, immer
konkret, ein barocker Ernst, „geschmacklos, aber nicht alltäglich,
forciert, aber nicht langweilig", die Fülle der Eindrücke reichs-
städtischen Lebens, „strömender Beichtum sich überstürzender
Bilder, nicht immer würdig und stilvoll, aber anschaulich und
naiv realistisch '': das sind Eigenschaften, von denen alle Bosen-
p lutsche Poesie zeugt. Die virtuose Durchführung des Details
dichterischer Arbeit hat Verwandtschaft mit Nürnberger Kunst-
^) Mummenhoff, Altnümberg S. 51 f.
491
handwerk, mit Panraanns fingerfertiger Technik. Betrachtet man
Bosenplüts Werke einmal unter dem Gesichtspunkt des Kunst-
handwerks, und das wäre nicht so unrichtig, so erscheinen sie
jedenfalls höchster Bewunderung wert.
Zwei Züge Bosenplüt scher Kunst kommen dem Priamel
besonders zu statten: die unerschöpfliche Ergiebigkeit seiner an-
schauenden Fantasie und der Mangel an strengerer logischer Kon-
zentration. Beide Momente mußten in ihrem Zusammentreffen
fast schon von selbst zu einer Kunstform, wie es die Priamel-
form ist, führen. Jener Mangel, den er mit der ganzen älteren
volksmäßigen Dichtung teilt, verleitete dazu, die Einzelheiten breit
auszuwickeln und durch die Häufung paralleler Glieder die ein-
heitlich-logische Stilisierung des Gedankens zu ersetzen. So ist
das klassische Priamel, trotzdem Rosenplüt nichts eigentlich zu
erfinden brauchte, ein organisches Erzeugnis des Bosenplütschen
Geistes, seiner Stärke und seiner Schwäche; und insofern ist
Bosenplüts Priamel von individuellem Charakter, in seiner Eigen-
art unnachahmlich und nicht zu überbieten. Streng genommen
hat es auch keine Schule gemacht. Es ist ein Produkt bestimmter
geistiger Begabung wie einer bestimmten Epoche in der Ent-
wicklung unsers nationalen poetischen Lebens. Man wurde heute
keine ernste Bosenplütschen Priamel mehr dichten können, nach«
dem Denken und Beden auch die formelle Zucht der lateinischen
Sprache durchgemacht hat, einer Sprache, deren Hauptvorzug die
strengste logische Konzentration ist. Deshalb konnte das Priamel
auch nur noch in den Kreisen weiter gedeihen, die von der ge-
lehrten Bildung möglichst verschont blieben. Glücklicher die
musikalische Schwesterkunst: sie fand den Weg vom Priamel zur
Toccata, von der Toccata zur Fuge, von der Fuge zur Sonate,
von der Sonate zum musikalischen Gedicht.
Alle Mittel, mit denen wir die Priamelform bisher arbeiten
sahen, sind Bosenplüt auch in seinen sonstigen Gedichten ge-
läufig. Es herrscht parataktische Satzbildung ^), nicht einmal die
ßeimbrechung kennt er. Oft ist diese extemporierende Parataxe
einzelner Sätze oder Satzglieder sogar asyndetisch, ganze Verse
bildend, wie:
1) Vergleiche Q F 77, 148.
492
mit zom, mit geiz, mit neid, mit haß^).
bei nacht, bei tag, auf wasser, auf lant').
sein Schüssel sol sein ein seutrok,
sein löffel sol sein ein fauler stock,
sein speis sol sein ein wagenschmir,
sein trinken sei ein verdorbnes pier,
ein spUlnapf sei sein trinkfas').
Oder es wird, wie im Priamel, poljsyodetisch ^und^ wieder-
holt^). Selbst in der epischen Erzählung herrscht diese unruhige
Art der Verbindung^), z. B. beginnt er jedesmal den abgeschlosse-
nen Vers in dem Spruch vom Barbier mit: ,ich kam, da sach
ich, da ging, sie dacht, sie pat, sie sprach, die frau, sie tacht^),^
mehrere aufeinanderfolgende Sätze oder Satzglieder mit ,soY,
,wann®)', ,und^)' u. ä. Maniriert häufig ist die anaphorische Ver-
bindung paralleler Glieder ^% Aufzählungen finden sich bei ihm in
ungeheurer Ausdehnung; er zählt einzelne Stücke, Dinge, Teile *^),
9 Menschen '«), 20 Frauen i^^, 12 Burgen i*), 9 oder 17 Bauern '*),
9 Bitter'^) her und baut ganze Stücke mit solchen Aufzählungen
auf, z. B. die Wochen, die Ärzte"). In der Vorliebe für Häufung
paralleler Reihen der mannigfachsten Art ist der Dichter geradezu
unersättlich; meist versucht er auch, diesen Reihen einen gewissen
Abschluß zu geben. So in den Sittenschilderungen der Freiheits-
predigt*®), wenn er sagt:
*) Die Beichte, Fsp. 1100. Vergleiche Herzog Lndwig von Baiem 130.
^ Fsp. 288, 17. 304, 8. Vergleiche 744, 29 f.
3) Fsp. 711, 20 ff.
*) Predig Fsp. 1160.
*) Eoethe ADB 29,229.
6) 426, 1 ff. Vergleiche 365, 18 f.
7) Kindpethof 182, 9 ff.
8) ebenda 183, 24 ff.
«) Tinte 1188, 278b. Schüler 1173. 1175. Predig 1160.
10) Liliencron Nr.llO.E. Vergleiche Fsp. 133, 22 ff. 134, 11 ff. 296, lOff.
298,6ff. 353,7ff. 856,8ff. Welt 1 ff. Roethe, Reinmar von Zweter
S. 295 ff.
•1) Fsp. 293 Ende. 712,. 27 ff. 1101. 1153. Narr 23. 69 u. s. w.
>9) Narr 73. >3) Fsp. 1160 f. ") Fsp. 766, 14.
'5) Fsp. 700. 342. 16) Fsp. 359.
>7) Q F 77, 187. Roethe S. 317 ff. Schneegans, Groteske Satire
S. 104 f. G. Paris, Villon S. 103.
18) Fsp. 1158 ff.
493
Geteilt hosen und schneblet schu,
Und spitzig hiit und deine kepplech,
Und vorn zotten und hinten lepplech,
Und was der edelman kan erdenken:
Das will der paur als an sich henken
u. s. w.: Schilderungen, deren Gegenstände viele der von Baader
veröffentlichten Polizeiverordnungen hervorgerufen haben ^). So
häuft Eosenplüt gern fantastische Strafen*), Anreden^), Wir-
kungen^), Wünsche^). Er liebt die humoristische Klimax, wenn
er den Wein begrüßt*). Von hypotaktischen Satzverbindungen
hat er die, auch im Priamel am häufigsten verwandte, der ge-
häuften condicionalen Vordersätze bis zum Überdruß ausgebildet^).
Oben sahen wir, daß er das Lob seiner Vaterstadt in diese Lieb-
lingsform gezwängt hat. Das schlagendste Beispiel liefert er in
der Turteltaube (D 130 flf.). Variiert wird der Vordersatz mit
,wenn®), wann das^), wer*"), welcher").' Z. B. sagt in des Türken
Fastnachtsspiel der vierte Bat des Kaisers:
Wenn der fuchs wirt fliehen das hun,
Und wenn der hund ein hasen fleucht,
Und der einfeltig den pschissen treugt,
Und wenn ein frosch ein storch verschlickt,
Und der pcttler nimer an den kleidern flickt,
Und wenn die gans ein wolf wirt jagen
Und frauen nimmer kinder tragen:
Wann das als geschieht, so wöU wir fliehen
Und wöln mit schänden wider heim ziehen ^^).
0 Vergleiche noch Fsp. 310, 4 ff. 344, 4 ff. 21 ff. 700, 26 ff. 743, 13 ff.
743, 28 ff.
>) Fsp. 307, 10 ff. Vergleiche 308, 9 ff. 310, 14 ff. 710, 26 f.
3; Unser Frauen Schoen II, D. 153.
*) Weinsegen 2, 2 ff. (Haupt) 17, 9 ff. 18, 6 ff.
s) Klopfan 1, 7 ff. (Schade) 2, 4 ff. 3, 9 ff. 7, 4 ff.
^) Weingruß 1, 5 ff. Andere Klimax im Kettenreim de Pauw, Mnl.
Gedichten S. 645 f.
T) QF 77, 153. Fsp. 1153, 14. Weingruß 6, 17 ff. D 133. 43. Krieg
von Nürnberg 407 ff. Über den Charakter dieser hypothetischen Red«form
in der Gnomik Scherer, Deutsche Studien II 460 f. Bur dach, Reinmar S.59.
8) Fsp. 1084. ») 293, 10 ff.
w) Fsp. 1083. 1087. 1085. 319, 25.
»•) Fsp. 764, 20 ff.
") Fsp. 298, 19 ff. Zum Motiv R. M. Meyer Z. f. d. A. 29, 231.
Berg er S. 454. Kap. YI. S. 290.
494
Der Türkische Kaiser will in den Rüchern gelesen haben:
Wann das der reich dem armen leugt,
Und der weis dem narrn das guot abtreugt,
Und der voll den leeren nit will speisen,
Und die gierten und auch gschriftweisen
Den leien böse ebenpild vortragen,
Und der vatcr über das kint wirt klagen,
Und der herr kein frid schickt dem paursman:
So hebt der kristen Unglück an.
Im Spiel von der Hochzeit des Königs von England heißt es :
Welche frau das pest tut mit tanzen,
Mit hübschen triten, mit umbher swansen.
Mit züchtigem lachen, mit lieplichem smutzen,
Mit guter geperd, mit freuntlichem angutzen:
Der wil man schenken ain pemlein kränz ^).
Diese Bedeweise ist dem Dichter in Fleisch und Blut über-
gegangen, sie stellt sich ungesucht ein'^^). So traf Bosenplüts
dichterische Individualität in eigentümlicher Weise mit den Be-
dingungen und Errungenschaften der Stegreifdichtung zusammen.
Indem das Stegreifgedicht durch das Fastnachtsspiel hindurch
ging und sich dabei als Schlager seiner Wirkung bewußt ward,
tat es den ersten Schritt auf dem Wege der Entwicklung zur
Gattung. Die einzige Priamelrede, die erhalten ist, hat un-
zweideutig den Zusammenhang mit dem Fastnachtsspiel bewahrt,
den auch der Bestand anderer Priamelhandschriften nicht ver-
leugnet ^). Trotzdem in diesen .Beden' wohl literarische Ansprüche
eines bestimmten Verfassers wenig Beachtung fanden^), werden
sie doch den Anstoß zu reichlicherer Produktion und Sammlung
einzelner Stücke °) gegeben haben.
Wie der Priamelvierzeiler im Fastnachtsspiel Verwendung
fand, ist oben gezeigt (Kap. VI 391 ff.). Bosenplütsche Fast-
nachtsspiele schließen priamelartig^). Am Ende des 19. Stückes
der Kellers chen Sammlung läßt der Dichter den Precursor im
1) Fsp. 764, 20 ff.
«) z. B. Fsp. 163, 15 ff. 702, 20 ff.
8) Kap. VI S. 396 ff. Unklar Wendeler, De Praeambulis S. 49 Anm. 2.
*) In N sind nur 5 zweifellos Rosenplütsche Nummern.
6) Kap. in S. 6.5 ff.
6) ADB 29, 227.
495
Tone der Wirtschafts- nnd Lehrpriamel reden: 168, 3 ff. Verkürzt
erscheint derselbe Schluß beim 40. Spiel: 312, 24 ff.^). Gewöhn-
lich entschuldigen die Spieler ihre Zoten mit der Freiheit der
Fastnacht; auch da stellt sich gleich der Parallelismus des Priamels
ein (319, 25 ff., 187, 4 ff.):
Wann wer der zeit kein recht tut
Und sich vil böser ding fleißet
Und mitten auf den weg scheißet
Und leßt zu sehen frauen und man:
Der kumpt selten ungescholten davon.
Ein halbes Dutzend längerer Priamelsprüche läßt sich aus
dem Zusammenhange mit Fastnachts - Improvisation nicht recht
herauslösen. Es sind alles bequeme Stegreifversuche; nichts war
leichter als Reihen mit ,ohne^ und einfache Begriffs-Ketten nach
Art des Einderreims fortzusetzen. So fordert im 84. Spiel der
Ausschreier mit folgender Improvisation zur Fröhlichkeit auf:
Wann ein vasnacht on freuden,
Und ein meßer on ein scheiden,
Und ein münch on ein kutten,
Und ein junge frau on tutten,
Und ein junger, der nit mag nollen,
Und ein alt scbaf on wollen,
Und ein Stecher on ein pfert:
Die dink sint alle nit eins kots wert^).
Später ist das Priamel verändert und verkürzt selbständig
überliefert^). Von Verfassern kann bei Verwendung überall bereit
liegenden Materials hier so wenig die Bede sein, als bei dem
gleichen Spruch:
Ein junge maid on lieb.
Und ein großer jarmarkt on dieb*).
Ein alter jud on gut.
Und ein junger man on mut,
Und ein alte scheur on meuß*),
Und ein alter pelz on leuß,
0 Vergl. 734, 16 ff. ~ 745, Uff. und die Priamel vom Alter.
2) Fsp. 695, 6 ff. 3) Keller, Schwanke Nr. 6.
*) Fsp. 558, 3 f. 11 f. ») Freidank 141, 15.
606
Nur hat vielleicht das Motiv , Beicht ohne Eeu' eingewirkt.
Ganz heraasgeiöst ans diesem Zusammenhang erscheint ein
Stück dieses Priamels vor dem reformatorischen Spruch Von denn
Almufsen^). Unter dem Titelholzschnitt steht:
Almusen geben mit rom vnd tzu gesicht
Als offt von manchem menschen geschieht
Vnd on andacht.tzu der kirchen gangen
Mit grosser hochffart vnd mit brangen
Vnd predig hören vnd daran nit keren
Daß dondt die frommen prister ietz nit leren.
Greift so diese kirchliche Volksliteratur auch auf das Gebiet
des nicht geistlichen Priamels hinüber, so ist sie für die im
engeren Sinne geistlichen Priamel der eigentliche Nährboden^).
Die üblichsten Lehrstücke wurden in der Kirche nach der Predigt
vorgebetet; für das Nachbeten jedes einzelnen Stückes war viel-
fach ein Ablaß gegeben^). Auch Tafeln und Blätter mit bildlichen
Darstellungen alkr Art dienten der kirchlichen Unterweisung*).
Der hauptsächlichste Träger dieser Überlieferung aber wurde der
schon im J4. Jahrhundert zu mächtiger Breite angeschwollene
Strom der populären Erbauungsliteratur, die mit erfinderisch ge-
») Erfurt s. a. Kgl. Bibliothek zu Berlin Yg 7600. Vgl. Yg 7596. Zum
Inhalt Migne, Patrologia latina 217, 747 A. Freidank 39, 5 ff. Kenner
2376 ff. Nd. Jb. 30, 131 ff, 112.
2) Auch das größere Spruchgedicht von der Beichte enthält, abgesehen
Ton der dichterischen Einkleidung, nichts, was nicht unzähligemal in den
Beichtschriften wiederkehrte, z. B. Hasak S. 254. Vollständiger ist Folz,
dessen Gedicht sogar Predigten zu Grunde gelegt werden konnte. Hoch
S. 84ff. 64 ff. Vgl. Hätzlerin 2, 82. Vielleicht hängt manche Erscheinung
des Rosenplüt sehen Sprachgebrauches, wie die Abstracta auf — ung, mit
dem Stil der Erbauungsliteratur zusammen. An naiven Geschmacklosigkeiten
nimmt es manches Erbauungsbuch mit R. auf: „So sich der mensche in das
bette gelegt hat, sal er mit seinen inwendigen ougen czwei dinck mit vleis
ansehen vnd betrachten : mit dem lincken ouge sal er vndersich vnder das bette
sehen (Höllenpein) — , mit dem rechten ouge sal er vber sich sehen**.
(Himmelsfreude). Hasak S. 338.
3). Falk, Die deutschen Meß- Auslegungen. Köln 1889. S. 25.
4) Falk, Die deutschen Sterbebüchlein. Köln 1890. S. 2 ff. „In allen
Kirchen schaut eine Summa theologiae von den Portalen, Penstern und
Wänden auf die Gemeinde herab". Panzer, Dichtung und bildende Kunst
des deutschen Mittelalters in ihren Wechselbeziehungen (Neue Jahrbücher
.1904) S. 138.
497
Ein mistpftitz und ein pfui,
Und ein sessel und ein stul,
Und ein fischer und ein ferg,
Und ein pütel und ein scherg,
Und ein melmacher und ein mülner»
Und ein weinschlauch und ein füller,
Und ein zig und ein geiß,
Und ein fist und ein scheiß,
Und ein klimmer und ein Steiger,
Und ein fidler und ein geiger,
Und ein tanz und ein rei:
Daz sein ie zwei und zwei einerlei').
Im 87. Spiel scheint der Nachahmer, dem Michels das
Stück zuschreibt, für den Schluß ein Bosenplütsches Priamel
desselben Kreises benutzt zu haben.
Ein stelender dieb und ein pütel,
Und ein pös weip und ein großer knütel,
Und gros gerten und pöse kint,
Und ein metzler und ein feistes rint,
Und ein sneller lauffer und ebner weg,
Und ein hungrige sau und ein warmer treck,
Und saugende kint und melkend ammen:
Die dink die fugen gar wol zusammen 3).
Wenn spätere Spieldichter, vielleicht absichtlich, das Priamel
meiden, so geschah es wohl, um ihren Stücken eine vornehmere
literarische Haltung zu geben, die sie von den improvisierenden
Anfängen des Dramas unterscheiden sollte. Das Heraustreten der
Priamelsprüche in die volksliterarische Öffentlichkeit ist wie bei
den Neujahrswünschen, Klopfan, Weingrüßen und den Erzeugnissen
der plastischen Kleinkunst wohl auch von der Mode abhängig
gewesen, ein Umstand, der vielleicht das verhältnismäßig rasche
Verschwinden der Gattung erklären hilft').
0A57a. B167b. C160a. D 276. P. 74a, Sp.2. K 13b. M 19a.
^ B 166b. E 7a. Keller, Schwanke Nr. 9. Gott. Beiträge 2, 35 f.
QF 7T, 196.
3) Spitzer, Hettners konstphilosophische Anfänge nnd Literarästhe-
tik 1, 159 ff.
Eulin g, Priamel 32
498
2.
Daß BoseDplüts poetische SchaluDg, wie Boethe einmal
bemerkt, wirklich sehr gering gewesen, zeigen insbesondere die
sogen, geistlichen Priamel.
Nach Kapitel VI kann wohl keine Bede mehr davon sein,
daß erst Bosenplüt geistliche Priamel gedichtet, daß er „die
Gattung durch die rein geistliche Priamel bereichert^)" habe;
auch Anknüpfung an literarische Kunstpoesie der früheren Zeit
versagt^). Das geistliche Priamel wächst vielmehr einerseits aus
der meist unliterarischen kirchlichen Volksdichtung heraus, die
wesentlich dem Zwecke der Erbauung diente; Bosenplüt ver-
band damit andererseits in eigentümlicher Weise die Errungen-
schaften der Stegreifdichtung*).
Schon die analoge Entwicklung der geistlichen Priamelvier-
zeiler und priamelhaften Beimpaare würde solchen Ursprung
wahrscheinlich machen; aber auch für Bosenplüts geistliche
Priamel läßt sich der Zusammenhang mit jener leider recht wenig
beachteten Erbauungsliteratur*) erweisen. Wir sahen, daß die
Tafel der christlichen Weisheit neben katalogartigen Aufzählungen,
Lehrpunkten, Charakteristiken und dergleichen auch Spruchgut
enthielt und wie diese Literatur zwischen Prosa und Vers schwankte.
Auf derselben Stufe volksliterarischer Entwicklung stehen Er-
bauungsschriften wie das Bamberger Beichtbuch und die Wiener
Handschrift 3027, deren Bestände sich vielfach decken. Manche
Aufzählungen sind ganz Prosa ^), manche sind zu Vierzeilern,
freilich noch nicht in der relativen Vollendung der späteren
Poenitentiarien , abgerundet^), das meiste ist gutgemeinte un-
geschlachte Reimerei, bei der dann formell häufig dasselbe heraus-
kommt, was vielfach die priamelhaften Beimpaare bezweckten und
») ADB 29, 228.
3) zg. f. d. Phil. 32, 268.
' 3) Für diesen Zusammenhang zeugt die Donaueschinger Hs. 94 (0), die
Erbauliches und Lehrstücke mit Rosenp lutschen Priameln mischt.
^) Zarncke, Cato S. 2 hatte u. a. auf die Poenitentiarii aufmerksam
gemacht. Eine umfassende Untersuchung kann man wohl nur mit dem
Material in Berlin und München führen.
^) Weber, Die Bamberger Beichtbücher S. 30 f.
ß) Kap. VI S. 330 ff. Straßburger Theologische Studien 4, 2. S. 84 ff.
499
was Rosen plüt nur mit künstlerischem Geschmack zu läntern
und, individuell gestaltet, in feste Formen zu gießen hatte.
Wie Beim, Verskunst und Aufbau in diesen kleinen Gedichten
gehandhabt werden, mögen einige Proben^) lehren.
Wer pöß gedanken hat mit gunst lust und böse begir,
Und ungetrew ist , furnemisch und vertzweifelt schir,
Wer böse lieb und werntliche frewde im hertren treit,
Wer leicht argwant, ungedultig ist und tracht falsch leid,
Wer böse vorcht hat und frewd sich seines nesten widerWertigkeit
Und versmecht die armen und sunder,
Und trauert um seines nesten Seligkeit,
Wer eigner sinnen pfligt und dolt, das er nicht gesunden kan.
Wer sich guter werk schemt und auf nimt die person :
Die sund alle das hertz vollbringen kan^).
Gcwonlich swem und meineidung,
Schelten und warhait anfechtung,
Wer wider got eczwas ticht,
Und sein gepet mit andacht nit spricht,
Übrig red und falsch rät,
Und wer zwaitracht unter freunten sät,
Nachreden, liegen und triegen,
Zue tutteln, verraten und kriegen,
Wer gotes nam unnUczlcich nent:
Die sund all von der zung sind genent^).
Auch die ümkchrung, dem Typus C entsprechend, erscheint
in diesen Aufzählungen.
Sechs sund sein allermeist.
Da man mit sundet in den heiligen geist :
Nicht sund auf gotes barmhertzigkeit ;
In deinen sunden sei nicht vertzeit;
Und sei nicht hart in deiner posheit;
Ficht nicht an die offen warheit;
Und sei nicht veint der gottlichen gutikeit^).
Inuidus, impungnans, presumens impenitensque ,
obstans, desperans: sex crimina Spiritus odit.
^) Schon Geffcken, Beilagen 8. 3 ff. hatte ähnliche Stellen aus der
Heidelberger Hs. 438 abdrucken lassen.
') Weber, Die Bamberger Beichtbücher S. 17.
3) Wiener Handschrift 3027, 204 a. Ausführlicher, aber noch roher in
der Form bei Weber S. 18.
*) Weber S. 20. Geffcken, Beilagen S. 196. 194. Hans Folz,
Beichtgedicht 89, 21 ff. (Hoch).
32*
498
2.
Daß Bosenplüts poetische Schalung, wie Boethe einmal
bemerkt, wirklich sehr gering gewesen, zeigen insbesondere die
sogen, geistlichen Priamel.
Nach Kapitel VI kann wohl keine Bede mehr davon sein,
daß erst Bosenplüt geistliche Priamel gedichtet, daß er „die
Gattung durch die rein geistliche Priamel bereichert^)" habe;
auch Anknüpfung an literarische Kunstpoesie der früheren Zeit
versagt^). Das geistliche Priamel wächst vielmehr einerseits aus
der meist unliterarischen kirchlichen Volksdichtung heraus, die
wesentlich dem Zwecke der Erbauung diente; Bosenplüt ver-
band damit andererseits in eigentümlicher Weise die Errungen-
schaften der Stegreifdichtung*).
Schon die analoge Entwicklung der geistlichen Priamelvier-
zeiler und priamelhaften Beimpaare würde solchen Ursprung
wahrscheinlich machen; aber auch für Bosenplüts geistliche
Priamel läßt sich der Zusammenhang mit jener leider recht wenig
beachteten Erbauungsliteratur^) erweisen. Wir sahen, daß die
Tafel der christlichen Weisheit neben katalogartigen Aufzählungen,
Lehrpunkten, Charakteristiken und dergleichen auch Spruchgut
enthielt und wie diese Literatur zwischen Prosa und Vers schwankte.
Auf derselben Stufe volksliterarischer Entwicklung stehen Er-
bauungsschriften wie das Bamberger Beichtbuch und die Wiener
Handschrift 3027, deren Bestände sich vielfach decken. Manche
Aufzählungen sind ganz Prosa ^), manche sind zu Vierzeilern,
freilich noch nicht in der relativen Vollendung der späteren
Poenitentiarien^ abgerundet^), das meiste ist gutgemeinte un-
geschlachte Beimerei, bei der dann formell häufig dasselbe heraus-
kommt, was vielfach die priamelhaften Beimpaare bezweckten und
») ADB 29, 228.
3) Zs. f. d. Phil. 32, 268.
' 3) Für diesen Zusammenhang zeugt die Donaueschinger Hs. 94 (0), die
Erbauliches und Lehrstücke mit Bosenplüt sehen Priameln mischt.
^) Zarncke, Cato S. 2 hatte u. a. auf die Poenitentiarii aufmerksam
gemacht. Eine umfassende Untersuchung kann man wohl nur mit dem
Material in Berlin und München führen.
') Weber, Die Bamberger Beichtbücher S. 30 f.
fi) Kap. VI S. 330 ff. Straßburger Theologische Studien 4, 2. S. 84 flf.
499
wa« Rosen plüt nur mit künstlerischem Geschmack zu läntern
und, individuell gestaltet, in feste Formen zu gießen hatte.
Wie Beim, Verskunst und Aufbau in diesen kleinen Gedichten
gehandhabt werden, mögen einige Proben^) lehren.
Wer pöß gedanken hat mit gunst lust und böse begir,
Und ungetrew ist , furnemisch und vertzweifelt schir,
Wer böse lieb und werntliche frewde im hertzen treit,
Wer leicht argwant, ungedultig ist und tracht falsch leid,
Wer böse vorcht hat und frewd sich seines nesten widerWertigkeit
Und versmecht die armen und sunder,
Und trauert um seines nesten Seligkeit,
Wer eigner sinnen pfligt und dolt, das er nicht gesunden kan,
Wer sich guter werk schemt und auf nimt die person :
Die sund alle das hertz vollbringen kan^).
Gewonlich swem und meineidung,
Schelten und warhait an fechtung,
Wer wider got eczwas ticht,
Und sein gepet mit andacht nit spricht,
Übrig red und falsch rät,
Und wer zwaitracht unter freunten sät,
Nachreden, liegen und triegen,
Zue tutteln, verraten und kriegen,
Wer gotes nam unnUczlcich nent:
Die sund all von der zung sind genent^).
Auch die ümkchrung, dem Typus C entsprechend, erscheint
in diesen Aufzählungen.
Sechs sund sein allermeist.
Da man mit sundet in den heiligen geist :
Nicht sund auf gotes barmhertzigkeit ;
In deinen sunden sei nicht vertzeit;
Und sei nicht hart in deiner posheit;
Ficht nicht an die offen warheit;
Und sei nicht veint der gottlichen gutikeit^).
Inuidus, impungnans, presumens impenitensque ,
obstans, desperans: sex crimina Spiritus odit.
^) Schon Geffcken, Beilagen S. 3ff. hatte ähnliche Stellen aus der
Heidelberger Hs. 438 abdrucken lassen.
^) Weber, Die Bamberger Beichtbücher S. 17.
3) Wiener Handschrift 3027, 204 a. Ausführlicher, aber noch roher in
der Form bei Weber S. 18.
*) Weber S. 20. Geffcken, Beilagen S. 196. 194. Hans Folz,
Beichtgedicht 89, 21 ff. (Hoch).
32*
500
Sechs seyn der sunden yn den heyligen geist,
Dy verloren werden aller meist:
Sunde auff gnade vnd bruders neyd,
Uerczweyfelen, der warheit widerstreyt,
Uerstockt vnd der ny büße gethat:
Dy sund ny gar vergeben hat ').
Was die sogenannten Beichtbücher, deren Inhalt meist die
Kirchenlehre in nuce darstellt, auch für die Erläuterung der 10
Gebote ausgeben, ist Geffcken seiner Zeit entgangen. Auch hier
ist die Form meist priamelhaft, z. B.
Wer glaubt an ansprechen, an träum, an gesegent parillen and an
karachtrisch figur,
Und glaubt an verworffen tag und zaubert und setzt sein hofnung
gancz in creatur.
Wer frevelich durchgrunten wil die heilig geschrift und gots natur,
Wer sich oder seine chinder oder das gut lieber hatt dan gott:
Die sundent alle in das erst gepot').
Wer seines nägsten hausfirawn zu unkeusch pegert;
Ob er ir nicht gehaben mag, doch seinen willen domoch chert;
Wer seinen sin domoch stelt mit stechen oder mit ringen.
Mit puellen, mit grüessen, mit tanczen oder mit springen;
Wer solcher pulschaft ein werfer ist oder ein pot:
. Die sundent alle tödleich wider das czehend gepot').
Verhältnismäßig viel durchgebildeter sind schon meist die
Verse der Penitencionarii.
Hec sunt precepta moysi que contulit almus:
Unum crede deum, nee iura vane per ipsum,
Sabbattha sanctifices, habeas in honore parentes,
Non sis occisor, für, mechus, testis iniquus,
Alterius nuptam nee rem cupias alienam.
Uns hat gegeben der ewig got
Durch moysen dyße czehen gebothe:
Im glauben eynen got erkenne,
Und seynen namen nicht spotlich nene,
Dye heyige tage soitu halten,
*) Penitencionarius El. 4 a.
^ Wiener Hs. 3027, 207a. gancz in creatur] yn creatur ganz.
Weber S. 24. Hans Folz, Beichtgedicht 97, 15 ff. (Hoch).
3) Wiener Hs. 3027,210b. Weber S. 29. Bei Folz das 9. Gebot:
Hoch 102, 21 ff.
501
Ere vatter und mutter wiltu altten,
Nymandt tote, biß nicht vnkeusch,
Byß nicht eyn dip,
Nymande falsch geczeugniße gib,
Czu vnkeuseh ebruch nicht habe mutt,
Und begere auch nich (I) eynes andern gut*),
Qui facit incestum deflorans aut homicida,
Sacrilegus, patris percussor vel zodomita,
Infiringens votum, periurus sortilegusque,
Et mentita fides, faciens incendia, prolem
Occidens, heresis, plasphemus, notus adulter:
Pontificem super hijs semper deuotus adibit.
Der iunckfrawen oder freundyn swecht,
Der ymandt tötet oder eidern schlecht,
Der yn vnkeußheit vnnaturlich ist.
Der glauben hat mit falscher list,
Der ymandt brennet oder got schendet.
Der ketzer oder der dy ehe czu trennet:
Wil der rechte büße tragen.
Er muße seyne sunde dem bischoff clagen').
Insbesondere vereinigen diese Verse, wie es dem didaktischen
Zweck entspricht, gern die Typen Ä C.
Tumbo, compacior, conuerto, dono, remitto,
Arguo, consulo, supplico, do quodcumque talentum,
Flecto genu, vigilo, ieiuno, laboro, flagello,
Penitco, lego, ploro, precor: caro sie maceratur.
Wer seynen syn vnd fleiß wil geben
AUeczeit czu tugentlichem leben.
Der sol czu voran gute haben:
Almosen geben, dy toten begraben,
Straffen, raten, knyen, wachen,
Fasten, beten, anedacht machen,
Lezen, leren, weynen, wallen:
Das ist got eyn wol gevallen').
Dum pia vota fero, miseris solamina quero,
Uestio, poto, cibo, tectum do, visito, tumbo.
1) Penitencionarius Bl. 4 a. Yergl. Geffcken, Beilagen S. 194.
3) Penitoncionarius Bl. 3 b — 4.
^ Penitencionarius Bl. 4b. Geffcken S. 193.
502
SecUs seyn werck der barmherczigkeyt:
Gib den hungerigen speiße, den bloßen cleit,
Du solt auch den durstigen laben,
Den krancken besuchen , den toten begraben,
Deme elend soltu herberig geben:
So gibt dir got daß ewig leben ^).
Nimmt man dazu, daß auch der Typus B z. B. durch die
altkirchlichen iiaxapiajiot?) sowie in späterer kirchlicher Literatur^)
angedeutet ist, so kann man nicht einmal behaupten, Bosenplüt
übe in den sogen, geistlichen Priameln demgegenüber äußerlich
verschiedene Formen.
Prüfung .der Motive und des Inhalts liefert ein ähnliches
Ergebnis.
Selbst Priamel, die in der Oberlieferung nicht als geistliche
bezeichnet sind, wurzeln in der populären Erbauungsliteratur.
So macht folgendes Priamel zunächst den Eindruck eines satirischen
Qenrebildes^ das den alten Lotterpfaffen treffen will:
Welcher prister zu krank ist und zu alt,
Der nicht hat pabst oder pischoffs gewalt,
Und selten in den püchern list,
Und albeg gern trunken ist,
Und in der geschrifTt ist übel gelert,
Und an seim hirn ist versert,
Und nie kein predig hat getan.
Und darzu ist in des pabsts pan.
Und an der peicht seß und slief
Wann man im peicht von Sünden tieff,
Und nit west was ein todsünd wer:
Der wer nit ein gutter peichtiger*).
Und doch ist das Ganze wie jeder einzelne Zug in der kirch-
lichen Vorschrift gegeben: „Keinen bichter soltu dir selber nemen,
*) Penitencionarius Bl. 4a. Pelz, Beichtgedicht 89, 1 fP. Hoch.
2) Ein Beispiel bei Meyer, Fragmenta Burana S. 51.
3) z. B. der Schmerz über die Sünde soll nach dem h. Bernhard bitter,
bitterer und allerbitterst sein ; nachdenklich durchgeführt im goldenen Spiegel
des Sünders bei Hasak, Der christliche Glaube des deutschen Volkes beim
Schlüsse des Mittelalters. Kegensburg 1868. S. 210, 5. Aber auch hier
treffen volkstümliche Motive mit den theologischen zusammen.
*) B 163a.
503
der sinlosz si oder unsinnig od«r töbig oder zu eim kind worden
si oder trunken oder schlaff oder in dem banne si oder priester-
losz si oder zumal ungelert*)." „In virerley stuck pis tu schuldig
von newen anders zu peichten, das merk Zu dem ersten mal,
wenn der peichtiger einen geprechen hat, das er nit wol hört
oder schleflfet . . . oder wenn der prister unwissend oder ungelert
ist, das er denn den menschen nit berichten mag und nit enweis,
welche sund totlich oder leslich ist^j." Das Beichtiger-Priamel
ist dann Modell für humoristische Weiterdichtungen geworden,
die den idealen Beichtvater^) parodieren.
Von einem guten peichtiger.
Welcher priester sich eins solchen vermeß,
Das er ein jar an eim scholder seß,
■ Und auch ein jar wer ein padknecht,
Und ein jar ein pütel und püt auß recht,
5 Daran man mangerlai abentewr spürt,
Und auch ein jar ein plinten fürt,
Und ein jar in freiheitsweiß umb lieff,
Und alle nacht in der padstuben slieff.
Und ein jar ein wirt wer in eim frauen hawß:
10 Do würt gar ein guter peichtiger aus*).
Mag das noch Bosenplütsche Arbeit sein, so fehlt dem
dritten Spruch dieses Motivkreises ,Ein priester der dreißig jar
zu schul wer gangen '^),' fürs 15. Jahrhundert auch die handschrift-
liche Beglaubigung. Beich und virtuos durchgeführt ist das Priamel:
*) Otto von Passau, Die vierundzwanzig Alten bei Hasak, Der
christliche Glaube des deutschen Volkes S. 253. GeilervonKeisersberg
ebenda 8. 526.
^) Weber, Die Bamberger Beichtbücher S. 49. Geffcken, Der
Bildercatechismus S. 22.
^ Von seinen Eigenschaften handeln eingehend u. a. die Penitencio-
narii. Geffcken, Beilagen S. 191.
*) A 23 a. Verkürzt um Vers 5. 6 in der Wiener Hs. 3027, 334 b. 4:
Vnd dienet ain jar aim tieb Schergen recht. 7. 8 umgestellt: Vnd
ain jar in der padstuben schlieff Vnd ain jar vntter den gelben
iarii (!) lieff. Geringero Abweichungen sind nicht vermerkt. Zum Motiv
oben S. 331.
») Keller S. 45. Nr. 23. .
504
Getreulich gearbeit mit allen geliden..
Und das Ion verspilt und mangel geliden;
Und vil gewallet on müde pein,
Die wider geruet kumen heim;
Und vil gepett on alle andacht,
Wenn zung und herz nit geleich zusagt;
Und vil gefastet mit guten ruppenlebem,
Die man sieht zu dem slaftrunk bewem;
Und vil gepeichtet und der puß nit halten,
Als dick geschieht von jungen und alten;
Und vil almusen geben von posem gut,
Als maniger rauber und Wucherer tut:
Wer die münz got für vol wil geben
Und aier legt in einen löcherten kreben,
Das sein zwu arbeit, die geleich einerlei malen;
Got let sich nicht mit küpferein münz bezalen^).
Zu Grunde liegen die Werke der Buße: Arbeiten, Wallfahrten,
Beten, Fasten, Beichten, Almosen Geben, die n. a. oben im
Penitencionarius erschiienen: laboro, snpplico, precor, ieiuno, peniteo,
do. Nun wird zu jeder Einzelheit wie bei der apologischen Gnome
ein die Wirkung aufhebender Zusatz gemacht, dessen Darob-
führung sich kunstvoll durch den ganzen Spruch hindurcbscblingt^
und dem Schluß gibt der Dichter, um das doppelte Gerüst des
Aufbaus zu stützen, mit meisterhafter Beherrschung der Technik
durch überraschende Erweiterung ein breites Fundament^). In
derselben Weise des apologischen Sprichwortes werden ein ander-
mal die Saligia, ein eisernes Inventar der populären Moralschrift-
stellerei '), abgehandelt, und zwar in der Beihenfolge : unkeuscheit,
tragheit, zom, frasheit, neid, hoffart und geitigkeit, und in der
Auffassung der Beichtschriften ^).
Secht, große schon on pose lieb,
Darumb David über die schnür hieb;
Und große sterk an pöß faulhait,
Darinn man Sampson sein bar abschnait;
1) Göttinger Beiträge 2, 44. Nr. 1.
3) Zur Schluß Wendung Weingrüße (Altd. Bl&tter 1, 401 ff.) 4, 20 ff.
^ R. von Liliencron, Über den Inhalt der allgemeinen Bildung in
der Zeit der Scholastik. Manchen 1876. S. 25. 44 ff. Uoepffner, Eustache
Deschamps S. 203 ff. Oeuvres completes 11, d04.
*) Weber S. 58 ff. 21 ff. Folz 90, 24ff.
505
Und große Weisheit an prauchen zu gut,
Darumb Cirus ertrankt in menschen plut;
Und großer reichtum an armut versmehen,
Darumb der reich man in der helle wart gesehen;
Und großer gewalt an ungenad,
Darumb Amon led Mardocheus tod;
Und hoher adel an hochfart,
Darumb Lucifer verstoßen wart;
Und recht urlailn an salben in der hant,
Darumb man Kommestos sein haut abschant:
Die siben stÜck wern gen got all geb und geng,
Verderbtens nit binden daran die posen nachkleng').
Zwei Kardinaltugenden erfahren in dem Priamel ,Wer in der
kirchen stet und swazt^)^ negative Erläuterung, indem wieder im
Sinne der Beichtschriften ^) zwei ihrer Gegenteile ausgeführt sind:
die zwei Wandel Trägheit und Neid (Untreue). Schon die Beicht-
bücher, besonders die eigentlichen Beichtspiegel, hatten für um-
ständliche Specificirung gesorgt. Im Grunde dieselben Sünden,
etwas allgemeiner betrachtet und mit einem kräftigen Witz zu-
sammengefaßt, machen das Priamel:
Essen und trinken an dankperkait,
Als uns die heilig schrift sait;
Und an andacht zu kirchen gangen
Mit großer hochfart und mit prangen;
Und predig hörn und daran nit keren,
Als dann die frummen priester leren;
Und almusen geben zu rum^) und zu gesiebt,
Als oft von mangem menschen geschieht;
Und rat geben aus falscher trew,
Und peichten on schäm und on rew:
Die werk sein got als lieb und genem,
Als ein beschorne saw die in ein judenschul kem^).
^) Gott. Beitr. 2, 50 Nr. 8. In K 35 a unter den geistlichen Priameln
aufgeführt. Auch Foix hat jedesmal, und zwar am Schluß, ein Beispiel
hinzugesetzt.
«) Gott. Beitr. 2, 56. Nr. 21. Eenner 2188 ff.
3) Weber S. 64f. 63 f. 22.
*) Weber S. 59. Polz 91, U.
») A56a. Zum Motiv Prov. 6, 10. 21, 17 und Seuse (Denifle) I 22»
506
Nur hat vielleicht das Motiv , Beicht ohne Beu^ eingewirkt.
Ganz herausgelöst aus diesem Zusammenhaug erscheint ein
Stück dieses Priamels vor dorn reforufiatorischen Spruch Von denn
Almufsen*). Unter dem Titelholzschnitt steht:
Almusen geben mit rom vnd tzu gesteht
Als of!t von manchem menschen geschieht
Vnd on andacht.tzu der kirchen gangen
Mit grosser hochffart vnd mit brangen
Vnd predig hören vnd daran nit keren
Daß dondt die frommen prister ietz nit leren.
Oreift so diese kirchliche Volksliteratur auch auf das Gebiet
des nicht geistlichen Priamels hinüber, so ist sie für die im
engeren Sinne geistlichen Priamel der eigentliche Nährboden*).
Die üblichsten Lehrstücke wurden in der Kirche nach der Predigt
vorgebetet; für das Nachbeten jedes einzelnen Stückes war viel-
fach ein Ablaß gegeben^). Auch Tafeln und Blätter mit bildlichen
Darstellungen aller Art dienten der kirchlichen Unterweisung*).
Der hauptsächlichste Träger dieser Überlieferung aber wurde der
schon im }4. Jahrhundert zu mächtiger Breite angeschwollene
Strom der populären Erbauungsliteratur, die mit erfinderisch ge-
1) Erfurt 8. a. Kgl. Bibliothek zu Berlin Yg 7600. Vgl. Yg 7596. Zum
Inhalt Migne, Patrologia latina 217, 747 A. Freidank 39, 5£f. Renner
2376 ff. Nd. Jb. 30, 131 ff, 112.
^) Auch das größere Spruchgedicht von der Beichte enthält, abgesehen
von der dichterischen Einkleidung, nichts, was nicht unz&hligemal in den
Beichtschriften wiederkehrte, z. B. Hasak S. 254. Vollständiger ist Folz,
dessen Gedicht sogar Predigten zu Grunde gelegt werden konnte. Hoch
S. 84ff. 64 ff. Vgl. Hätzlerin 2, 82. Vielleicht hängt manche Erscheinung
des Rosenpl fit sehen Sprachgebrauches, wie die Abstracta auf — ung, mit
dem Stil der Erbauungsliteratur zusammen. An naiven Geschmacklosigkeiten
nimmt es manches Erbauungsbuch mit K. auf: „So sich der mensche in das
bette gelogt hat, sal er mit seinen inwendigen ougen czwoi dinck mit vleis
ansehen vnd betrachten: mit dem lincken ougc sal er vndersich vnder das bette
sehen (Höllenpein) — , mit dem rechten ouge sal er vber sich sehen**.
(Himmelsfreudc). Hasak S. 338.
^.Falk, Die deutschen Meß- Auslegungen. Köln 1889. S. 25.
*) Falk, Die deutschen Sterbebüchlein. Köln 1890. S. 2 ff. ^In allen
Kirchen schaut eine Summa thcologiae von den Portalen, Fenstern und
Wänden auf die Gemeinde herab'*. Panzer, Dichtung und bildende Kunst
des deutschen Mittelalters in ihren Wechselbeziehungen (Neue Jahrbficber
•1904) S. 138.
519
Das mag alles nit ein sunt hingeflossen
On zwai dink, daz ist rew und peicht,
Daz treibt die sunt hin, daz sie weicht,
Das got ir nimmer mer wil gedenken
Und fürpas die sei mag nimmer krenk^n*).
Die beiden letzten auch inhaltlich matten Beichtsprüche be-
wegen sich ganz in dem umschriebenen Oedankenkreis; die Bilder
seines Handwerks oder wenigstens deren Ausmalung könnten
vielleicht Bosenplüts Eigentum sein.
Peicht ist ein solcher wirdger schätz'),
Das sie hinflöst aller Sünden aussatz,
Darin die sei würd also gepat
Als golt von vierundzwanzig karrat
Sich lauter ziment in fewres grat,
Das es der sechs metal frei stat^):
Also ziment sich in der peicht
Die sei, das alles daz von ir weicht,
Das sie mit Sünden mag verunreinen.
Darumb wer sich mit got wolle vereinen,
So ist peicht der allerpest teidingsmann ^),
Den man im himel und auf erden vinden kan^).
Von der absolutzen.
Das tausent perg eitel klar golt wern
Und wern eins menschen hie auf erden.
Noch möcht er nit das himelreich darumb kaufen,
Er wolt dann anderweit sich taufen
In rechter reu, in warer peicht:
Alles irdisch gut nit als ser reicht.
Als wan der priester gibt absolutzen,
Des selben all engel dort lachen und smutzen^).
0 A 15 a.
') Geff cken, Beilagen S.8 (Beicht und Buße besser als das edelste Gold).
3) Wochen (Herrig s Archiv 99, 16 ff.) 13 ff. Gott. Beitr. 2,29.
^) Otto Yon Passau: „Davon spricht Augustinus in dem buch der
rnwe: Bicht ist ein hilff der seien, ein zerstören der sünd und untugent,
ein streiterin wider die pösen geist, ein beschliesserin der hellen, ein ufftun
des himelschen paradisz.'' Hasak S. 252.
*) A 15b. Überschrift: Ler von der peicht.
^ Gott. Beitr. 2, 29.
510
die Ausführung keine Spur von Beeinflussung verrät. Am Schluß
unterläßt es Rosenplüt nicht, wieder an Beicht und Buße zu
mahnen.
Welcher mensch do glaubt an vogelgeschrai,
Das sterben bedeut oder solcherlai;
Und glauben hat an waffen segen,
Das sie ir sneiden lassen unterwegen,
Und glauben an verworfFen tag^),
Das got sein glück daran versag;
Und. auch daz segen lasset ein
Für den pülzan und für daz haubtgeschein;
Und auch an schuh werffen über daz haubt:
Wer solcher Itipperei vil glaubt,
Und nit daz peicht an setm letzten end,
Den weist man am jüngsten tag zu der linken hend,
Tieff in den verfluchten hellischen grünt;
Do für is peicht und puß gar gesunt^j.
Beim Glaubensbekenntnis, beim dritten Gebot des Dekalogs,
beim zweiten Gebot der Kirche und bei der siebenten Haupt-
sünde (Trägheit) wird Heiligung der Feiertage eingeschärft^).
Eosenplüts Priamelspruch dieses Inhalts kommt über landläufige
Gemeinplätze nicht hinaus*), Es entspricht der kanonischen Gel-
tung und der für die Literatur des ausgehenden Mittelalters überaus
großen Bedeutung des Systems der sieben Todsünden, wenn
der Schnepperer sich mit indirekter Behandlung dieses Themas
nicht begnügt; wie die alten Penitencionarii zählt er sie auch
direkt auf^). Stellen die lateinischen Merkverse die wichtigste,
die HofFahrt, voran, so erreicht der Dichter eine Steigerung, in-
dem er sie mit dem Schulbeispiel Lucifers ans Ende bringt.
Im übrigen wechselt die Eeihenfolge in lateinischen wie deutschen
Merkversen. ^ , r r <..
Culparum fontes sunt fastus, liuor et ira,
Luxus, auaricia, pastus et accidia^).
^) Priebsch, Deutsche Hsn. in England 1, 341 f. ühl, Unser Ka-
lender S. 30. 77.
2) A 51 a.
3) Hasak S. 297. Weber S. 53. 64. Geffcken, Beilagen S. 5.
Folz 99, IGff.u. 0. .
*) Göttinger Beiträge 2, 61, Nr. 34.
5) Göttinger Beiträge 2, 67. Nr. 43.
^) Penitencionarius Bl. 3a.
509
HeiligenverehruDg wurde im allgemeinen an das erste Qebot ge->
knüpft, Bosenplüt macht in seinem Heiligenspruch die Anwen-
dung auf einen einzelnen Fall: man soll glauben, daß die Fürbitte
der Heiligen für den bußfertigen Sünder wirksam sei^).
Welcher mensch nit glaubl piß an sein sterben,
Das die heiigen umb got gnad mügen erwerben
Eim menschen, der in todsünd feilt
Und wider nach gotes freuntschall stellt
Und die heiigen anruft daz sie got für in piten
Und in dez namen waz sie haben gellten,
Das er im wider geb sein huld
Und im ab tilg seiner Sünden schuld:
Ob daz gepet nit hilüich sei
Und got der heiigen pet verzei:
Wer das glaubt, der sünd wider got
Vil swerer dann prech er die zehn gepot
Und würd in den siben totsünden funden;
Das mecht seiner sei nit als vil schedlicher wunden s).
Ein stehendes, immer und immer wiederkehrendes Ka-
pitel ist in der geistlichen Volksliteratur bei Behandlung des
ersten Qebots des Dekalogs ^) dem Aberglauben gewidmet.
Ausgewählte Vorschriften dieser Art wurden, wie in den Bam-
berger Sprüchen und von Hans Fol z in Verse gebracht^). Alles,
was Bosenplüt in seinem Spruch „Von ungelauben^ ^) erwähnt,
erscheint unzähligemal in jenen kirchlichen Vorschriften: Vogel-
geschrei, Segen, verworfene Tage, Schuhe werfen, lüpperei^).
Es ist also wegen dieses Spruches nicht im geringsten erforderlich
mit Vintlers Herausgeber anzunehmen, daß der Nürnberger Dichter
die Pluemen der Tugent gekannt haben müsset, besonders da
>) Polz 107, if.
^ A51a. 3: Ein mensch N 167b. 6: Ynd in des ermanen C.
^) In den Bamberger Beichtbüchern wird der Aberglauben noch einmal
beim ersten Sakrament (Weber S. 69 ff.) behandelt.
*) Oben S. 500. ») A 51a.
6) Weber, Die Bamberger Beichtbücher S. 70 ff. Hasak S. 192 f. 47.
105f. n. ö. Geffcken, Beilagen S. 2ff. 23f, 37. 99f. 112f. u. o. Otto
Ton Passau, Die 24 Alten. Augsburg 1483 (Berlin, Kgl. Bibl. Eq 3209)
Bl. XLVUa.
7) Zingerle S. XXXI.
510
I I
die Ausführung keine Spur von Beeinflussung verrät. Am Schluß
unterläßt es Rosenplüt nicht, wieder an Beicht und Buße zu
mahnen.
Welcher mensch do glaubt an vogelgeschrai,
Das sterben bedeut oder solcherlai;
Und glauben hat an waffen segen,
Das sie ir sneiden lassen unterwegen,
Und glauben an verworfFen tagi),
Das got sein glück daran versag;
Und. auch daz segen lasset ein
Für den pülzan und für daz haubtgeschein;
Und auch an schuh werffen über daz haabt:
Wer solcher lüpperei vil glaubt,
Und nit daz peicht an setm letzten end,
Den weist man am jüngsten tag zu der linken hend,
Tieff in den verfluchten hellischen grünt;
Do für is peicht und puß gar gesunt^).
Beim Glaubensbekenntnis, beim dritten Gebot des Dekalogs,
beim zweiten Gebot der Kirche und bei der siebenten Haupt-
sünde (Trägheit) wird Heiligung der Feiertage eingeschärft^).
Eosenplüts Priamelspruch dieses Inhalts kommt über landläufige
Gemeinplätze nicht hinaus^), Es entspricht der kanonischen Gel-
tung und der für die Literatur des ausgehenden Mittelalters überaus
großen Bedeutung des Systems der sieben Todsünden, wenn
der Schnepperer sich mit indirekter Behandlung dieses Themas
nicht begnügt; wie die alten Penitencionarii zählt er sie auch
direkt auf^). Stellen die lateinischen Merkverse die wichtigste,
die Hoffahrt, voran, so erreicht der Dichter eine Steigerung, in-
dem er sie mit dem Schulbeispiel Lucifers ans Ende bringt.
Im übrigen wechselt die Eeihenfolge in lateinischen wie deutschen
Merkversen. ^ , ^ ^ * i: * r . •
Culparum fontes sunt lastus, liuor et ira,
Luxus, auaricia, pastus et accidia^).
1) Priebsch, Deutsche Hsn. in England 1, 341 f. Uhl, Unser Ka-
lender S. 30. 77. .
2) A 51 a.
. 3) Hasak S. 297. Weber S. 53. 64. Geffcken, Beilagen S. 5.
Polz 99, IGff.u. 0.
*) Göttinger Beiträge 2, 61, Nr. 34.
5) Güttinger Beiträge 2, 67. Nr. 43.
^) Penitencionarius Bl. 3 a.
511
Dafür hat ein anderer Penitentionarius in der zweiten Zeile:
Accidia, pastus quoque avaritia luxns'). Ebenso angleich ist die
Anordnung in den Übersetzungen, z. B.
Alß mancher heyige hat geschriben.
Der großen heupt sunde findet man syben ;
HofFart, czorn, neyd vnd haß,
Geytigkeit, traclcheit, vnkeußheit vnd fraß^).
Hoffahrt, trackheit, neid und unkeuscheit,
Frasheit, zorn und geitigkeit^).
Bei der Freiheit, die in Beihenfolge und Spezialisierung der
Saligia galt^), kann es nicht auffallen, wenn Bosenplüt die
Beihenfolge: Zorn, Geitigkeit, Neid und Haß, ünkeuschheit und
Fraß^), Hoffahrt wählt, Trägheit aber nach Zerlegung von Neid
und Haß keinen Platz mehr findet.
So unerheblich solche Reimereien auch sein mögen, der
Dichter sorgt doch durch Beispiele für Veranschaulichung
oder setzt den Stoff in unmittelbare Beziehung zur Gegenwart
(Vers 9. 14). Wie hochgebildet und geschmeidig seine Sprache
gegenüber dem Gestammel der Penitencionarii ist, lehre noch ein
Beispiel. , . ... ,
*^ Jussio, consilium, consensus, paipo, recursus,
Mutus, participans, non obstans, non manifestans :
Ut crimen proprium quandoque lues alioruni.
Uersweyge ich sunde oder lobe sy sere,
Rate ich die oder nicht were,
Habe ich teyl mit boßheit icht
Oder willen, vnd sunde melde nicht: ,
Darumb muß ich ofTte swerlich dulden
Und büßen von solches fremden schulden^).
An die Aufzählung der sieben Hauptsünden lehnt sich das
Priamel ^) :
*) Geffcken, Beilagen S. 190. ^) Penitencionarius Bl. 3a.
3) Weber, Die Bamberger Beichtbücher S. 21. Folz 90, 14 ff.
*) E. von Liliencron, über den Inhalt der allgemeinen Bildung in
der Zeit der Scholastik S. 25. Johannes Nid er, Die 24 Harfen, o. 0. 1476
(Berlin, Kgl. Bibl. Eq. 3309) Bl. XXVII b zählt und behandelt 8 Hauptsünden.
*) „des man sich nu rümpt" (Vers 9). Weber S. 23.
6) Penitencionaeius Bl. 4a. Geffcken, Beilagen S. 196. Folz, 96, 26ff.
^) Zwei andere Motive spielen hinein, das Motiv ,w6vor man sich zu
hüten hat' und das der Jugendlehre. Zu 1: Prov. 11, 15. 17, 18.
512
Bürgschaft damit man manchen verderbt,
Davon groß schat und feintschaft erbt;
Und trunkenheit davon man swacht,
Die oft ein man zu einem narren macht;
Und groß lüg sagen ungenötter ding,
Und junkfrawn swechen, daz manger wigt ring;
Und spil, darob man schilt und swert
Und auch darob umb die meuler pert^);
Und pöse weiber die mit lieb nur langen
Auf die Seiten, do die taschen an hangen;
Und pöse gesellschaft, die mangen verftlrt'),
Das er ein swengel in einer feltglocken würt^):
Wer in der jugent nach eren wöll ringen,
Der hütt sich allzeit vor disen siben dingen^).
Schon wiederholt ist es hervorgetreten, wie angelegentlich
Bosenplüt die neben dem Altarssakrament im Mittelpunkt der
ganzen kirchlichen Glaubenslehre jener Zeit stehende Beichte
empfiehlt; nicht weniger als acht Priamelsprüche hat er ihr ge-
widmet: jedesmal drei betonen die Schwere der Sünde und den
Wert des Bußsakramentes, einer versificiert die fünf Folgen der
Todsünde und einer die fünf Erfordernisse der Buße. Beginnen
wir mit dem letzten, der wieder die Vergleichung mit den Peniten-
cionarii geradezu herausfordert. Diese stellen die fünf Erforder-
nisse regelmäßig an die Spitze ihrer Unterweisungen:
(?) Eniteas cito, peccator, cum sit miserator
Iudex et sunt hec quinque tenenda tibi:
Spes venie, cor contritum, confessio culpa,
Pena satisfaciens et fuga nequicie.
Seynt daß got ist alleczeit erbarmung vol,
Seyne sunde eyn yderman büßen sol,
Unde wer seyne sunde wil recht erclagen,
Der sol funff ding stethe ym hcrczen tragen:
Hoffenunge czu gotte und eyn traurig hertze,
Lauter beichte vnd büße mit schmerczen,
>) Donaueschinger Hs. 94, 4a: Dardurch mancher jn Bünden vor-
her tt.
3) Dieselbe Hs.: Vnd pöße weib jn verstocktem mut
Die ir lieb erczaigent nmb das gnt.
^) dem galgen zetaile wirt.
«) A56b. 14 allzeit B 161b. jm alter A.
513
Fursecse, vorbaß sunde czu meyden:
Wil er entweichen dem ewigen leyden').
Was Eosenplüt daraus gestaltet, verrät den wirklichen
Dichter: die prosaischen Erfordernisse werden teilweise in poetische
Bilder gekleidet, nnd im Anschluß an die Freude des Himmels
über den büßenden Sünder malt er eine kleine dramatische Szene
vor unsere Äugen, wie Gott im Schiff seiner Gnade sich dem
Sünder nähert^) und ihn herüber holt ,zu seinen alten Senaten.'
Wer zu himel ein newe freud well machen,
Das all heiigen und all engel lachen^)
Und got hab selbs ein wolgefallen:
Der sol hin für ein priester wallen
Und vor im alls sein übel bedenken*)
Und sol die gantz podennaig ausschenken^)
Und ein wäre peicht mit rew erzaigen
Und sol das lauter und trüb absaigen*)
Und all sein scharten aussleiffen und wetzen^)
Und nimmertun ganz für sich setzen'):
Der macht zu himel ein newes frolocken,
Das got schifft^) in seiner genaden kocken
Und holt in selbs über zu sein alten Senaten;
Darumb sol niemant peichtens lang geraten*").
>) Bl. la Vergl. Geffcken, Beilagen S. 89. Polz 106, 15 ff.
*) Schöner freilich sagte Freidank 35, 16 ,diz wazzer (der Beuetränen)
hat vil lisen vluz, nnt hoert got durh der himele duz'.
^) Geffcken, Beilagen S. 12: „Dese beichte worhaffticlichen vnd reyne,
dorumb dirfrewit sj allis hjmmelische her^.
*) Weber S. 15. „Bedenck dein sund«. Polz, 106, 25. 104, 5.
*) Oberlin, Bihtebuoch S. 7: „der bihte einzvnge vnde stetekeit".
Weber S. 46: „ein mensch sol auch nit teilen die peicht ... er sol alle
Sunden peichten, die er bedenken kann zu mal einem prister^. Otto von
Passau bei Hasak S. 253. Vgl. 303; eine überall erhobene Forderung.
Polz 86, 7. 104, 6.
^) Hasak S. 302: „zum dritten sol die beicht offenbar, lawter vnd dar
sein, hit mit verdecten Worten".
^ Genugtuung, Satisfactio.
^) Vorsatz, fuga nequicie. Was S. 13 meiner Dissertation üher diesen
Vers gesagt ist , trifft also nicht zu. Vergl. das größere Spruchgedicht von
der Beicht (Psp. 1102): „Und nimer thun in dein hertz pflantzen". Polz,
Beichtgedicht 86,27 (Hoch): „Und ewiges niemer tuon jm setzen für".
») A: stifft. 10) A 16b.
Bnling, Priamel 33
514
Die zahlreichen Einzelvorschriften über die Eigenschaften der
Beichte scheinen stellenweise eingewirkt zu haben. Der Peniten-
cionarins verlangt:
Uera, sit integra, sit eciam confessio xnunda,
Sit cita, firma, frequens, humilis, spontanea, nuda,
Propria, discreta, lacrimosa, morosa, fldelis.
Uernuflftige, war vnd gantz reyn. .
Und mit weynen sey dy beichte deyn,
De3aie eygne sunde ▼ernemlicbe sage
Und langßam dy dem prister clage
Mit wille stete vnd wortben bloß:
In dem muthe beichte deyne sunde groß ^\
Wie für die Saligia gab es für die fünf Folgen der Tod
Sünde wohl keine kanonische Fassung, während allerdings ihre
Formulierung von jeher bis auf den Katechismus von heute große
Übereinstimmung zeigt. Sucht die Erbauungsliteratur die Aus-
führung dieses Themas möglichst zu vertiefen^), so herrscht bei
Bosenplüt das Bestreben, recht anschaulich zu sein.
Kein totsünt wart nie so dein getan,
Ir hangen fünf stück binden an 3):
Das erst, das sich der himel besleust
Als snell, als ein donnerstral scheust;
Das ander, das die sei nimer teilhaftig ist,
Was alle cristenheit singt oder list;
Das drit, das ablischt all lieb und begir.
Die got, ir schopfer, hat gehabt zu ir;
Das viert, daz alles ab ist gestorben.
Das got am kreutz ir hat erworben;
Das fünft, das all hellisch feint zudraben
Und fürpas gewalt über die sele haben,
Sie hin füren in die ewige hitz und frost;
Darumb ist sunt wol ein versalzne kost^).
0 PenitencioDarius Bl. 2a. Geffken, Beilagen S. 189. 19 f. Weber
S. 16. Gerson I (Basel 1518) Bl. XIÄ A f. Folz 86, 16 ff.
») z.B. Hasak S. 3ff. 275 f.
') „So hat doch ein jetliche totsund die letzen hinder ir. Der erst
Bchad'' ü. 8. w. Hasak S. 3.
*) A U b.
5l5
Um die Buß-Forderungen der Kirche zu begründen, wird
regelmäßig die Schwere derSünde betont^); ebenso regelmäßig
erfolgt die Erläuterung durch einen fingierten Fall. Das hat sich
in der Spruchdichtung früh zu einem stereotypen Motive ver-
dichtet. Freidank 40, 5 hatte gesagt:
Ob sUnd niht sUnde wsere,
si solt doch sin unmsere
durch vil manege unreinikeit,
die man von der sünde leit').
Hugo von Trimberg bildet das nach:
ob sUnd niht sünde wsere,
doch solte si sin unmsere
durh mangerleie gr6z unflät,
die di sUnde an ir hat.
und wsern die tiufel alle t6t,
dennoch lebt der sUeze got,
unser schepfer, den wir soltcn eren,
tac unde naht sin lop gemeren 3).
und ob niht hei und vegfiur wser,
doch solt uns sünde sin unmser
durh unsers herren lieb üf erden ^).
An die spätere Frei dank- Überlieferung hat sich der dem
Benner verpflichtete Vierzeiler angesetzt:
Daz sünd nit sünde war,
noch so war [sie] mir unmär
umb ir groß nnflättigkait;
das weiset mich mein bescheidenheit^).
Wird hier der Frei dank spruch dem Seneca beigelegt, so
erwirbt die Verfasserschaft in einem mnl. Spruch der abenteuer-
liche Lisemuschs.
*) Der Gothaer Libellus de poenitentia, dessen Abschrift vom Jahre 1404
datiert ist, beginnt mit der Auseinandersetzung: ,Wie pose die sunde sei.^
Jacobs und Ukert, Beiträge 2, 112.
^) W. Grimm S. LXXI. Der Gedanke ist aber doch theologisch.
Zeitschrift für kath. Theologie 28, 7. Johannes Nider, 24 Harfen Bl. LIa:
„Ynder hunderten kompt kam einer darzuo, das er sünd mejde, war die helle
nit". LXIIIb: „Vnd wer kein got, dennocht solt man tugent wurcken".
3) Renner 22816 ff.
*) Renner 9847 ff.
s) Cgm. 523, 131b. Pfeiffer, Freie Forschung S. 244. Nr. 61.
. 33*
516
LisemuscYis seit al oppenbaer:
AI waert dat sonde geen sonde en waer,
Ende God geen sonde en wrake
Ende niement quaet van sonden ensprake,
Nochtan soude men scuwen sonde,
Want si comt ute soe quaden gronde^).
Die Wendung kehrt noch bei Sebastian Brant wieder:
Wann schon kein gwalt wer, auch kein herr,
kein knechtlichkeit uff erden mehr,
unndt ich wehr alles dienstes fry,
steckht ich veniefift inn SUnnden bry:
möcht ich mich nicht fry achten recht,
so ich noch mehr der Sünden knecht*).
Mit der gewohnten grundsätzlichen Selbständigkeit hat Bösen
plüt das Freidankmotiv ausgebaut.
Das hell nit hell geschaffen wer,
Das manchen deucht gar ein gut mer^);
Und kein pöser geist wer beschaffen worden,
Die allen seien nachsleuchen zu ermorden;
Und kein fegfewr wer in dieser zeit,
Dorinn man ein quittantzen geit;
Und himmelreich nit wer himmelreich*),
Der ewig, gruntlos Freuden teich ;
Und sunt nit wer sünt^) noch schand
In Juden, in kristen noch in haiden lant;
Und sunt gein got kein feintschaft mecht
Und dort der sei kein schaden precht,
Und got kein sunt nie het versmacht:
Noch wer sunt vilpesser gelassen dann vollbracht ^j.
^) Saringar, Rijmspreuken 2, 213. Nr. 9. Dazu Anmerkung und
Nachweis.
3) Freiheitstafel 41 bei Zarncke, Narrenschiff S. 160.
*) Das Leugnen der Hölle kehrt als häufig vorkommende Sünde in den
Beichtschriften wieder. Weber S. 74. Geffcken, Beilagen S. 53. (Hasak
S. 47). Die nymer nit mit peyn würd 1er BDE.
«) Renner 22814 ff.
») Freidank 40,5.
^ A 14a. Zur Schlußwendung: Hasak S. 396: „und doch vil besser
wftr die sünd gelon''. ADB 29, 228.
517
Lehrte der dritte Alte bei Otto von Passau: „nüt mag
dich von got scheiden noch gotes geirren dann allein die sünd ^),^
so behandelt Bosenplüt dieses Motiv unter Aufzählung der be-
rüchtigtsten Sünder:
Lucifer und auch all sein genossen,
Die aus dem reich gots sein verstoßen'};
Und alle die in swefel und pech sein ertrunken,
Do die fünf stet in der alten ee versunken');
Und all mörder, Wucherer und eeprecher,
Die ie haben gelebt von Adams zeit hcr^);
Und alle die verlorn sein man und frawen,
Die gots anplick nimmermer schawen^);
Und Judas, der verreter und auch ein dieb:
Die hat got allsampt ewiclich lieb^)
Und alles das pöß, das nie sunn überscheint:
On allein die sunt, der ist got feint
Mit aller seiner himelischen massenei;
Nu prüft, ob sünd icht ein pöser wurm sei^).
Am meisten könnte man bei folgendem Bilde noch an dichte-
rische Selbständigkeit denken:
Es sagen all lerer und die heilig schrififl,
Das sunt sei ein solche swere gifft:
Wan alles daz wasser und holtz und stein
Und alles daz leben hat, fleisch und pein.
Und der ganz klos aller diser erden
Und was ie darauf gewuchs und noch sol werden,
Wenn daz alles wer ein pleien stück
Und leg einer sei oben auf irm rück:
1) Hasak S. 248.
^ formelhaft Benner 244 ff.
^ Weber, Die Bamberger Beichtbücher S. 89: „wer stument sond tnt,
dnrch die lies got fünf stet versincken in den grünt der helle^. Folz,
Beichtgedicht 88, 14 f. (Hoch).
*) formelhaft.
*) Otto von Passau bei Hasak S. 250: „wer joch das ein mensch
aller menschen sünd begangen het, wil er sich göttlicher erbermde enpfelen
ynd ergeben, er yindet bi got mer gnaden vnd ablösunge dan er begert oder
gedencken mag^.
^) A 16 a. Überschrift: ,Sandt die hast got aller meiste Zur Schluß-
wendung Hasak S. 276: „Daraus man versteen mag, wie gar ein übergroßes
übel ein todsünd sey^. Opschriften 1, 51.
518
Noch möcbt ez sie nit in die helle drücken
Und also weit von got gezücken
Als ein ungerewte totsünd;
Die drückt sie in die verflucht abgrünt,
In die ewig angst, in pein, in leiden;
Darumb wer sünd wol pillich zu meiden >).
Ähnliche Ausmalungen liebte die Erbauungsliteratur^. Aas
der unendlichen Schwere der Sünde ergibt sich notwendig der
unendliche Wert der sie aufhebenden Beichte und Beue.
Wahre Hymnen werden auf sie in den vierundzwanzig Alten an-
gestimmt'), und Tauler sagt: „Hett ain mensch gelebet hundert
jar und hete alle tag hundert todsünd getan und gab im got ainen
waren gantzen kere, von den Sünden zu lassen, und gienge mit dem
kere zu dem hailigen sacrament: so wäre das alles ain klain ding
unserm hern, in dieser hohen edlen gab alle die sünd in ainem
augenblick zu vergeben, als ein gestüppe auß deiner haut zu blasen,
und der kere möcht also kreftig sein, alle peine und büß gienge
damit ab und möcht damit hailig werden ^).^ „Es vervohet auch
kein buß^, mahnt Otto von Passau, „man hab dann vor die sünd
gerüwet und gebicht*).'' Von dem h. Augustinus wird der
Ausspruch citiert: „Kostlicher ist ein rechte rüwe, denn ob einer
durch die gantzen weit bilgerschafft tete^)." Zählte man wieder
die Werke der Buße auf, so ergab dies Motiv einen Friamelspruch:
Alles fasten und almusen geben und peten,
Und all die fustrit, die ie wurden getreten
In kirchgang oder auf heiligen wallwegen
In kelt, in hitz, in wint, in regen,
Und all meß, die ie wurden gesprochen und gesungen
Von Christen und kriechen, von orientischen zungen^),
Und aller mertrer plut vergießen,
Die nie den glauben von in ließen,
Und alles daz, daz man zu gut mag genossen:
1) A 14 b.
3) Geffcken, Beilagen S. 8 f.
^ Hasak S. 250.
*) Hasak S. 436f. Vintler 9892ff.
6) Hasak S. 255.
«) Ebenda S. 210. Vergl. Folz 104, 1 fif.
^ vnd von ormen^ischen zungen D,
519
Das mag alles nit ein sunt hingeflossen
On zwai dink, daz ist rew und peicht,
Daz treibt die sunt hin, daz sie weicht,
Das got ir nimmer mer wil gedenken
Und fürpas die sei mag nimmer krenkcb^).
Die beiden letzten auch inhaltlich matten Beichtsprüche be-
wegen sich ganz in dem umschriebenen Gedankenkreis; die Bilder
seines Handwerks oder wenigstens deren Ausmalung könnten
vielleicht Bosenplüts Eigentum sein.
Peicht ist ein solcher wirdger schätz*),
Das sie hinflöst aller Sünden aussatz,
Darin die sei würd also gepat
Als golt von vierundzwanzig karrat
Sich lauter ziment in fewres grat,
Das es der sechs metal frei stat^):
Also ziment sich in der peicht
Die sei, das alles daz von ir weicht,
Das sie mit Sünden mag verunreinen.
Darumb wer sich mit got wolle vereinen,
So ist peicht der allerpest teidingsmann ^),
Den man im himel und auf erden vinden kan^}.
Von der absolutzen.
Das tausent perg eitel klar golt wern
Und wern eins menschen hie auf erden,
Noch möcht er nit das himelreich darumb kaufen,
Er wolt dann anderweit sich taufen
In rechter reu, in warer peicht:
Alles irdisch gut nit als ser reicht,
Als wan der priester gibt absolutzen,
Des selben all engel dort lachen und smutzen^).
>) A 15 a.
*) Gef f cken, Beilagen S.8 (Beicht und Buße besser als das edelste Gold).
3) Wochen (Herrigs Archiv 99, 16 ff.) 13 ff. Gott. Beitr. 2,29.
^) Otto von Passau: „Davon spricht Augustinus in dem buch der
rüwe: Bicht ist ein hilff der seien, ein zerstören der sünd und untugent,
ein streiterin wider die pösen geist, ein beschliesserin der hellen, ein ufftun
des himelschen paradisz.^ Hasak S. 252.
*) A 15b. Überschrift: Ler von der peicht.
«) Gott. Beitr. 2, 29.
520
Wann man dem pösen geist entrint
Und gotes huld gantz wider gewint,
Als het den menschen kein sünd nie gemeiligt;
Ein itlicher sünder in der peicht geheiligt,
Als do man in am ersten hat getauft ^) :
Ein itlicher mensch mit peicht daz himelreich kauft ^).
Mit dem Empfang des Bußsakramentes war der des Abend-
mahls in der Begel verbunden. Fünf Prlamelsprüche handeln
davon. Die erste Voraussetzung für einen würdigen Empfang des
Altarssakraments ist fester Glaube an die Transsubstantiation.
„Stareken und vesten glauben soltu han,^ schreibt Otto von
Passau vor^); Heinrich Seuse läßt die ewige Weisheit dem
Diener auf seine Frage: „0 weh, minniglicher Herr, und bist du
aber selbstselber eigentlich da?^ antworten: „Du hast noich in
dem Sakrament vor dir und bei dir ebenso wahrlich und eigent-
lich als Gott und Mensch, nach Seel und Leib, mit Fleisch und
Blut, als wahrlich mich meine reine Mutter trug auf ihrem Ann,
und als wahrlich ich bin in dem Himmel in meiner vollkommenen
Klarheit^). ^ Dieses Lehrstück verarbeitet Bosenplüt stofflich
in seinen Einzelheiten und gibt dem ganzen Spruch dieselbe
Wendung wie den Lehrsprüchen von der Mutter Gottes und den
Heiligen.
Welcher mensch den teufel sich lest berauben,
Daz er do zweifelt an dem glauben:
Das lebendiger got und mensch nit sei
Gantz in der gesegenten ostei,
Die uns der priester hie zeigen tut,
War got, war mensch, war fleisch, war plut,
Die gantze Substanz von oben hernider,
Got mensch und flaisch und all sein glider
Als gantz, als in die junkfraw trug.
Als volkumlich, als man in an daz kreutz slug.
1) Beicht Fsp. 1102.
^) A 15 b. 14 Mit rechter peicht man hie das himelreich B.
^) Hasak S. 259. Leider fehlen für das Abendmahl solche Zusammen-
stellungen, wie sie Hasak und Paulus for die Beichte gemacht haben;
weitscbichtige Originalliteratur ist hier in Königsberg fast durchweg un-
erreichbar.
*) Denifle 1, 451.
521
Do man im wunt macht füfi und hend:
Wer daz nit glaubt piB an sein end.
Der wirt am jüngsten tag zu der hell getriben
Und sein nam wirt aus dem lebendigen puch geschrieben ■).
Zur Vorbereitung auf das Abendmahl werden in dem zweiten
Spruch fünf Dinge als erforderlich bezeichnet: wieder der Glaube
an die Transsubstantiation (5), Qlaube an das apostolische Symbo-
lum (1), der sonst wohl schwerlich als besondere Vorbereitung
für das Abendmahl angesehen worden ist'), Beichte (2), Buße (3),
Zuversicht (4)').
Welcher mensch daz heilig sacrament wil niessen,
Dem sullen fünf zweig in seim hertzen aufsprissen:
Das erst, daz er zwelf stück cnstenlich glauben
Gantz glaub und nichtz davon laB^) rauben;
Daz ander daz er ein wäre peicht tu.
Wie er gesunt hab, wenn oder wu^);
Das drity daz er recht halt sein puB,
Darumb mang sei lang leiden muB;
Das vierd, das er alles wider wöll keren,
Das er in hat wider got sein herren;
Das fünfty daz er nit zweifei an der ostei,
Das warer got, plut und fleisch do sei:
Wann die fünf zweig in seim hertzen zeitigt) sten,
So mag er frölich zu gotz tisch gen^).
Inhaltlich und dem Motiv nach verwandt ist der Abend-
mahlsprach:
^) A 51 a. Überschrift: Hut dich Tor des tenfels betriegnus. 12 tag fehlt
ACE. Florileginm Gottingense Nr. 316: Constat in altari camem de pane
sacrari, lUa caro dens est; qui dnbitat, rens est.
^ Vielleicht yeranlaßt darch Vorschriften wie die Ottos TonPassan,
Die 24 Alten. Augsburg 1483. Bl. LYIIIa: „Du solt dich auch darczno schicken
Tnnd berejten mit festem gemuot eines starckes gelaube's*^. (Augastin).
^ Otto von Passau: „die es enpfohent von des priesters henden...
on glauben und on Zuversicht, on liebi und in todsünden, die entphohent in
zu dem ewigen tod und on all frucht". Hasak S. 258.
*) CK leßt; ß thu; fehlt in AE.
*) Weber, Die Bamberger Beichtbücher S. 59flf. 16.
^ zeitig ACEK. stetig A.
^) A 52 b. Überschrift: Vom Sacrament fünf gute stück.
524
Welcher mensch altzeil betracht:
Wie got, sein schöpfer, fUr in vacht
Mit gegeißeltem leib, mit gekröntem haubt.
Da alle himelsche massanei an glaubt;
Und mit manchem frevelichen anrUren,
Und auch mit jemerlichem außfUren,
Und mit abtzihen und verneuen seiner wunden.
Die am jüngsten lag sten unverbunden '),
Mit dflrkeln füßen, mit löcherten henden —
Wo gesach ie aug ein swerlicher pfenden")? —
Und nackt höh an ein kreutz gehenkt:
Welcher mensch das in seim hertzen bedenkt.
Der stifn seiner sei ein pesser selgeret,
Denn das er hundert tag zu Wasser und prot gevast het^.
Nur durch die negative Wendung*) unterscheidet sich von
dieser Fassung die folgeode:
Wer got nit dankt seins kniens und switzens
Und an der seulen seins pesem smitzens
Und seiner eindrUckung der dürnen krön
In das haubt aller haubt auß dem höchsten tron,
Und nit im dankt seins kreutz austragens
Und seins abtzihens und anslagens
Und seiner außdenung und aufsprießens
Und aller seiner wunden und plut vergießens,
Do er allein weit fUr uns streiten,
Und des sperstichs in seiner heiigen Seiten,
Daraus erfloß aller seien labung
Und aller erbsUnd ein abschabung:
Der mensch hat kein teil an seiner marter
Und ist seiner sei ein ungetreuer griflwarter').
523
gebet ohne inhaltlich neue Yorstellangen ist als ,ein gute gedecht-
nus von dem hochwirdigen Sacrament^^) bezeichnet.
Welcher mensch daz heilig sacrament enpfecht
Und also in seim hertzen gedecht:
Ich han empfangen daz aller höchst gut,
Das mich gekauft hat mit seim plut;
Ich han das war osterlamp enpfangen,
Daz für mich an ein kreutz wart gehangen;
Ich han empfangen den gantzen knaben,
Den all engel für iren Schöpfer haben;
Nu beleih pei mir, du hohe reichhait,
Als lang piB mich der tod erschleichat:
Wer also in seim hertzen betracht,
Pei dem der himelisch gast benacht
Und ruet in seiner sele als in seim grab
Und tilgt im all sein vergessen sünd') ab 3).
Kalendermäßige Bittgebete für einzelne Jahreszeiten empfiehlt
Bosenplüt, indem er sie mit dem Oebot der Nächstenliebe
begründet*).
Messe und Abendmahl verknüpfen sich aufs engste mit dem
Leiden Christi. Die Mcßauslegungen setzen die Messe in die
mannigfaltigste Verbindung mit Christi Leiden^); die Meßerklärung
des Ob er linschen Beichtbuches empfiehlt, täglich an Gottes
Marter zu gedenken, wofür neun'" verschiedene Qnaden verliehen
werden^). Die Spezialisierung der Leidensstationen ^), vielfach in
typischen Formeln ausgeprägt, ermöglichte eine priamelhafte Be-
handlung.
1) A 53 a.
^ Webers. 95. Johannes Nider, Die 24 Harfen (1476) Bl. CXXIXaf.
s) A 53a. B 187a. E. l.'iöa. Vergl. Germania 1890 S. 391 f.
*) Göttinger Beiträge 2, 51. Nr. 10. Zu 11 vergl. Nd. Jhb. 19, 90 ff.
«) Franz, Die Messe S. 703 ff. 155 ff.
«) Bihtebuoch S. 89 f.
^) Berühmt ist Heinrich Seuses Schilderung I 52 ff. Hasak S. 155.
143 u. o. Die siben tagzeitt des Münichs von Salczburg: Hätzlerin 2, 302 ff.
Nr. 83. Das andächtig zeytglöcklein des lebens und leydens Christi nach
den XXIIII Stunden außgeteylt. Ulm 1493. Hasak S. 146. Passionsmessen
bei Franz S. 155 ff. Vergl. 252. 258. 262. Uhland, Volkslieder Nr. 311.
516
Lisemuschs seit al oppenbaer:
AI waert dat sonde geen sonde en waer,
Ende God geen sonde en wrake
Ende niement quaet van sonden ensprake,
Nochtan soude men scuwen sonde,
Want si comt ute soe quaden gronde^).
Die WenduDg kehrt noch hei Sehastian Brant wieder:
Wann schon kein gwalt wer, auch kein herr,
kein knechtlichkeit uff erden xnehr,
unndt ich wehr alles dienstes fry,
steckht ich veniefit inn SUnnden bry:
möcht ich mich nicht fry achten recht,
so ich noch mehr der sUnden knecht*).
Mit der gewohnten grundsätzlichen Selbständigkeit hat Besen
plüt das Freidankmotiv ausgebaut.
Das hell nit hell geschaffen wer,
Das manchen deucht gar ein gut mer^);
Und kein pöser geist wer beschaffen worden,
Die allen seien nachsleuchen zu ermorden;
Und kein fegfewr wer in dieser zeit,
Dorinn man ein quittantzen geit;
Und himmelreich nit wer himmelreich^),
Der ewig, gruntlos freudenteich ;
Und sunt nit wer sünt^) noch schand
In Juden, in kristen noch in haiden lant;
Und sunt gein got kein feintschaft mecht
Und dort der sei kein schaden precht,
Und got kein sunt nie het versmacht:
Noch wer sunt vil pesser gelassen dann vollbracht ^j.
^) Saringar, Bijmspreuken 2, 213. Nr. 9. Dazu Anmerkung und
Nachweis.
3) Freiheitstafel 41 bei Zarncke, Narrenschiff S. 160.
*) Das Leugnen der Hölle kehrt als häufig yorkommende Sünde in den
Beichtschriften wieder. Weber S. 74. Geffcken, Beilagen S. 53. (Hasak
S. 47). Die nymer nit mit peyn wnrd 1er BDE.
«) Benner 22814 ff.
») Preidank 40,5.
^ A 14a. Zur Schlnßwendung : Hasak S. 396: „und doch vil besser
wibr die sünd gelon''. ADB 29, 228.
517
Lehrte der dritte Alte bei Otto von Passau: „nüt mag
dich von got scheiden noch gotes geirren dann allein die sünd^),^
so behandelt Bosenplüt dieses Motiv unter Aufzählung der be-
rüchtigtsten Sünder:
Lucifer und auch all sein genossen,
Die aus dem reich gots sein verstoßen');
Und alle die in swefel und pech sein ertrunken,
Do die fünf stet in der alten ee versunken^);
Und all mörder, Wucherer und eeprecher,
Die ie haben gelebt von Adams zeit hcr^);
Und alle die verlorn sein man und frawen,
Die gots anplick nimmermer schawen^);
Und Judas, der verreter und auch ein dieb:
Die hat got allsampt ewiclich lieb^)
Und alles das pöß, das nie sunn überscheint:
On allein die sunt, der ist got feint
Mit aller seiner himelischen massenei;
Nu prüft, ob sünd icht ein pöser wurm sei^).
Am meisten könnte man bei folgendem Bilde noch an dichte-
rische Selbständigkeit denken:
£s sagen all lerer und die heilig schrifft,
Das sunt sei ein solche swere gifft:
Wan alles daz wasser und holtz und stein
Und alles daz leben hat, fleisch und pein,
Und der ganz klos aller diser erden
Und was ie darauf gewuchs und noch sol werden,
Wenn daz alles wer ein pleien stück
Und leg einer sei oben auf irm rück:
1) Hasak S. 248.
^ formelhaft Renner 244 ff.
^ Weber, Die Bamberger Beichtbücher S. 89: „wer stnment sund tut,
durch die lies got fünf stet versincken in den grünt der helle^. Folz,
Beichtgedicht 88, 14 f. (Hoch).
*) formelhaft.
^) Otto von Passau bei Hasak S. 250: „wer joch das ein mensch
aller menschen sünd begangen het, wil er sich göttlicher erbermde enpfelen
ynd ergeben, er vindet bi got mer gnaden ynd ablösunge dan er begert oder
gedencken mag^.
^) A 16 a. Überschrift: ,Sundt die hast got aller meiste Zur Schluß-
wendung Hasak S. 276: „Daraus man yersteen mag, wie gar ein übergroßes
übel ein todsünd sey'^. Opschriften 1, 51.
518
Noch möcbt ez sie nit in die helle drücken
Und also weit von got gezücken
Als ein ungerewte totsünd;
Die drückt sie in die verflucht abgrünt,
In die ewig angst, in pein, in leiden;
Darumb wer sünd wol pillich zu meiden <).
Ähnliche Ausmalungen liebte die Erbauungsliteratur^. Aus
der unendlichen Schwere der Sünde ergibt sich notwendig der
unendliche Wert der sie aufhebenden Beichte und Beue.
Wahre Hymnen werden auf sie in den vierundzwanzig Alten an-
gestimmt'), und Tauler sagt: „Hett ain mensch gelebet hundert
jar und bete alle tag hundert todsünd getan und gab im got ainen
waren gantzen kere, von den sünden zu lassen, und gienge mit dem
kere zu dem hailigen sacrament: so wäre das alles ain klain ding
unserm hern, in dieser hohen edlen gab alle die sünd in ainem
augenblick zu vergeben, als ein gestüppe auß deiner haut zu blasen,
und der kere möcht also kreftig sein, alle peine und büß gienge
damit ab und möcht damit hailig werden^)." „Es vervohet auch
kein büß'', mahnt Otto von Passau, „man hab dann vor die sünd
gerüwet und gebicht*)." Von dem h. Augustinus wird der
Ausspruch citiert: „Kostlicher ist ein rechte rüwe, denn ob einer
durch die gantzen weit bilgerschafft tete^).'' Zählte man wieder
die Werke der Buße auf, so ergab dies Motiv einen Priamelspruch:
Alles fasten und almusen geben und peten,
Und all die fustrit, die ie wurden getreten
In kirchgang oder auf heiligen wallwegen
In kelt, in hitz, in wint, in regen,
Und all meß, die ie wurden gesprochen und gesungen
Von Christen und kriechen, von orientischen zungen^),
Und aller mertrer plut vergießen,
Die nie den glauben von in ließen.
Und alles daz, daz man zu gut mag genossen:
1) A 14 b.
») Geffcken, Beilagen S. 8 f.
^ Hasak S. 250.
*) Hasak S. 436f. Vintler 9892ff.
») Hasak S. 255.
6) Ebenda S. 210. Vergl. Folz 104, 1 ff.
^ ynd von ormen^ischen zungen D,
519
Das mag alles nit ein sunt hingeflossen
On zwai dink, daz ist rew und peicht,
Daz treibt die sunt hin, daz sie weicht,
Das got ir nimmer mer wil gedenken
Und fürpas die sei mag nimmer krenk^*).
Die beiden letzten auch inhaltlich matten Beichtspruche be-
wegen sich ganz in dem umschriebenen Gedankenkreis; die Bilder
seines Handwerks oder wenigstens deren Ausmalung könnten
vielleicht Bosenplüts Eigentum sein.
Peicht ist ein solcher wirdger schätz'},
Das sie hinflöst aller sünden aussatz.
Darin die sei würd also gepat
Als golt von vierundzwanzig karrat
Sich lauter ziment in fewres grat,
Das es der sechs metal frei stat^j:
Also ziment sich in der peicht
Die sei, das alles daz von ir weicht,
Das sie mit Sünden mag verunreinen.
Darumb wer sich mit got wolle vereinen,
So ist peicht der allerpest teidingsmann ^),
Den man im himel und auf erden vinden kan^}.
Von der absolutzen.
Das tausent perg eitel klar golt wem
Und wern eins menschen hie auf erden,
Noch möcht er nit das himelreich darumb kaufen,
Er wolt dann anderweit sich taufen
In rechter reu, in warer peicht:
Alles irdisch gut nit als ser reicht,
Als wan der priester gibt absolutzen.
Des selben all engel dort lachen und smutzen^).
0 A 15 a.
') Gef f cken, Beilagen S.8 (Beicht und Buße besser als das edelste Gold).
3) Wochen (Herrig s Archiv 99, 16 ff.) 13 ff. Gott. Beitr. 2,29.
^) Otto von Passau: „Davon spricht Augustinus in dem buch der
rüwe: Bicht ist ein hilff der seien, ein zerstören der sünd und untugent,
ein streiterin wider die pösen geist, ein beschliesserin der hellen, ein ufftun
des himelschen paradisz.'^ Hasak S. 252.
*) A 15b. Überschrift: Ler von der peicht.
^ Gott. Beitr. 2, 29.
528
In der Müncbener Hs. Cgm 713 steht unter den geistlichen
Priameln der Spruch von den sechs Lehrern, der mit dem größeren
Spruchgedicht von den sechs Ärzten (Fsp. 1083 ff.) zusammenhängt.
Daß Christus selbst, der sechste Arzt, als ,unser ypocras^ wir als
seine Patienten vorgestellt werden, ist nichts Ungewöhnliches^);
noch weniger, daß Vater, Mutter, Prediger, Beichtiger, das Ge-
wissen und der Schutzengel als sechs Lehrer auftreten.
Ein vater» der sein kint gern leren wolt»
Was es tun oder lassen solt;
Und ein mutter, die allweg weist und lert,
Wovon sich glück und selikeit roert;
Und ein prediger der auf der kantzel ausschreit,
Warumb uns got sein himelreich geit^);
Und ein peichtiger, der do lert in der peicht,
Wie man gen got und gen der werlt reicht ');
Und ein gewissen, daz ein itlich mensch tregt,
Das allweg wider die stind negt;
Und ein engel, der eim itlichcn ist zu geben,
Der allweg wider das Übel soM) streben:
Wer den sechs lerern nit volgt mit iren leren,
Der muß am jüngsten tag ewiglich von got keren^).
Bei dem Spruch von der Liebe, die auf den Pfennig ge-
fallen, bildet wohl die übliche katechetische Zweiteilung Liebe zu
Gott und zum Nächsten^) die Grundlage, wird abdr willkürlich
erweitert nnd erhält einen unerwarteten Schluß.
Die lieb, die wir zusammen haben solten,
Als an dem jüngsten tag wol wird vergolten;
Und die man haben solt zu gerechtigkeit,
Als uns die heilig geschrift seit;
>) z. B. Hasak S. 305. Bei Johannes Nider, Die 24 Harfen (1476)
BL XXXIIa werden die heiligen Altv&ter ,dle arczet der sele' genannt.
^ Göttinger Beitr&ge 2, 27. Ton den Türken 11, 5. Müssigener Fsp.
1155: ,volge den cantzel schreyem'.
^ Fsp. 1086. der fünft sei arczt
*) N vnrecht thut.
^) A 54a. Überschrift: Sechs gnt lerer, den yolgt man pillich.
«) Folz, Beichtgedicht 87, 16 ff. (Hoch). Weber, Die Bamberger
Beichtbücher S. 87. Yergl. 8. 40 f. und im allgemeinen die Ansfühmngen
über das erste Gebot, wobei die Liebe zu yerg&nglichem Gut der liebe
Gottes entgegengesteUt zn werden pflegt
529
Und die lieb, die vater, muter und kint
Und bruder und swester, was der sint,
Zusammen solten haben von natur,
Darumb das sie sein einer figur;
Und die lieb, die man zu got solt haben,
Darnach ein iglich man solt graben,
Als man dan predigt von in allen:
Die lieb ist all auf den pfennig gefallen *).
Kirchliche Vorstellungen beherrschen mehr als die Hälfte
aller Rose np lutschen Priamelsprüche; die Kirche ist noch der
ausschlaggebende Faktor im geistigen Haushalt des mittelalter-
lichen Menschen. Freiere Variation der Saligia könnte der
Spruch sein:
Ein Sünder, der in sein Sünden verzagt;
Und ein priester, der aus der peicht sagt;
Und ein mülner, der do feischlich mizt;
Und einer, der an der unee sitzt;
Und einer, der frevelich im pann leit
Umb rechte sach, und nichtz darumb geit;
Und ein ricbter, der eim armen daz recht verkürzt
Und im ein hütlein darüber stürzt;
Und ein herr, der new zoll stifft,
Domit er lant und leut vergiüt:
Vam die siben') zu himel an der engel schar.
So fert ie ein frummer karteuser auch dar 3).
Seit Marquard Mendel 1381 das Karthäuserkloster gestiftet,
mehrte sich bald die Teilnahme für ihren Gottesdienst so sehr,
daß schon nach kurzer Zeit noch eine Kapelle hinzugefügt werden
») C 173a. D 306. E 160b. H 124b. K 30b. b 79a. Priebsch, Deutsche
Hsn. in England 2, 156. 1. die die menschen CDEK. zu einander ODEK.
11. vor uns CD E. von uns L. Schon bei diesem Spruch, der auffällig
matte Stellen besitzt (4. 6. 11.) scheint Rosenplüts Verfasserschaft nicht
gesichert; nichts von seiner Art hat der aus fast unverbnndenem älteren
Material zusammengeschobene Bettelspruch Keller, Schwanke S. 50 Nr. 26.
Nicht geistlich ist der vorzügliche Pfennig-Spruch: ,Eumt kunst gegangen
für ein haus^ Keller S. 51.
^ Sieben Sünder: oben S. 526. Sieben allegorische Besucher: Keller,
Schwanke S. 51. Sieben Unmöglichkeiten: S. 94. Nr. 50. S. 96. Nr. 51. Andere
Sieben Keller 1. 3-4. 8. 9. 13. 30. 45 u. ö.
3) A 19b. 7 ritter B. Zum Motiv oben S. 304. Keller, Erz. 507, 10*
Baling, Prlamel 34
530
mußte, weil die Earthäuserkirche angeblich die zudrängenden
Gläubigen nicht fassen konnte ^). Mit einer gewissen Hochachtang
behandelt den Earthäuser der Nürnberger Yolkswitz, wie der
heutige Vierzeiler den Einsiedler^).
Die karthäuser sind uns gar zuwidr,
Wenn sie aufsten, legen wir uns nidr:
Ein solchen orden wollen wir han.
Die karteuser sind uns ungemäß,
Wir eßen kein korb und sie kein käs:
Ein solchen orden wollen wir han.
Die karteuser sind uns ungemein,
Sie eßen kein fleisch und wir kein bein:
Einen solchen orden wollen wir han 3).
So malt Bosenplüt einen Hans Liederlich, um von ihm zu
sagen: „Der taug zu keinem kartheusser woP^). Soll das ent-
behrungsreichste Leben bezeichnet werden, so ist es härter als
das der Karthäuser^). „Ein Mann, der muß wohnen in anderer
Leut Häuser^, sagt eine Hausinschrift, „der ist noch ärmer als
ein Kardäuser^ ^). Bosenplüt greift das Motiv auf, um mit dem
Stolz des selbständigen Meisters zu schildern, wie ein Handwerker
verarmt und schließlich Dienstknecht wird:
Welcher man vil junger kint hat.
Dem die sonn ee im hauß ist dann das prot?),
Und iedlichs kint nach essen grant,
Und er vor ern und guts hat gewant,
Und her ist komen mit großer hab,
Und an seinen eren nimpt ab,
Und umb sein armut wirt versmecht,
Und im alter muß werden ein dinstknecht,
^) Reicke, Geschichte der Reichsstadt Nürnberg S. 286 ff.
2) Pogatschnigg und Herrmann 1% 2. Nr. 8. 120. Nr. 583. Opschrif-
ten 1, 46.
^ ühland, Volkslieder Nr. 210, 5 ff. Birlinger und Crecelius,
Wunderhorn 2, 364 aus dem Musikalischen Zeitvertreiber, Nürnberg 1609.
*) Gottinger Beiträge 2, 52. Nr. 11. In Hs. N 2b steht dazu unten auf
der Seite: „An dye füeß getretten ist auch gepetten^. Heinrich von Melk,
Erinnerung 220 ff.
«) H&tzlerin 2, 74, 37. Uhland Nr. 279, 13.
^) Rob. Falck, Art und Unart in deutschen Bergen, Berlin (1890) S. 67.
») Predig 26.
531
Und erst sich nern in fremder leut heuser:
Der hat vil ein hertern orden dann ein kartheuser^).
Am wirksamsten hat Rosenplüt den Karthäuser am Schluß
des Priamels von den Knaben in den hohen Hüten erscheinen
lassen ^).
Die knaben in den hohen hüten ^,
Die an dem tanz toben und wüten,
Das oft der sweiß wirt von in rinnen^),
Ee sie der metzen huld gewinnen,
Und des nachts auf der gassen umbtrieffen,
Und oft die ganze nacht umbslieffen
Mit lauten, mit harpfen, mit clavizimel:
Den wirt die hell vil seurer dann dem kartheuser der himel*).
Aber die Schlußwendung ist gar nicht neu. Nach Isidors
Sentenzen (Migne 83, 692 C: „Quid in hac vita laboriosius, quam
terrenis desideriis aestuare? aut quid securius, quam hujus saeculi
nihil appetere"?) hatte Freidank (66, i flf.) den Spruch gebildet^):
man lidet groezer arebeit
durch die helle, unt groeser leit
danne durh das himelriche;
und Hugo von Trimberg meinte (7452 flf.):
daz himelrich kumt vil senfter an
roangen guoten cI6sterman
den diu hell gar freidige liute.
In wirt diu helle üf erden sür (6851).
Heinrich Teichner (Karajan Anmerkung 105) wiederholt
den Gemeinplatz:
1) B 164b. C 156b. D 299. K 16b. L 14b.
2) A D B 29, 227. Ein ehrbarer Rat verbot schändliche Tänze mit
,halsen oder umbfahen' (Baader S. 91 f.), Nachtgehen, Unzucht und ,uber-
flüssig gedone' (Baader S. 56), die Förderung des Hofierens durch ,köstliche
mal' (Baader S. 75 f.). Sogar die Jungfrauen gingen Nachts hofieren, was
der Rat 1485 abstellen mußte (Baader S. 84).
3) Seifried Helbling 1,509; oben S. 379.
*) Müssiggener 10.
6) B 163b. C 155a. 31b. D 300. E 398a. H 126b. K 21b. L 9a. 0 5a.
^) Loewer, Patristische Quellenstudien S. 31. Hoepffner, Eustache
Deschamps S. 203.
34*
532
ich geloube an widerstreben,
das man die hei vil herter kouft
dan manz himelrich erlouft.
Für die glänzende Charakteristik der Modenarren, Nachtraben,
Liebesnarren, Kirchenschwätzer n. s. w. lieferte nicht nur ältere
Literatur und die Predigt, wie sie die Freiheitspredigt ^) kopiert,
sondern auch wieder die kirchliche Volksliteratur fertige Farben^).
Lebendiges gestalten konnte daraus natürlich nur der wirkliche
Dichter. Der, wie die Zahl der Handschriften ausweist, über-
aus beliebte Priamelspruch wurde Modell für zwei nicht geist-
liche Contrafacta '). Das Gegenstück zum Karthäuser ist die
Nonne; eignet sich ein Hans Liederlich nicht zum Karthäuser,
so eine liederliche, verwöhnte Frau nicht zur Nonne ^). Zu den
wundersamen Lebensläufen des Beichtigers bilden die des an-
gehenden Klerikers eine Ergänzung: das Stück, mit dem die
Priamelrede anhebt.
Ein Schreiber, der lieber tanzt und springt,
Denn das er in der kirchen singt;
Und lieber vor der metzen hoffirt,
Denn er eim prister zu altar ministrirt^);
Und lieber in lieimlich winkel sltiff*),
Dann das er gen predig lüff;
*) Es liegt die siebente Hauptsünde zu Grunde. Weber, Die Bam-
berger Beichtbücher S. 64 ff.
^) Weber S. 59f. 65: ,,Die do rasch sein zu tanzen, . . . zn wachen
die nacht gassirend, . . . vnd hunger, durst, frost leiden vnd hert ligen durch
suntlicher yerhonklicher sach willen''.
») Göttinger Beiträge 2, 58. Nr. 24. S. 55. Nr. 19. Zu 23, 2 f. Weber
S. 59; zu 24, 4 Teichner bei Earajan S. 171. A. 309. „daz man wilent
hiez ein schant"; zu 24, 85 Weber S. 59; zu 24, 7 wieder Weber S. 65;
zu 24, 8 Weber S. 59; zu 24, 9 f. Weber S. 60. Zum Inhalt G A 35, 601 «f.
Eriegk, Deutsches Bürgertum im Mittelalter N. F. S. 257. Ambraser Lieder-
buch 52, 20. Sog. Abraham a S. Clara, Narrennest. Wien 1751. 3, 89.
Zu 19,1 Helmbrocht 1004 fif. Fsp. 1008, 1 ff. 19,7. Keller, Erz. 393, 19.
♦) Göttinger Beiträge 2,33. Vergl. Seifried Helbling 1, 1233 ff.
Pogatschnigg und Herrmann 1«, 109. Nr. 529. S. 132. Nr. 643; S. 360.
Nr. 1691. ühland, Volkslieder Nr. 329. M. Haupt, Französische Volks-
lieder S. 140. Gustav Meyer, Essays 2, 154 f.
») Fsp. 1011, 24 f.
•) Fsp. 623, 2. 754, 23. 1008, 24.
538
Und lieber drei tag pulnprieff schrib,
£e er ein stund zu vesper plib;
Und lieber auf der gassen swanzirt,
Denn das er in den puchern studirt:
Wenn aus eim solchen ein frommer prister würt,
So hat in got wol mit grossem glück angerürt^).
Sieben Tugendübungen, wie Fasten, Andacht, Verdemütigung,
Beue und Leid Erwecken, Beten, Zucht -- ähnliches wird den
sieben Todsünden entgegengesetzt^) — erfahren ihre Kontrafaktur,
indem sie durch Verlegung auf unpassende Zeit und Gelegenheit
zu contradictiones in adjectis werden.
Welcher lei sein vasten und andacht
Spart ^) unz an die vasnacht
Und an ein tanz demütigkeit
Und zu schön frawen rew und leit
Und in ein weinhaus sein gepet^),
Wenn er spilt in dem pret,
Und sein zucht spart, unz er wirt vol:
Für ein weisen manne man in nit halten soP).
Verwandt ist außerdem den citierten Freidanksprüchen das
Motiv des md. Vierzeilers:
Wer den wolflf nicht forcht zu weinachten*).
Die vier Wandel des beliebten Dienstbotenspruchs ^) sind
den vier Angeltugenden nachgebildet; zählt man üngenügsamkeit
(Vers 2), „schaden und posen handel^ (3) hinzu, so ergeben sich
die Ehalten -Saligia. Wie in den „sechs Ärzten^ neben drei
>)B175a. C 163a. D 292. K 25b. N 2a. 0 5a.
^) Weber S. 21: „Keusch, demutig, zu geistlichen tugent hablastvnd
jnnikeit".
^ Fr ei dank 33, 22: „swer sünden buoze in alter spart, der h&t die
sei niht wol bewart^.
^) Frei dank 94, 13: j,swer sine sünde weinen mac, so er trunken wirt,
deist wines slac*^.
*) C 187b. F48a, Sp. 2 Vers 6: So er kart vnd spilt. 7 wicz
pis. 8 Der taug zu keynem karteuser woll. Keller, Schwanke S. 19.
Nr. 2. Die geringe und sp&te Bezeugung des Spruches ist yerdftchtig.
«) oben Kap. VI S. 357.
7) Keller, Schwanke S. 60. Nr. 31. B 18a. F 132c. Uhl S. 102. 0 5a.
P 344a. Wiener Hs. 4117, 44b (x). Priebsch, Deutsche Handschriften in
England 2, 156. Geyer, Die Tischzuchten S. 3 f. Cod. Pal. germ. 325, 20b (m)
534
„Leibärzten^ drei Seelenärzte aaftreten, so erhält auch die Lebens-
und Gesundheitsregel eine geistliehe Pointe.
Nach dreien dingen wirt man stark.
Das vint man in der Weisheit sark:
Das erst, wenn einer zalt sein schuld
Und gewint seiner gelter gunst und huld;
Das ander, wann ein der hunger hat besessen.
Darnach er genug hat trunken und gessen;
Das dritt, wenn einer recht hat gepeicht.
Davon vil swacheit von im weicht:
Die drei pürd trücken manchen krank.
Das im ein tag wirt zweier lank.
Wer die drei lest und von im lett,
Der hat so vil swacheit verzett.
Das er wirt sterker denn vor seiner zwen.
Wenn er on schuld und on sünd wirt geni).
Bei dem Gewicht, das Bosenplüt auf geistliche Poesie legt,
ist es erklärlich, daß er auch dem allgemeinen Stände- und
Rügesprucb gern eine geistliche Spitze gibt.
Welcher man den erzten wirt zuteil
Mit irer affensalben heil;
Und eim pösen zölner zu teil wirt.
So er im den zol hat hin geflirt;
Und den Juden zu teil wirt mit irm gesuch.
Da sie in schreiben in daz. wucherpuch;
Und den pfaffen zu teil wirt mit irm pannen.
So er in nicht gelts hat auszuspannen;
Und eim rauber zu teil wirt, der in umbslempt
Und in eim stock umb gelt clempt;
Und mit eim pösen weib wirt erslagen.
Die nacht und tag an im tut nagen:
Wer dem darzu eins pösen jars gan.
Der tut gar nahent ein teglich sünd daran 2).
Das Gegenstück dazu ist:
Ein toreter rater in eim rat,
So man weis sach zu handeln hat;
») B 166a. C 184a. E 395b. G 24a Sp. 2. Das Gegenstück bei Keller,
Schwanke S. 41. Nr. 21.
3) A 17 b.
535
Und ein unparmherziger richter,
Der am rechten wer ein pöser slichter;
Und ein ungelerter peichtiger,
Der nit west, was ein totsünd wer;
Und ein itiesner, der ein solchs verhilt,
Das er selber in der kirchen stilt;
Und ein torwarter, den weins kraft also beseß,
Das er der slüssel des nachtz si,m tor vergeß;
Und ein kastner» der mer nimpt, denn gultpücher ausweisen,
Und das übrig lest in sein sack reisen:
Wer die absetzt und ander frummer an,
Der tet kein große totsünd nimmer daran ^).
Bosenplüt empfiehlt ein praktisches Christentum.
Ein richter, der da sitzt an eim gericht
Und treulich darnach sint und ticht,
Wie er eim ein rechts recht müg sprechen,
Wann in der loica angel wil stechen.
So gewalt und miet das recht hinter sich treibt,
Wann er das wider für sich scheibt.
Wann man eim armen das recht verquent
Und im ein hütlein für die äugen went.
Siecht er das dann wider mit seim stab.
Und das recht lieber hat dann freunt oder hab:
Der erbeit seiner sei vil getreulicher zu got.
Dann hielt er allweg die zehen gepot
Und ging auf sein plossen knien wallen.
Noch hat got am rechten pessers wolgefallen ^).
Einigkeit ist Oott die wohlgefälligste Musik.
Ein rat in einer stat und ein ganze gemein.
Wo die all gleich tragen über ein;
Und ein pfarrer und all sein untertenig,
Die nimmer mit einander sein widerspenig;
Und ein konfent in eim kloster und ein apt.
Da zwischen es nimmer nit aufg^apt;
Und ein herr und all sein hintersessen.
Die nimmer mit einander kifferbeis essen;
Und ein frummer eeman und sein weib.
Die zwu sei haben und nur ein leib:
1) A 17a. 3) A 55b. B 157b. C 176b.
536
Secht wo die dink all gleich concordim,
Das ist got vil ein pessers hoffim
Dann alles das seitenspil und orgelgesank,
Das von musica auf erden ie erklank').
Sieben in ihrem Beruf Getreuen verleiht Oott ein seliges
Ende.
Ein hirt, der treulich seins viechs hütt
Und nimtner mer flucht und all weg gütt;
Und ein pauersman, der sein gült schon geit
Getreulich und zu rechter zeit;
Und ein hantwerksman, den niemant schilt,
Der eim sein pfenning wol abgilt;
Und ein richter, der do richtet recht
Dem armen als dem reichen und niemant versmecht;
Und ein ritter der gern beschirmt witwen und weisen
Und niemant in lest wider recht abzeisen;
Und ein herr, der frid macht über jar
Und das antreibt pis auf die par:
Den siben wil got mit nicht verzeihen,
Er wil in sein genad an irm letzten end verleihen^.
Im Himmel findet der humoristisch geschilderte Lebenslauf
eines Pechvogels den stilgerechten Abschluß: Oott läßt ihn
hinein, Sankt Peter wirft ihn wieder hinaus. Das apologische
Sprichwort ist auch hier formgebendes Princip geworden.
Dem ist wenig glucks beschert.
Ein frummer man, der gern recht tet,
Do niemant guten glauben an het;
Und den man für ein frummen man in ein rat erweit,
Und in ein pütel für ein schalk zeit;
Und ein könig im geb, daz er zu narung köm.
Und ims ein schintfessel wider nem;
Und ein wirt im gut hcrberg zusei t,
Und in der hausknecht wider aus geit;
Und im die wirtin hinten und vorn aufslüß.
Und die meid in mit eim wasser begüß:
Ein solcher möcht wol pillich klagen
Und auch von großer verheitkeit sagen.
») A 54 b. B 156 a.
«) A 20a. B 157a. Vergl. Keller, Schwanke S. 71. Nr. 37. Göttinger
Beiträge 2, 45. Nr. 2. 8. 59. Nr. 26.
587
Wenn in got in sein himelreich Heß,
Und in sant Peter wider heraus stieß')«
Bei der selbständigen Ausgestaltung eines durch Heinrich
von Melk (Erinnerung 220 ff.) schon bezeugten Motives:
möcht iemen mit herlicher spise
daz himelrich beherten
unt mit wol gistraelten härten
unt mit höh geschornem häre:
so wseren si alle häilich zwäre^)
könnte man an Zusammenhang mit Predigt oder geistlicher Lite-
ratur denken, will man nicht das Motiv als längst volksmäßig
geworden gelten lassen.
Bei der Herleitung des Priamelspruches ,W6lich man sich
vil rümpt von frauen^)^ konkurrieren die recht ähnlichen
Motive vierzeiliger Improvisation ^) mit den Sünden der Zunge und
des Mundes, wie sie in den Beichtschriften, auch versificiert, auf-
treten^). Gastfreundschaft zu üben, gehört unter die Werke
der leiblichen Barmherzigkeit. Sieben fromme Oäste werden
empfohlen:
Ein fruromer dinstknecht getrew und warhaft,
Der all weg gehorsam ist seiner herrschaft;
Und ein frumme^) junkfraw, der sich also stelt.
Das sie got und der werlt wol gefeit;
Und ein frumme eefraw, die nit nach get,
Dann was iren eren wol anstet;
Und ein frummer priester, der nit sünd hat getan
Und auf der kanzel wol reden kan;
Und ein frummer münch, der sein orden helt
Und sich von allen Sünden speit;
Und ein frummer pilgram auf dem gotz weg,
Der die nacht halb auf seinen knien leg;
«) A 18a. Vischer, Aesthetik 1, 391 f.
3) Dazu Heinzel S. 114. Göttinger Beiträge 2, 59. Nr. 26. 2, 45. Nr. 2.
3) Gott. Beitr. 2, 56. Nr. 22.
*) Kap. VI S. 302 (Hugo von Trimberg), 355, 377. Von den zahllosen
entsprechenden Vorschriften der sonstigen ma. Literatur kann hier abge>
sehen werden.
5) Weber, Die Bamberger Beichtbncher S. 18. Femer steht Nr, 822
des Florilegium Gottingense.
ß) junge A.
588
Und ein frummer getrewer arbeiter,
Den nie kein arbeit daucht zu swer:
Wer die siben zu gast in seim haus hat,
Der legt in wol mit eren ftir saltz und prot^).
Bis ins 16. Jahrhundert wirkte in den Sprüchen vom Almosen
der Libellus de eleemosyna des Innocentius III. nach: eine
analoge Erscheinung läßt sich bei Sprüchen und didaktischen
Ausführungen über das Alter beobachten, auf die das 11. Kapitel
der berühmten Schrift De contemptu mundi (Migne, Patrologia
217, 706 C: De incommodis senectutis) von Einfluß gewesen ist
Für Eustache Deschamps, Richard Bolle von Hampoie
und Hugo von Langenstein steht das fest ^); Fran9ois Villen
behandelt das Thema mit Selbständigkeit'). Hugo von Trim-
berg, die Fiore di virtü, Vintler*), scheinen u. a. Innocenz
mittelbar verpflichtet zu sein. Freilich gibt es schon in der
früheren deutschen Literatur eine ähnlich realistische Schilderung
des Alters, das bekannte 14. Fragment des Ruodlieb^). Aber
wie Heinrich von Melk (gleich seinen Quellen) zu Erbauungs-
zwecken den Tod ausmalt, so wird sich spätere Predigt und Er-
bauungsliteratur den dankbaren Gegenstand selten haben entgehen
lassen. Was demgegenüber volkstümliche Onomik an Spruch-
material über das Alter hervorgebracht hat, scheint nur (mehr
oder minder) unerheblich zu sein. Es ist Zufall, wenn ein Priamel-
vers (Vor alter wirt der man weiß)^) im modernen Schnader-
hüpfel wiederkehrt.
Und de Jugend hat ka Tugend,
Und de Schönheit ka Zier,
Und im Alter wert der Mann weiß,
Und so gehts hiez mir^).
Selbst, was wie unmittelbare Äußerung reifer Lebenserfahrung
klingt, Freidanks schöne Worte:
>) A22a.
') Eustache Deschamps, Oenyres completes 11, 145 f. 96. K5hler,
Schriften 2, 126. 147.
3) Gaston Paris S. 106.
*) Vergl. I 30 bei der Hätzlerin.
^) Koegel, Geschichte der deutschen Literatur I^ 394 f. Heyne,
Fünf Bücher deutscher Haasaltertümer 3, 20 weist auch auf Heliand 150 ff. hin,
^) Göttinger Beiträge 2, 54. Nr. 16, 1.
7) Pogatschnigg und Herrmann 2,50, Nr. 197,
543
Wenn im die siben stück wonen pei.
So sol er niemantz klagen, das er krank sei^).
Das letzte Priamel dieses volksmedizinischen Kreises ist das
Oegeostück zu dem Sprach ,Nach dreien dingen wirt man stark^
der eine geistliche Wendung nahm.
Nach dreien dingen wirt inan swach,
Das ist ein alte war sag:
Das erst, wann man hat gepat,
Das peut den glidern schach und mat;
Das ander ist von grossem zom
So hat der mensch vil kraft verlorn;
Das drit, wann man pei frawen leit,
Dasselb auch grosse swacheit gelt:
Nach paden sol man kelten fMehen^),
So wirt sich kraft wider einziehen;
Nach grossem zorn sol man freud suchen,
Das stet geschriben in den arztpuchen;
Wer denn sleft nach dem werk der frawen,
Der hat die swacheit al wider abgehawen^).
Die drei Warnungen sind landläufiger Bestandteil der Volks-
medizin ^).
Auf prahlerischen und komisch übertreibenden Schwan k-
erzählungen beruhen zwei Priamel sprüche von Erzfaulpelzen ^);
regelmäßig handelt es sich um eine hypothetische oder fingierte
Lage, deren einzelne Umstände, in parallelen Beihen geordnet,
dem Aufbau des Priamels dienen; vor dem Abschluß wird dann
hervorgehoben: der Faulpelz rührt sich trotz alledem nicht ^).
Die aller Textkritik spottende Verschiedenheit der Fassungen zeigt,
wie lustige Improvisation das Material ständig flüssig erhalten hat.
Während Kellers No. 24 und 25') der Überlieferung von C
folgen, lauten die Sprüche in B E M und B E:
1) A 20b.
*) Liedersaal 186, 7. Regimen Sanitatis Salemitanum (ed. Düntzer) 14
3; B 166 a.
^) Heyne 3, 106 f. Regimen Sanitatis Salernitanum (ed. Düntzer) 9.
^) Über das Motiv Bolte zu Schumanns Nachtbüchlein 273, 13; oben
S. 309.
^) Auch im Fsp. 86, 25 f. 565, 6 f. Hans Betz, ,Die faul schelmzunft
der zwelf pfaffenknecht' 131 f. 138 (Wagners Archiv 1, 75).
7) Schw&nke S. 47 ff.
542
Trimberg gibt Gesundheitsregeln ^), in den Traktaten des 14. Jahr-
hunderts wiederholt sich das in Erbauungs-Schriften beobachtete
Schwanken zwischen Vers und Prosa ^), des. Vierzeilers*) bemäch-
tigt sich auch diese Art der Volksbelehrung. Was Rosenplüt
an Gesundheitsregeln in die Priaraelform bringt, ist teilweise für
praktische Anwendung berechnet. Wenn er einen Laßbrief ver-
sificiert*), braucht nicht etwa auf Fseudo-Bedas Traktat De minu-
tione sanguinis sive de phlebotomia (Migne 90, 959 C flf.) zurück-
gegriffen zu werden; die aufgezählten zwölf Stücke lieferte jedes
Aderlaßmännchen ^). Ebenso naheliegendes Material, vielleicht
Kalender*^), wird der Schnepperer für die „neun schaden zum
haubt^)" und die Mensur- Vorschriften®) benutzt haben. Der
Spruch von den sieben Zeichen der Gesundheit (Essen, Trinken,
Arbeiten, Minnen, Schlafen, Verdauung) bedarf ebensowenig der
Herleitung aus einer fachwissenschaftlich medicinischen Quelle;
die sieben Stücke decken sich bis auf eins mit den sieben größten
Freuden der Volksliteratur (Essen, Trinken, Minnen, Verdauung,
Schlafen, Baden) ^).
Ein man, der wol mag trinken und essen,
Wann daz er ist zu tisch gesessen;
Und wol mag gearbeiten, waz im zustet,
! Damit man sich mit eren heget;
Und ein man mag sein zu zimlicher zeit,
Wenn er pei seinem eeweib leit;
Und wol mag slaffen frü und spat
Und zu rechter zeit sein prunnen hat;
Und wol mag unten ausgedewen,
Damit er mag ein saw erfrewen :
») Renner 9889 ff.
^) Friebsch, Deutsche Handschriften in England 1,314 f.
3) Göttinger Beiträge 2, 61. Nr. 31. Oben S. 364. 373.
^) Göttinger Beiträge 2, 68. Nr. 45.
^) z. B. Heyne, Deutsche Hausaltertnmer 3, lU.
6) Der Gredingersche Kalender von 1428 enthält auch Verse. Anzeiger
für Kunde der deutschen Vorzeit. N. F. 11, 335 f.
7) Göttinger Beiträge 2, 69. Nr. 47. Heyne 3, 131. Der Kalender von
Johannes Gredinger gibt mehrere Vorschriften „zu dem haupt" S. 334. 333.
335. Zu Vers 2 vergl. B. Parz 229, 46.
8) Beiträge 2, 69. Nr. 46. Heyne 3, 106.
9) Germania 1890 S. 397 f.
543
Wenn im die siben stück wonen pei.
So sol er niemantz klagen, das er krank sei^).
Das letzte Priamel dieses volksmedizinischen Kreises ist das
Gegenstück zu dem Spruch ,Nach dreien dingen wirt man stark^
der eine geistliche Wendung nahm.
Nach dreien dingen wirt man swach,
Das ist ein alte war sag:
Das erst, wann man hat gepat,
Das peut den glidern schach und mat;
Das ander ist von grossem zorn
So hat der mensch vil kraft verlorn;
Das drit, wann man pei frawen leit,
Dasselb auch grosse swacheit geit:
Nach paden sol man kelten fMehen^),
So wirt sich kraft wider einziehen;
Nach grossem zorn sol man freud suchen,
Das stet geschriben in den arztpuchen;
Wer derni sleft nach dem werk der frawen,
Der hat die swacheit al wider abgehawen^).
Die drei Warnungen sind landläufiger Bestandteil der Volks-
medizin ^).
Auf prahlerischen und komisch übertreibenden Schwan k-
erzählungen beruhen zwei Priamel sprüche von Erzfaulpelzen ^) ;
regelmäßig handelt es sich um eine hypothetische oder fingierte
Lage, deren einzelne Umstände, in parallelen Beihen geordnet,
dem Aufbau des Priamels dienen; vor dem Abschluß wird dann
hervorgehoben: der Faulpelz rührt sich trotz alledem nicht ^).
Die aller Textkritik spottende Verschiedenheit der Fassungen zeigt,
wie lustige Improvisation das Material ständig flüssig erhalten hat.
Während Kellers No. 24 und 25') der Überlieferung von C
folgen, lauten die Sprüche in B E M und BE:
1) A 20b.
*) Liedersaal 186, 7. Regimen Sanitatis Salernitanum (ed. Dan tz er) 14
3; B 166 a.
^) Heyne 3, 106 f. Regimen Sanitatis Salernitanum (ed. Düntzer) 9.
^) Über das Motiv Bolte zu Schumanns Nachtbüchlein 273, 13; oben
S. 309.
^) Auch im Fsp. 86, 25f. 565, 6 f. Hans Betz, ,Die faul schelmzunft
der zwelf pfaffenknecht' 131 f. 138 (Wagners Archiv 1,75).
^ Schwanke S. 47 ff.
544
Welch man wer als faul und als treg.
Der an einer heissen sunnen leg,
Pis im die fiigen ab pissen sein om,
Und an seiner heut würd gleich eim mom *};
Und als lang schlieff auf einer misten,
Pifi im die meuß in hintern würden nisten*);
Und pei dem fewer sich nit verwent.
Piß im die pruch am hintern verprent^);
Und als lang in eim kustal seß,
Pifi im ein maufi sein zagel abfreß
Und im ped hoden dflrkel piß,
Und im ein ku ein aug ausschiß:
Und dannoch vor lafiheit nit mocht weichen.
Den mag man wol zu eim faulen hursnn gleichen^).
Wer als faul wer und als ableß.
Und auf einer wagenleiß seß.
Piß im ein rat ein fuß abdrückt,
Ec er ein wenig hinter sich rückt^);
Und als lang stund vor einem hanfi.
Piß im der regen slüg sein äugen auß.
Und wenn der vor faulkeit nit möcht rücken noch gan*):
Denselben halt ich gar für ein fauln man^.
Eigener freier Erfindung ließ dabei die Überliefenmg wenig
Baum; aber die Aasfuhmng verrät bei Sosenplüt doch wieder
selbsttätiges Oeschick'). Vielleicht spielt anch der wunderliche
Sprach ,Kein grösser nar mag nicht werden*^) auf eine Schwank-
erzäUung an^®).
>) Hans Beti 93 iL 95 iL Fsp. 565, 16 IL
^ Fsp, 752, 5t
^ Hans Beti 137 fil
«) B 162 h.
^ Hans Beti 125 iL Fsp. 565, 11 ff.
^ Fsp. 86. 17 ff. 56a, 6 ff. Hans Beti 59 ff.
») B 172 b.
*) Noch einmal erscheint der Faole am Schloß eines Priam<da t«i der
Langweile. Gott. Beitr. 2, 53. Xr. 15, 7. Freidank 113, 6. Graff, Dia-
tiska h 324. Calender 261. Peter Len 1160. Togt, Salmaa & XLIV.
*) Göttinger Beiträge 2^ 55. Nr. 19. Florilegiom Gottiagease Kr. 306.
*^^ TergL Keller, Enihlimgen ans altdentschcn Hsb. 336, 38: aber
andi 393. 19. Wohl dieses Tieffers wegen Terxichtet auch die Priamefaede
545
Die Hauptgrnndlage für Bösen pluts uichtgeistliche Priamel
war, wie zu erwarten steht und sich auch schon vielfach gezeigt
hat, ältere Onomik und Stegreifdichtung. Die Ali; und
Weise, wie der sinnige und gestaltungskrärtige Nürnberger Meister
mit diesem Material verfuhr, verrät den denkenden Künstler, der
sich von seiner Arbpit wohl Rechenschaft zu geben pflegt: so
selbständig tritt er älterer Oberlieferung gegenüber: ganz anders
als Folz, ganz anders als die volksmäßige Fortentwicklung der
Stegreifthemata.
Improvisierende volksmäßige Moralisation hatte die noch heute
übliche Form mit ,Seit' (swenne, sw&, die wile) geprägt*). Wenn
Bosenplüt das Motiv übernimmt, füllt er es selbständig mit
neuem „temporärem Qehalt^.
Seit daz man die roten engen schuchlein^j erdacht,
Und zoten und läppen auf die kleider macht^),
Und in einer hosen mer nestel trug dann drei^),
Und ein mensch dem andern nimmer wolt sten pei,
Und die alten recht wart verkeren,
Und die priesterschaft nimmer wolt haben in eren,
Und niemanl mer auf den pan wolt achten,
Den ettwann die frummen pebst machten,
Und die reichen die armen wurden versmehen,
Und der paurn wart spotten und anpleen,
Und puben und ptibin in rauhen rocken wurden gen^):
Sider wolts nimmermer wol gesten^).
Forderte man zehn oder zwölf Stücke, die einer Stadt
Wohlfahrt verbürgen und, wie mittelniederländische Oberlieferung
Nr. 4 b auf das minderwertige Stück nicht. Selbstverständlich kann Rosen-
plüt nicht die Fassung seines fast zwei Menschenalter jüngeren Schülers
Claus Spaun gekannt haben; doch der hearbeitetc auch nur bereitliegenden
Stoff. Genn. Abh. 18, 67 ff.
>) Oben S. 350 ff. 372. Vergl. 290. 305. 309. Im Lied von den Türken
beginnen mehrere Strophen mit ,SeitS
«) Heyne, Hausaltertümer 3, 286. Hätzlerin 2, 13, 109. 2, 61, 38.
3) Predig 7 ff.
«) Seemüller zu Seifried Helbling 1, 240. 2, 60.
*) Heyne 3, 281.
") A 17b. Überschrift: Der werlt lawff darinen es ytzunt übel stet.
Erweiterungen bei Keller, Schw&nke S. 68. Nr. 35.
Ealing, Prüunel 35
544
Welch man wer als faul und ;
Der an einer heissen sunnen 1«
Pis im die fligen ab pissen sc
Und an seiner heut würd gl.
Und als lang schlieff auf eii
Piß im die meuß in hintern
Und pei dem fewer sich n-t
Piß im die pruch am hintc*
Und als lang in eim kust. '
Piß im ein mauß sein zn.
Und im ped hoden dürk«
Und im ein ku ein auü^ ;
Und dannoch vor laßht
Den mag man wol zu
Wer als faul wer und
Und auf einer wagen!
Piß im ein rat ein f.
Ee er ein wenig liir
Und als lang stund
Piß im der regen ^
Und wenn der vor
Denselben halt i(
Eigener freier Erfin«:'
Baum; aber die Ausführ
selbsttätiges Geschick '^j.
Sprach ,Kein grösser ik
erzählung an^^).
>) Hans Betz 89 1:.
«) Fsp. 752, 5 f.
») Hans Betz i: *
*) B 162 b.
5) Hans Betz 1
6) Fsp. 80, 17 i\
') B 172 b.
■ i'trwci^''. <i'"'*t.
e .
547
. i eigentlich sieben kleine dramatische Seenen, die der
)u?*) gestaltet:
Kumpt kunst gegangen für ein hauB,
So sa^t man ir, der wirt sei auß;
Kumpt weißheit auch gegangen dafür,
So vindt sie beslossen alle tür;
Kumpt zucht gegangen in derselben maß.
So muß sie auch geen ire straß;
Kumpt lieb und trew und wern gern ein,
So wil niemant ir pfortner sein;
Kumpt warheit dafür und clopfet an,
So muß sie lang vor der tür stan;
Kumpt gerech tigkeit auch für das tor.
So vindt sie keten und rigel vor:
Kumpt aber der pfenning gegangen oder geloffen,
So vindt er tür und tor hinten und vorn offen 2).
Wie kunstvoll ßosenplüt im Rahmen des alten ,Ohne'-
.ivs völlig Neues zu leisten versteht, lehrten mehrere geistliche
r den geistlichen nahe stehende Priamel. Nichtgeistliche Priamel-
'üche desselben Motivbereichs bestätigen diese Beobachtung,
zwei parallelen Sprüchen, beide mit demselben noch heute
'Iksmäßigen Witz abgeschlossen, erscheinen wieder je sieben
ypen, denen die contradictio in adjecto als charakterisierendes
lerkmal mitgegeben ist.
Ein spiler, der spil hat getriben an
Dreissig jar und nie kein swur hat getan;
Und ein wirt, dem alltag gest zukomen,
Der nie kein gast hat Übernomen;
Und ein kaufman, der war sagt zu aller zeit;
Und ein sneider, der all fleck wider geit;
Und ein weber, den man zeit für ein alten,
Der nie kein faden doheim hat behalten;
Und ein mülner, der zu sein tagen ist komen,
Der die mas nie ze vol hat genomen;
Und ein jud, der do hat ein graen part,
Der nie keinem cristen veind wart:
I >
*) Bei der Motiv- Vergleichung ist natürlich hier immer der gleiche
Vorbehalt zu machen wie Genn. Abh. 18, 50.
2) B 164 a.
35*
548
Die siben wolt ich lieber pei einander sehen,
Den ein sneider an einer alten hosen neen^).
Ein kraoner, der do nimmer nicht leugt;
Und ein appoteker, der niemant betreugt;
Und ein jud, der an gesuch lest varen,
Domit er wil sein sei bewaren;
Und ein pfarrer, der sich des. opfers wert,
Der do meint, got hab im genung beschert;
Und ein tumher, der sich in ein stock lies quelen,
£e er sich ließ zu bischof welen;
Und ein richter, der ee umb ein gülden köm,
Dan das er zwen zu hantsalb nem;
Und ein her, der all zoll abtun hieß,
Ee er ein rauber in seim lant ließ:
Die sieben wolt ich auch lieber pei einander vinden,
Den ein metzler an einer alten ku schinden^).
Den Ritter ,äne ritterlichen muot' (Strickers Karl 4876 flf)')
schildert der behäbige Meister in kleinbürgerlicher Verkommen-
heit ab^) und zieht den rechten Richter, Kaufmann, Handwerker
und Bauern dem bösen Ritter vor.
Ein richler, der da richtet recht
Dem armen als dem reichen und niemant versmeht;
Und ein kaufmann, der niemant efift
Zu aller zeit mit seinem geschefft;
Und ein getreuer frommer hantwerksman,
Der gern arbeit und das wol kan;
Und ein paursman, der sich anders nit nert,
Dan das er mit dem pflüg aus der erden erert,
Damit im sein narung wirt säur und pitter:
Die vier trügen vil pillicher golt denn ein pöser ritter^).
Über folgendes Priamel läßt sich ein förmlicher concursus
creditorum eröffnen: das Ergebnis ist dem Dichter trotzdem
durchaus günstig, er hat alles erworben, um es zu besitzen, alles
in sein geistiges Eigentum umgeprägt. Eine Henne, die wie ein
1) A 18b. 2) A 19a.
3) Roethc, Reinmar von Zweier S. 231 f. Hugo yon Langen-
stein, Martina 25, 84. 51,35. Suchenwirt 21, 81 ff. Keller, Erz. 637, 32ff.
Oben S. 348.
*) Gott. Beitr. 2, 68. Nr. 44. ^) B 159 b. A D B 29, 229.
549
Hahn kräht, bedeutet ünheiP); alte Sprüche vergleichen mit
solcher Henne eine Frau, die vor dem Manne redet:
Wann ein fraw claiTet for ein man
Vnd ein henne krett für den han,
So sal man dy henne braten
Vnd dy fraw mit einem knittel beraten^).
Man geht wohl kaum fehl, wenn man hierin das Motiv') ffir
den Priamelspruch sieht:
Secht, wo der sun ftirn vater get*),
Und der lai an priester zum altar stet^),
Und der knecht sich übern herren setzt •),
Und der paur fürn edelman wilpret hetzt,
Und die henn kreet für den') han,
Und die fraw wil reden für den man^):
So sol mann sun straffen auf der matten,
Und dem leien schem ein narrenplatten »),
. Und den knecht hinter'®) die tür stellen,
Und dem paurn ein ku niderfellen,
Und die hennen an ein spiß jagen ^'),
Und die frawen mit eim scheit slagen^^):
So bat man in aln'^) das recht Ion geben;
Got selber haßt ein unordenlichs leben**).
») Grimm, Deutsche Mythologie IH* 437,83. Vergl. 438, 105. 442,230.
^ Am Schluß einer Wigalois-Hs. in Graffs Diutiska 3, 398. Als
Hausinschrift ähnlich in Dobraschütz bei von Padbcrg S. 112*. Vergl.
Goedeke, Deutsche Dichtung im Mittelalter S. 908. Ahnliche Sprichwörter
schon sehr früh bezeugt: Kögel I' 174. Müller -Fraureuth, Lügen-
dichtnngen S. 106 f.
^) Auch für die Form, die zum Doppelpriamel führen mußte. Übrigens
wird, wenn Belegstollen zu den einzelnen Versen in Anmerkung gebracht
sind, direkte Benutzung natürlich nicht behauptet.
*) Suchen wirt 30,206. Renner 2292 ff. Fsp. 748,7.
^) Darauf standen die schwersten kanonischen Strafen.
•) Eccles. 10,7. Seifried Helbling 4, 286 f. Heinrich Teichner
Karajan S. 172 A. 312.
^) Fürn A. Xanthippus, Gute alte Sprüche S. 141 f.
^ Mones Anz. 2, 229.
8) Vogt, Salman S. XXV. Germ. Abb. 18, 82.
*^) ynter A. Seifried Helbling 2, 534 f. Heinrich Teichner bei
Karajan S. 168. A. 290.
»») Ordbog S. 354. «) slahen A. «) in aln] fehlen in A.
^^) A 56a. Überschrift: Von ynyernunftigen leuten ynd tieni.
550
Das Seitenstück zu diesem Spruche vod den Verkehrt-
heiten begnügt sich damit, die wieder meist typischen Einzel-
heiten moralisierend zu katalogisieren und mit einer Wendung
zusammenzufassen, die zwar nicht ungewöhnlich ist, aber durch
Zurückgreifen auf das zu Orunde liegende Bild zu einem über-
raschenden dirpouöoxTjTOv wird.
Secht, wo der vater furcht das kint
Und sich lest fürn, ee er wirt plint;
Und der wirt im bauß geslairt get,
So er wol übel oder gut verstet;
Und wer den pösen ert und den frummen versmeht,
Und den hern tutzt und irzt den knecht^J;
Und die gelerten spiln, fluchen und swern,
Das ins die leien müssen wern;
Und der hert arbeiter lang fast auf den tag,
Und der müsiggeer frü fült sein sack;
Und der paur streit und der ritter fleucht'),
Und der arm war seit und der reich leugt'):
Ibt dem kleid nit daz hinter herfür gekeit*),
So hat mich der sneider das hantwerk nit recht gelert*).
Was frühere Gnomik und der improvisierende Volkswitz
innerhalb des Motivkreises von verlorener Arbeit hervorgebracht
hatten, faßt unser Meister in ungefähr einem Dutzend sauberer
Kabinettstückchen zusammen, nicht ohne das überkommene Erbe
wieder selbständig durchzubilden und mit eigenen Einfällen zu
bereichern.
Welcher man sich vor dem alter besorgt
Und ungern gilt und gern porgt;
Und mit eim liirssen die wett wil springen
Über tief greben und über klingen;
Und alzeit wil hüten seiner frauen
Und darumb wil stechen und hauen;
») Seifried Helbling 8, 425 ff.
») Von den Türken 20, 4.
3) Jesus Sir ach 25, 3 f. Florilegiuni Gottingonse Nr. 209. Hans
von Bühel, Diocletian 1848 ff. vergl. 5961 ff. u. o.
*) Renner 140. 8477. Cato-Parodie (Zarncke S. 144) 25. Tei ebner
bei Karajan S. 167. A. 285.
5) A 19b.
551
Und ringen wil mit einem pern:
Der macht im selber unru gern^).
Wer ab wil leschen der sunnen glänz,
Und ein geiß wil nöten, das sie tanz,
Und ein stummen wil zwingen, das er hör,
Und ein ku wil jagen durch ein noldes ör.
Und geistlich münch wil machen aus schelken,
Und auÖ eim esel met wil melken,
Und an ein ketten wil pinden ein fist:
Der arbeit gern, das unnütz ist').
Deutlicheren Anklang an ein Priamel der Bescheidenheit^)
verrät der Spruch: ,Wer auf einem weichen moß wil stelzen*)/
während der diesem sehr ähnliche: ,Wer auf eim paum hoch wil
purzeln^ ^), mit dem 109. Fastnachtsspiel zwei Einfälle gemein
hat^). Das Motiv der verlorenen Arbeit kreuzt sichtlich das
Motiv ,Gleic]i und Ungleich' (Zusammeogehöriges), wenn Dinge
aufgezählt werden, nach denen man an bestimmter Stelle vergeb-
lich sucht ^). Aber auch sonst lag dieses Nebenmotiv nahe, das
an der Gestaltung folgender beiden Priamel wesentlichen Anteil hat.
») C 187 a. F 48 b Sp. 1. K 24 a. Vergl. oben S. 277. 380. 385.
Freidank 58, 13: ,swer elliu dinc besorgen wil, daz ist alles leides zilS
139, 7 : jSwer sich kratzet mit dem bern, dem muoz sin hant vil dicke swern'.
Benner 12844: ,man spricht: swcr vrouwen hüete unde hasen zeme, daz der
wüete\ 11564: ,der mac wol niht gar sinnic sin, der sin leben alse ein swin
waget an lewen oder an bern. der tuot, des er wol möhte enbem, wer saget
der kuonheit im danc?' Opschriften 2, 19.
^) B177b. Vergl. etwa Frei dank 59, 4: ,swer sant und euch der
sterren schin wil zeln, der muoz unmüezec sin'. 77, 16: ,8wer in die sewe
wazzer treit, deist verlorn arebeit'. Zu 7 Gervasius, Otia 111,34: der
h. Caesarius birgt den Wind in der Handtasche. Proverbia 30,4. Werle,
Almrausch S. 182: „sei Lieb is a Wind, Den i niama dahalt''.
3) Oben S. 286.
*) Gott. Beitr. 2, 57. No. 23, 3. Zu 4 Fsp. 784, 31. Zu 6 Fsp. 1201
Zeile 6.
5) Gott. Beiträge 2, 57. No. 22.
6; 3 ~ Fsp. 858, 3. 6 - 711, 2. 858, 7.
') Gott. Beitr. 2, 55. No. 18. Vers 5. 6-No. 13, 5. 6; vergl. KpuTrcdtSta
4, 115. Nr. 179. Oben S. 278. Zu Vers 7: Ring 2 c, 34. Im allgemeinen
Hugo von Trimberg, Renner 22438: ,swer äne wazzer vischet mit netzen,
riusen und mit angeln, der mac wol vische mangeln, swer da tugent suochen
wil, da mer untugende ist dan ze vil, der mac wol vischen äne geluppe, als
der vsehet der sunne gestüppe'.
s Seitenstück
begnügt sicli
Dioraltstereiiil i
enzufassen, dii'
;reifen auf iLi-
len Ö7t;>'j3r>;/j-^-.
Secht, wo tl ■
Und sicli k ■
Und dur u;--
So er wnl ■
Und wuv .i
Und d.n I
Und iW
Und d..
Und d^■
553
Und pin tregt in ein pat,
Und dorn streut auf enge pfat,
Und trinkfas mit nusschalen swangt:
Der arbeit, des im niemants dankt ^).
Auch unnütze Sorge rechnet zur verlorenen Arbeit*).
Wer solche ding wil ausstudirn
Und darum b swechen sein hirn*):
Ob pesser peten sei dan swem,
Und sich ein wolf einer geiß müg erwern*),
Und ob Zucker süßer sei dan gallen,
Und ob tanzen nützer sei dan wallen,
Und ob feur heißer sei dan schnee,
Und ob eim kranken menschen sei wee,
Und ob weinen traurger sei dan lachen:
Der bekümmert sich mit unendlichen sachen*).
Bei der Entscheidung in scherzhaft gestellter Wahl^) wird
dem gesunden Menschenverstände das Wort geredet.
Unabhängig von dem Motivkreis der verlorenen Arbeit er-
schien das Motiv ,61eich und Ungleich' in der Improvisation
der Fastnachtsspiele, bequemer Stegreifdichtung weitesten Spiel-
raum gewährend^). Das Oegensatzmotiv hatte zwei Fassungen
schon im 14. Jahrhundert kontaminiert: die eine stellte jedesmal
zwei Bivalen im Streit um einen einzigen Gegenstand einander
gegenüber; die zweite begnügte sich mit Reihen einfacher Gegen-
sätze^). Auch Rosenplüt übt die Kontamination in einem
Spruche, der, vielleicht aus einer Freidankstelle entwickelt, nahe-
liegendes Material an sich gezogen, aber in Rosenplüts Art
0 C 186b. F 48a Sp. 1. K 24b. L 14b.
^ Oben S. 355.
^ Renner 23458: ,swer gerne swcnden wöl sin hirn, daz er tiefe wort
üz kirn und durchbreche tiefen sinn , der ncmc hie lop yür dort gewin und
smelzc sin hirn in sorgen tegeP.
*) Freidank 137, 21.
^) 0 187 a. Die nur einmalige Bezeugung fällt auf.
ß) Gott. Beitr. 2, 58. Nr. 25. Oben S. 338. Fr e i d an k 84, 2 f. 142, 10 f.
7) Oben S. 496 f. 283. Der Kettenreim der Kinderdichtung verbindet
ebenso bequem gleichartige Dinge. Graff, Diutiska 1, 314 f, Wacker-
nagel Lb. 15, 1147 iBf.
•) Oben S. 316 ff.
552
Wer ein pock zu emem gertner setzt,
Und schaff und genß an wolf hetzt, >
Und sein zen stürt*) mit eim scheit,
Und hunden pratwürst zu behalten geit,
Und gute kost selzt mit aschen,
Und sein gelt legt in löcherte taschen,
Und in ein reussen geusset wein:
Der dunkt mich nit wol witzig sein*).
Wer geiß in einen garten lest,
Und Ofenkacheln den poden außstest,
Und weiß sleir an kessel reibt,
Und einen steßt, der da schreibt,
Und in ein küchen lesset swein,
Und löcher port in vaß mit wein,
Und ander arbeit nit enkan:
. Der verdient gar und gar ein dein Ion*).
N ei dhar tisch (96, 28. 29) und humoristischer ist das Motiv
in andern Sprüchen gewendet.
Wer frauen die köpf stest an einander,
Wenn eine heimlich redt mit der ander,
Und scharpfe messer haut in stein.
Und an ein tanz streut spitzige pein.
Und in ein essen rert aschen.
Und löcher port in peutel und taschen,
Und den frauen hinten auf die langen mentel tritt:
Der arbeit auch gern, des man in nit pitt^).
Wer holz auf krausen tischen heut,
Und eibeis auf ein stiegen streut,
Und amas tregt in ein pet.
Und neue sat nider tret.
») starckt B.
»)Bl71a. C153a. E 92b. Uhl S. 310. Oben S. 278. 348. Frei-
dank 137, 11 ff. 123, 4: ,erst tump, der lieben sämen säet in starke bramen^
Müller-Fraureuth, Die deutschen Lügen dichtungen S. 103. Roethe zu
Reinmar von Zweier 159, 11.
^ B 171a. C 154a. L 7a. Freidank 118, 5: ,8wer heizes bcch rüerot,
meil er dannen vüerct*. ühland No. 132, 13, 1 f. Graff, Diutiska 1, 324.
Froverbia Heinrici 235.
*) B 173a. C 154a. E 135b. K 8a. L 7a. In F 47b Sp. 1 erweitert
und umgearbeitet.
553
•
Und pin tregt in ein pat,
Und dorn streut auf enge pfat,
Und trinkfas mit nusschalen swangt:
Der arbeit, des im niemants dankt ^).
Auch unnätze Sorge rechnet zur verlorenen Arbeit').
Wer solche ding wil ausstudirn
Und darum b swechen sein hirn*):
Ob pesser peten sei dan swern,
Und sich ein wolf einer geiß mUg erwern^),
Und ob Zucker süßer sei dan galten,
Und ob tanzen nützer sei dan wallen,
Und ob feur heißer sei dan schnee.
Und ob eim kranken menschen sei wee,
Und ob weinen traurger sei dan lachen:
Der bekümmert sich mit unendlichen Sachen^).
Bei der Entscheidung in scherzhaft gestellter Wahl*) wird
dem gesunden Menschenverstände das Wort geredet.
Unabhängig von dem Motivkreis der verlorenen Arbeit er-
schien das Motiv , Gleich und Ungleich' in der Improvisation
der Fastnachtsspiele, bequemer Stegreifdichtung weitesten Spiel-
raum gewährend^). Das Gegensatzmotiv hatte zwei Fassungen
schon im 14. Jahrhundert kontaminiert: die eine stellte jedesmal
zwei Bivalen im Streit um einen einzigen Gegenstand einander
gegenüber; die zweite begnügte sich mit Reihen einfacher Gegen-
sätze^). Auch Rosenplüt übt die Kontamination in einem
Spruche, der, vielleicht aus einer Freidankstelle entwickelt, nahe-
liegendes Material an sich gezogen, aber in Bosenplüts Art
1) C 186b. F 48a Sp. 1. K 24b. L 14b.
^ Oben S. 355.
^ Renner 23458: ,8wer gerne swenden wöl sin hirn, daz er tiefe wort
üz kirn und durchbreche tiefen sinn, der ncmc hie lop vür dort gewin und
smelzc sin him in sorgen tegelS
*) Freidank 137, 21.
^) 0 187 a. Die nnr einmalige Bezeugung fällt auf.
«) Gott. Bcitr. 2, 58. Nr. 25. Oben S. 338. Freidank 84, 2 f. 142, 10 f.
^) Oben S. 496 f. 283. Der Kettenreim der Kinderdichtung verbindet
ebenso bequem gleichartige Dinge. Graff, Diutiska 1, 314f, Wacker-
nagel Lb. l^ 1147 iff.
•) Oben S. 316 ff.
554
u
organisch verschmolzen hat'). Geläufiger sind ihm die Reihen
ungleichartiger Dinge, teilweise in recht harmloser Verbindung^), wie
Ein weintrinker und ein podenneig,
Ein wagenmann und ein hohe steig,
Und ein jeger und ein lochret garn,
Da alweg die hasen durchfarn,
Und lederer und lochret heut,
Und reich pürger und arm edelleut,
Und hunt und katzen auf einer misten,
Und pöß Juden und frum kristen.
Und arm kaufleut und großer zol:
Die vermügen sich gar selten miteinander woP)
teilweise in arg gepfefferter Mischung*).
Für die Priamelsprüche vom Uausgcmach, Haus gesind
und Hausgerät hat die Vierzeilerdichtung Motive und Stoff
vorgebildet^), die Bosenplüt maßvoll benutzte, um sie frisch und
flott auszugestalten. Dabei verschlägt es nichts, wenn einmal ein
Einfall auch anderswo auftaucht; er schöpfte doch aus dem Vollen.
Welch man ein pfert hat, das da hinkt.
Und ein weip, der der ödem stinkt.
Und ein ofen, der da reucht.
Und ein pet, das alzeit vol flöh kreucht.
Und an tregt zwen eng trückend schuch,
Und auch an hat ein löchrete pruch,
Und auf seim haus hat ein zuprochens dach:
Der selb hat gar selten guten gemach^).
1) Gott. Beitr. 2,53. No. 14. Oben S. 316. 274. Deutsche Mythologie
III* 449, 448. H&tzlerin S. LXXI No. 18. Leoprechting, Aus dem
Lechrain S. 293.
^ Gott. Beitr. 2, 66. No. 42. Es sind lauter auf der Hand liegende
Einfälle, was Goethe „platte Lebens- und Handwerksbegrilfe^ nannte; yergl.
z. B. Vers 1 mit Fsp. 618, 25 ff.
5) B 167 a.
*) Gott. Beitr. 2, 52. No. 13. KpuTrcdcoi« 4, 115. Nr. 179. Borchling,
Mnd. Hsn. 1, 211.
5) Oben S. 278 ff. 372. 375.
«) C 158 a. E 399 a. K 14 b. Oben S. 280.. Dieser nl. Vierzeiler ist
doch wohl Bosenplüt verpflichtet.
555
Wer ein hennen hat, die nit legt*),
Und ein sweinsmuter, die nimmer junger tregt,
Und hat ein ungetrewen Unecht,
Der im gar selten arbeit recht,
Und ein katz, die über jar vecht kein mauß,
Und ein frawen, die pult auß dem hauß,
Und ein meit, die get mit einem kint:
Der man hat gar ein pöß haußgesind*).
Alter Mann und junges Weib schaffen keinen Hausfrieden.
Welch man an freuden ist erloschen
Und unten gar hat außgetroschen
Und swach und krank ist an seim leib,
Und hat ein schönes junges weib.
Die unter der gürtel ist hungrig und geitig:
Dem sein die kifferbes über jar zeitigt).
Sehwank, Fastnachtsspiel wie Vierzeiler arbeiteten mit solchen
Motiven*).
Parallele Sprüche kontrastieren guten und bösen Hausrat^);
das positive Gegenstück knüpft dabei wörtlich an das vorauf-
gehende Priamel an
Welch man ein leib hat, nit zu swer,
Und ein taschen, die nimmer ist pfenning 1er,
Und ein haus, das vol narung stat,
Und darinn trew dinstpoten hat.
Und melkend küe und gemeste swein.
Und frumme kint, die im gehorsam sein.
Und ein hunt hat, der des nachts wol hütt.
Und ein frauen hat, die allweg gut.
Die an iren eren ist frum und stet:
Der man hat gar ein gut hausgeret^).
0 von Hörmann, Schnadorhüpfcln 3 S. 355. No. 972:
Z Taur untn ist a Baur untn
Hat an oanzigc Hcnn,
Die solt alle Tage legn,
Hats Löchl viel 'zeng.
3) B 164 b. C 158 a. E 400 b. K 15 b.
3) B 169b. E36b. K 7b.
*) Gott. Beitr. 2, 23 f. Q P 77, 153 f. Oben S. 280. 372.
5) Gott. Beitr. 2, 47. No. 4. ß) A 23 b.
556
Diesem Reichtum gegenüber sticht der ziemlich ärmliche
stereotype Inhalt der betreffenden deutschen Vierzeiler unvorteil-
haft ab.
Ein Priarael ,von Hausmeiden', das deren Arbeit ernst
aufzuzählen beginnt, endet mit dem obligaten Witz der kleinen
Hausarbeit^). Zwei nach bekannten Motiven gestaltete Sprüche
richten sich gegen den Ehemann; der eine^) im Sinne der all-
gemeinen Lebens Vorschriften und der Tischzuchten, der andere im
Stil der Fastnachtsspiele:
Welch man seim elichen weih ist veint
Und allweg mit ir zangt und greint
Und selten gütlich mit ir redt
Und sie versmecht zu tisch und pett,
Und außwendig zu andern weibern get naschen
Und mit in spilt in der untern taschen :
Der ist gern außwendig milt und stark
Und allweg in seim hauß faul und karg^).
Wie in der Vierzeilerdichtung wird vor dem Treiben des
Lebemannes gewarnt:
Welch man wandert in guter wat,
Und rümpt sich mer, dann er hat,
Und guft und geudet auf der Straßen,
Und wil vil gelts zu letz an der herberg lassen,
Und gut essen versmecht zu aller frist.
Und herr will sein, da er pillich knecht ist.
Und in niemant davon kan winken:
Der muß im alter aus dem angster trinken*).
Während die Stegreifdichtung die Prauenhut meist nur
unter den Gesichtspunkt der verlorenen Arbeit bringt^), vergleicht
^) Bolte im Register zum Nacbtbüchlein S. 426. Gott. Beitr. 2, 47.
No. 5. Zum Motiv Falck, Art und Unart S. 20. „Wer a kreuzbraver Bua
sein will". Opschriften 1, 90.
3) Gott. Beitr. 2, 52. No. 12. Seitenstück Keller, Schwanke No. 54.
Oben S. 296 f. 380. A D B 29, 227.
3) A 24a. Fsp. 651, 2 f. 852, 26 f. Q F 77, 162. Oben S. 392.
*) B 175b. Oben S. 275. 354. 407. Opschriften 2, 112. 100. Dem
gleichartigen Spruch: »Welcher man nit geltend guter hat' (Keller, Schwanke
No. 19) fehlt die Bezeugung älterer Überlieferung.
«) Oben S. 380.
557
Bosenplüt in seinem Uütespruch allerhand Hirten, um dann mit
einem Schlager aus dem Fastnachtsspiele^) abzuschließen.
Ein sweinshirt, der do hütt pei körn,
Der tarf wol hüttens hinten und vorn;
Und ein roßhirt pei eim haberacker,
Der muß auch munter sein und wacker;
Und ein scbefFer zwischen holzes lucken
Der bedarf wol hüttens für wolfszucken;
Und ein kuhirt, der pei wisen fert,
Der bedarf, das er unten und oben wert;
Und ein geißhirt pei einem krautgarten
Der muß auch genaw zuwarten:
Aber einer, der ein Jungs geils weib hat
Und derselben hütten wil frü und spat,
Die hut ist ganz und gar verlorn,
Forcht si nit got und irs mannes zorn^).
Die verhältnismäßig größte stoffliche Selbständigkeit dürften
wohl die HandwerkspriameP) haben; kein Wunder, war doch
R. nirgends so in seinem Element wie hier, außerdem hatte die
bisherige Literatur auf diesem Gebiete noch wenig Vorbildliches
hervorgebracht. Mehrere Priamel behandeln Handwerk und Ge-
werbe im allgemeinen, sieben einzelne Handwerke; zwei Sprüche,
der vom Bauern und der vom Arzt, folgen dem Motiv der
speziellen Handwerkspriamel.
Als Gegenstück zu dem faulen Handwerksknecht^) wird der
faule Handwerksmeister genrehaft geschildert.
Ein hantwerksman, der frum knecht hat,
Die gern erbeiten frü und spat,
Und den man übel zu essen geit,
Und der meister über wochen zum wein leit,
Und alles, das do wirt an,
Das im sein werksiat gewinnen kan;
Und den knechten besunder einkaufen lat
Hert keß und auch grobs prot;
») Oben S, 391. ») B 161a.
3) Der Spruchcjklus ,yon hantwercken' B 178 ff. enthält die Stücke
vom Handwerksmann, Handwerksknecht, Schuster, Schneider, Hafner, Weber,
Schreiner, Goldschmied, Botschmied und Bauer.
4) Oben S. 526.
558
Und meint, er wöU an in ersparn,
Das im ist durch sein plasen gefarn;
Und die knecht über wochen gern das pest teten
Und am suntag gern im wochenlon hetten,
Und erst müssen porgen irn herten lidlon:
Dem wirt gar selten in die leng gut arbeit getan ^).
Den Arbeitenden zu verachten, der seiner Tätigkeit sich
nicht schämt, wäre unrecht und eines Ratsherrn unwürdig; wie in
den geistlichen Sprüchen treten sieben Typen auf.
Ein zimmerman, dem die spen in den kleidern hangen,
Wann er ist von seiner arbeit gangen;
Und ein koler, der swarze kleider an tregt,
Wann er die kolen hat zu häufen gelegt;
Und ein mezler, der mit plut ist besprengt,
So er ein rint abnimpt oder ein sau gesengt;
Und ein wagenman, der an tregt beschissen schuh
Und unterweilen die hosen darzu;
Und ein smid, der russig ist unten und oben ;
Und ein mülner, der mit melb ist bestoben;
Und ein messner, der mit wachs ist betrauft,
So er unter den kerzen umblauft:
Wer den siben das für ein schant zeit,
Der wirt gar selten Hir ein weisen in ein rat geweit').
Doch fehlt es darum nicht an dem üblichen Spott gegen
allerlei Handwerk und Hantierung, der sich in die witzige Form
kleidet:
Wer sich einer solchen sach vermeß,
Der mit eim hoher eins kalbskopfs eß;
Und sich auch also ließ bewirten,
Und lorper eß mit eim geißhirten.
Er sei her, pürger, paur oder fürst,
Und mit eim pader eß ein plutwurst;
Und ließ sich auch also laden,
Und mit eim kuhirlen eß eins ßaden;
Und mit eim kürsner eß eins hasen:
Der bedörft gar wol einer wolsmeckenden nasen^).
») A 22 b. B 178 a. QF 77, 162.
2) A 18b. B 161b. 3) B 172a. C 162b. E 400b.
559
Verglichen mit dem Priamel ,Wer von den schneidern hosen
kaurt'O erscheint Bosenplüts Kauf-Spruch recht iiarmlos:
Wer umb den pecken kaufet körn,
Und umb den pogner leim und hörn,
Und umb den schuster kauffet schmer,
Und umb den Schneider nadel und scher,
Und desselben nit vermiet
Und koln kauft umb die smid,
Und umb den wtirfelmacher pein:
Der reicht mit kaufmanschaft gar dein').
Die sieben, einzelnen Handwerken gewidmeten Priamelsprüche
haben alle ein gemeinsames, der Lügendichtung und der Poesie
von unmöglichen Dingen verwandtes Motiv ^): in die Verlebendi-
gung handwerkerlichen Kleinbürgertums mischt sich fantastischer
Witz*), der launig ins Wunschreich des Schlaraffenlandes seine
kecken Streifzüge unternimmt, nicht ohne dabei „offen oder ver-
steckt der menschlichen Trägheit und Lüsternheit zu spotten^ '^).
Ein bchuster, der mit rechten sachen
Zeh leder auß papier kunt machen.
Und smer kunt machen auß kukot.
Das im gut wer zu leder und trot;
Und ein frawen het, die solchs kunt besinnen,
Das sie guten drat auß heu kunt spinnen^).
Das er der dreier keins dorft kauffen;
Und gut schuch mecht, darin man lang wurd laufifen;
Und mit behender arbeit im niemant wer gleich:
Der wurd mit dem hantwerk pald reich ^).
In diesem Wuiischleben gilt Freidanks Binsenwahrheit
nichts:
nieman kan gemachen -
von baste scharlachen.
1) Eschenburg No. 63. F 66b. Sp. 2.
3) B 171b. Vergl. Logau bei Uhl S. 357.
3) Oben S. 35. S. 278 sahen wir, daß yierzeilige Improvisation das
Motiv bereits aufgegriffen hatte.
4) ühland, Volkslieder 33, 235.
5) Uhland, Abhandlung^ S. 177.
6) Vergl. Fsp. 617, 25 f. Heyne, Hausaltertümer 3, 267.
') B 178b.
560
Ein Schneider, der vil knecht het,
Das ieder nach seim willen tet;
Und die nit Ions nemen und nit essen,
Und über tag ob der arbeit scssen.
Und mer mochten machen, den man zu möcht sneiden,
Es wer von samat oder von seiden;
Und het dann ein fromme dinstdiern,
Die auß past kunt spinnen gutten zwirn;
Wolt er vast arbeiten und meßiglich zern:
So würd er sich mit dem hantwerk sanft ernern*).
Stets gewinnt Bosenplüt eine neue Schlußwendung, wenn
auch der vorhergehende (9.) Vers mit geringer Variierung immer
wiederkehrt:
Ein hafner, dem solch kunst kunt werden.
Der hefen kunt machen aus roher erden,
Und auf der scheuben sie kunt bereiten,
Das ers nicht prennen dörft noch eiten;
Und zween ee gemecht, denn er ein zuprech,
Und fein kunt verglasen mit pech;
Und krüg macht, die selbß über den prunnen lieffen.
Wenn die haußmeid schmorgens ligen und schlieffen ;
Und über tag het kaußeut genung:
Der würd auch pald reich, stürb er nit jung').
Ein Weber, dem got solch kunst het geben.
Daß er gut tuch auß pinzen kunt weben.
Das varb het, die man gern trüg,
Und die da niemant nit verslUg,
Und an d6r varb auch nit abnem,
Und zeh würd, wennß ins alter kem;
Und macht adlaß und zender und daffat,
Und ob der arbeit ein wasser laffet:
Wolt er vast arbeiten und das weinhauß meiden:
So dorft er im alter kein mangel leiden^).
Ein sclireiner, der holz genung het umbsust,
Das edel wer nach seins herzen lust;
Und der sein hantwerk als wol kunt,
Das im iederman seins geltz wol gunt;
«) B 178b. C 184b. D 309. E 37b. Gott. Beitr. 2,27.
») B 179a. C 185 a. D 309. «) ß 179a. C 185b. D 309. B 37 a.
561
Und nimmer kein poße arbeit nit niecht
Aus allem holz, krump oder siecht,
Und hauen und hofein im als sanft tet,
Als sam er wein trünk oder met:
»
Wölt er arbeiten, das in der sweiß würd netzen,
Der dorft nimmer kein pfant unter Juden setzen*);
Ein goltsmid, der mit kunstlichen sachen
Fein golt auß rohem kupfer kunt machen,
Das dreiundzweinzig karat het
Und auch zu aller arbeit recht tet;
Und queksilber also kunt getöten,
Das es sich smiden ließ und löten;
Kunt er die zwu metal abentewern,
Das sie bestunden in allen fewern:
Solt er pei den kunsten allen petein gan:
So müßt es gar übel in der weit stani).
Ein rotschmid, der seiner sinn kunt genießen.
Das er all sein arbeit auß pech kunt gießen
Und kunt es als hübslich pringen her,
Sam es zwir geprenter messig wer.
Und als eben kunt gießen, daß manß nit dorft bereiten,
Darnach man oft gar lang muß beiten.
Und an dem gießen nit verdürb,
Und niemant die kunst im ab derwürb:
Er wölt denn gar und gar studfaul sein,
Er gewunn damit fleisch, prot und wein 2).
Der Bauern-Spruch ist auch in der bandschriftlichen Über-
lieferung mit den Hand vverksp riamein, deren Motiv er teilt, ver-
bunden.
Ein pauer, dem got solch kunst wolt fügen,
Das im die ecker ungeackert trügen;
Und im kein frucht auf dem feit verdÜrb,
Und nimmer im kein vih abstürb;
Und im kein wolf nit wonet pei;
Und vor alln reubern wer sicher und frei;
Und über jar in gutem frid seß;
Und messiglich trünck und eß;
1) B 179b. C 185b. D 310. ») B 180a. C 186a. D 311.
Baling, Priamel 36
5 Gl)
• Ratsherr und Nachtwächter, F
Knecht, Mönch und Dirne, Piiesd -
^iride, Meister und Gesell, Hau? r-^ '
Reich und Arm, Jugend und A'^» "•
dogmatische Frömmigkeit und uutv .
reichstädtische Welt mit ihrer eli"
ihren Torheiten, und Schwäclieu,
Wünschen und Verlangen: das ai:.^
und ungeschminkt in lebenswalut..
Äuge vorüberziehen, in diM- II.
Menschenverstandes.
Die Form des PriameN
hatte der Klassiker des Pria •
zu regeln und fortzubilden,
gezeitigt hatte. Vor d
licherer Formen, wie si-'
ihn, wenn er sie gekarr/
tümlicher Begabung b, .
gedieht geschützt. I -
Anschaulichkeit strci-
freiheit. Kein viei/
geneigt wäre, ist ■
sechs Zeilen geiii:
Form setzte den "
lieh der Interpol..*
und zur Langn
Form wegen si-
zusprechen. '
er geht •
Die :^
des
tri-
569
^y uoi Dichter diese schlagfertigen Beihen wenigstens
.-»loiter Wendung ein; z. B.
Wer solich ding wil ausstudirn
Und darumb swechen wölt sein htm:
Ob pesser peten sei dan swem u. s. w.
' ]( t er Glieder in mehrzelligen Paaren, nicht
Für liarmonischen Aufbau des kleinen Gedichtes;
iiTial die apologische Gnome die Struktur beein-
lilstcn ist ihm, wenn er unbekümmert um strenge
r im Rahmen seinor Kunstform, das bunte, reiche
r stand, in festumrissene kleine Bilder gießen kann.
'«^r wie beim Vierzeiler^) keineswegs darauf an, daß
^ze znm Hauptsätze in derselben grammatischen Be*
' n, die logische Beziehung genügt. Nicht immer ge-
if bau. Eigensinnig und nur äußerlich strebt das Priamel
narren seinem Abschluß zu. Die geistlichen Priamel
den Schluß bisweilen durch gutgemeinte fromme Zu-
Sprüche des Typus A leiten ihre Vordersätze am liebsten
•\ , welcher', einmal mit ,8eit*, zweimal mit ,das*, dreimal
Wenn der Leu, der Wüste Schrecken,
Ohne sich das Maul zu lecken.
Für das Weiße Rößl schw&rmt.
Wenn die Amsel singt nach Noten,
Und der Seehund seine Pfoten
Sich an Ibsens Muse wärmt —
Wenn der Telegraph vom Cape,
Der so mißlich reimt auf Schlappe,
Nichts als Wahrheit roferirt,
Und die Kaiserin der Inder
Onkel Krügers Pracht-Zylinder
Mit dem „Hosenband ^ verziert —
Wenn das alles tut passiren,
Dann soll nichts mich mehr chokiren,
Dann yerwechsl ich Bayrisch Bier
Heute noch mit Malz-Kathreiner
Und wills glauben, sagt mir einer:
Zwei mal zwei ist nicht mehr vier.
t) oben S. 504 ff. ^ Kap. VI S. 222 ff.
562
Und sein Herr im al jar gult HB vam:
Der möcht im alter wol etwas für sieb spam*).
Dem Motiv nach gebort endlich der Arzt- Sprach zu dem-
selben Kreise.
Ein arzt, der zenwee kunt vertreiben
Mit rechter kunst an mannen und weihen;
Und das podogram in pein und in füssen
Mit rechter bewerter kunst kunt püssen.
Und febres und die pestilenz
Kunt pflssen umb ringe reverenz;
Und plint leut kunt machen gesehen,
Als in nie leid an äugen wer geschehen;
Und lam krtippel kunt machen gerad,
Das sie fürpafi nimmer berürt der schad;
Und sundersiechen kunt machen als rein,
Als do man sie padt aus dem taufstein:
Wurd der pei den künsten allen petein gan,
So must es gar übel in der werlt stan^).
Aus der Betrachtung der Bosenplütschen Priamel nach
ihren Sto£fen und Motiven ergibt sich bereits als gesichertes
Besultat, mag auch fernere Forschung noch so viel Neues hinzu-
fügen, daß das Schaffen des Dichters einen selbständig organischen
Charakter trä^t: diese Handwerker wie Hans Rosenplüt^ Adam
Kraft und die Vis eher haben das rein Handwerksmäßig-Mechanische
überwunden; sie sind Handwerker im rechten Sinne, die Goethes
Wort bestätigen: „Vom Handwerk kann man sich zur Kunst er-
heben, vom Pfuschen nie.^
Mit jener organischen Arbeit Bosenplüts stehen einige
(unter seinen Priameln selbst zum Teil in guten Handschriften')
überlieferte) Stücke im Widerspruch, in denen mechanisch älteres
Material zusammengeschoben oder unverarbeitet und unselbständig
verbunden ist^). Sie folgen dem Verfahren der priamelhaften
Reimpaare (Kap. VII); in einigen Fällen sprechen auch metrische
Erwägungen gegen Bosenplüt.
>) B 180a. 3) A 20 b. B 160b. C 181a. E 72 a.
") in A freilich nicht; aber die Priamelrede enthält solche Stücke; un-
zureichend scheint auch die handschriftliche Gewähr für Gott. Beitr. 2, 73.
No. 54.
*) Vergl. oben 8. 529.
563
In folgendem Priamel ist mehr als die Uälftä nahezu wörtlich
entlehnt. Weisheit von trunken leuten,
Und widergeben nach peuten,
Und alter weiber schön,
Und zuprochener glocken getön,
5 Und junger frauen sinn,
Und alter man minn,
Und treger pfert lauffen;
Das sol niemant teuer kauffen ').
Nicht viel selbständiger verfährt bis auf die drei letzten
Verse der Spruch:
Welcher her ein tauben wechter hat
Und ein pfortner, der nit gern frü aufstat,
Und ein ungetreuen keiner,
Und ein hinkenden laufer,
Und ein koch, der nit smeckt, '
Und ein knecht, der sich über die frawen streckt '
Und mit ir schimpft unter der wat:
Der her hat gar ein pösen hausrat^^
Noch ganz flüssig ist das altüberlieferte Material in den ver-
schiedenen Fassungen der beiden Priamel:
Wer einem plinten winkt
Und ans einem leren pecher trinkt
Und der kißling seets)
Und auf einer plossen wisen meet
Und Unglück wil tragen feil
Und all Wasser wil pinten an ein seil
Und in eim holz vischet
Und auf einem wasser trischet*)
\ Und snee wil in einem ofen derren
Und wil wint in ein trüben sperren
Und einen kalen wil beschern:
Der arbeit eitel unnütz arbeit gern^).
») B 174a. C 156a. D 299. E 36b. F 49a Sp. 1. K 8b. L l^Ob.
M 18 a. N 3 a. Kap. VI S. 315. 365. 287.
8) B 165b. C 158b. T) 304. E 92b. F 73a Sp. 2. H 128b. M 18a. Motiv
und Schluß kopiert Gott. Beitr. 2, 60. No. 28.
8) Kap. VI S. 375. *) S. 315.
*) B 172 a. Ähnlich C 154 b. D 302. E 48 a. F 49 b Sp. 2. K 15 a. b 203 b.
Germania 28, 417. Fast jede Hs. ändert, erweitert, kürzt aufs freieste, wie
es lebendiger Improvisation entspricht.
36*
564
Wer paden wil ein raben weiB^),
Und daran legt sein ganzen fleiß,
Und an der sunnen snee wil dern')
Und wint in ein truhen wil spern
Und ungeluck wil tragen feil
Und alle wasser wil pinten an ein seil
Und einen kalen wil beschern:
Der tut, das unnutz ist, gern').
Noch heute wird improvisiert:
Den Schnee an der Sonne dorm
Und den Wind in a Kisten sperrn
Und ein Kalbskopf glatt scheern:
Dös ka Keiner erlernn^).
Daß auch dieses Stegreifmaterial einmal durch die Hände
von FastDachtsspieldichtern gegangen, ist nicht unwahrscheinlich;
wie viel Bosenplütsches aber unter Umständen dabei mit unter-
gelaufen sein mag, entzieht sich vorläufig der Entscheidung. Am
günstigsten läge vielleicht noch die Sache bei dem Spruch:
Ein orglock und ein wollenpogen
Und pose kinder ungezogen
Und eins herten dürren stockvisch leip
Und ein nußpaum und ein pöß weip
Und ein alter esel, der seck sol tragen:
Die sieben tun nichts ungeslagen^).
Aber die letzten drei Zeilen sind ein Sprichwort^). Ob man
solche Sprüche ebenso wie etwa die oben charakterisierten Spiel-
Improvisationen Bosenplüt absprechen oder vielleicht als seine
Anfangs versuche ansehen soll, bleibt fraglich, so lange wir über
die dichterische Entwicklung der Individualitäten des 15. Jahr-
hunderts so wenig unterrichtet sind. In technischer Durchbildung
stehen jedenfalls dann die auch inhaltlich recht unselbständigen
1) Freidank 142, 15. Koker S. 368. Florilegium Gottingense No. 103.
^ Wander u. d. W. Backen. Müller- Fraureuth S. 120f. 88.
^ G 186a. F 48a 8p. 1. Germania 5, 44. Keller Nr. 5. Oben S. 550.
«) Falck, Art und Unart in deutschen Bergen. Berlin (1890) S. 12.
») B 174a. C 156a. D 302. E 398a. F 49b. Sp. 1. L 8b. 0 5a. a 150.
^) z. B. Korrespondenzblatt für nd. Sprachforschung 25, 28. Uhl
S. 316. 326. 337. 344 n. o. Zingerle S. 29.
565
sogen, geistlichen Priamel hinter den nicht spezifisch geistlichen
Inhaltes znrück.
Bosenplüt hat, begabt mit dem Wirklich&eitssinn, der den
Nürnberger auszeichnet, im tätigen Leben sein Verständnis der
Welt erworben^). Seine Stoffe sind so reich und bantmannig-
faltig, wie das seine Werkstatt umflatende Leben, echtes alt-
Nümberger Leben, in das er hellen Auges aus den Fenstern
seiner Gießhütte schaute, das er treu und virtuos im Verse nach-
bildete. Freilich nicht mit der genialen Begabung des großen
Dichters; aber Sinnigkeit, Beobachtungsgabe, Laune, Lebendigkeit
und entschieden künstlerisches Talent verraten auch seine PriameL
Er fühlt, daß er eine kleine Welt
In seinem Gehirne brütend hält,
Daß die fängt an zu wirken und su leben,
Daß er sie gerne möcht' von sich geben.
Er hätt ein Auge treu und klug
Und war auch liebevoll genug,
Zu schauen Manches klar und rein,
Und wieder Alles zu machen sein.
Hätt auch eine Zunge, die sich ergoß
Und leicht und fein in Worte floß.
Deß thäten die Musen sich erfreuen.
Diese Verse Goethes auf seinen größeren Nachfolger dürfen
wir auch auf den jungen Botschmid anwenden. Auch zu ihm
mochte die Muse sagen:
Wenn Andre durcheinander rennen,
Sollst Dus mit treuem Blick erkennen.
Der Natur Genius . . .
Soll Dir zeigen alles Leben,
Der Menschen wunderliches Weben,
Ihr Wirren, Suchen, Stoßen und Treiben,
Schieben, Reißen, Drängen und Reiben,
Wie kunterbunt die Wirtschaft tollert,
Der Ameishauf durch einander kollert;
Mag Dir aber bei Allem geschehn,
Als thätst in einen Zauberkasten sehn.
Schreib das dem Menschenvolk auf Erdeni
Obs ihm möcht eine Witzung werden.
^) Hampe, Mitteilungen 12, 93. Dilthey, Einbildungskraft des
Dichters S. 348.
572
Und macht plos manchen rauhen köcher,
Und macht vinster swarze arslöcher,
Und macht manchen frauen diener entwicht:
Das ist des alters Zuversicht^).
Ich find in meiner sinnen teich,
Das alter ist eim rauber gleich:
Es nimpt der glocken ir gedön,
Und mancher htipschen fraun ir schön,
Und nimpt dem ochsen seinen zug,
Und nimpt dem vogel seinen flug.
Und nimpt dem man sein starkes ringen.
Und nimpt den peinn ir hohes springen,
Und nimpt den füssen ir snelles traben,
Und nimpt die arbeit im nachtgraben.
Und nimpt dem eüften finger sein leng:
Das sind des alters nachkleng').
Alle andern beim Vierzeiler zulässigen Kombinationen
finden statt. So stellt der Spruch ,Wer seim neehsten getreu
wöll sein')' den Typus C A dar, ,Wer ab will leschen der sunnen
glänz' und: „Haußkern und windel-waschen" den Typus A B*).
Die Formgebung der ßosenplütschen Priamel hat trotz
aller Gleichmäßigkeit der Orundtypen doch nichts Mechanisches
an sich; ihr Anfbau ist mehr organisch als architektonisch.
In höherem Orade als bei der älteren volkstümlichen Gnomik
beruht das Pointierte, Schlagende, und Belustigende der Bosen-
plütschen Priameldichtung auf dem Widersprechenden der
Antithese. Der Witz, Jean Pauls „verkleideter Priester" „copu-
liert mit Vorliebe jedes Paar, dessen Vereinigung die Anverwandten
nicht wollen" (Vischer). Hans Bosenplüt besitzt „das große
Geheimnis des humoristischen Talentes, die Fähigkeit zu unmittel-
barer Erfassung der kleinen komischen Gegensätze im Alltäglichen
und zu lebenswarmer Beproduktion" (Kraepelin), er hat ein
scharfes Auge für das Widerspruchsvolle des Weltgetriebes; er
<) A 24b. B 168b. C 161b. D 296.
3) B 174a. C 10b. 162a. D 298.
*) 6ött. Beitr. 2, 51. No. 10. Ebenso folgen A C oder C A eine ganze
Reihe geistlicher Priamel.
*•) In beiden Fällen macht wieder den Schluß der Klimax ein &döo-
logiseher WiU.
567
alleren Formen der künstlicheren Sprachdichtung und et^a dem
Sonett*) zusammen. Merkwürdig, aber doch natürlich; denn
14 Zeilen sind ungefähr das Durchschnittsmaß, das für einen
Gedanken in solchen Formen sich noch festhalten läßt. Das Zu-
sammentreffen beruht also auf hier waltendem richtigen künst-
lerischen Instinkt. Bosenplüt baut sich seine Normalform, indem
er den angemessenen Inhalt und die entsprechende Form zu
harmonisclier Einheit verschmilzt und durch reiche Produktion
die Existenz der Gattung sichert. Die natürliche Enge der Form
bändigte und begrenzte des Dichters irrlichterierende, weit
schweifende Fantasie und zwang ihn zur Konzentration^. Auch
in den Priameln Bösen plüts scheint der Auftakt obligatorisch'),
die Verse sind vierhebig, der Schlußvers in den synthetischen
Priameln bisweilen 5 hebig oder 6 hebig, ohne über 13 Silben
hinauszugehen ^).
Für den inneren Bau des klassischen Priamelgebildes lieferten,
abgesehen von des Dichters individuellem Stil und den formalen
Anknüpfungspunkten kirchlicher Volksliteratur, die Typen der
Stegreifdichtung die Grundlage. A überwiegt, wie billig, in den
nicht geistlichen Stücken; reiche Kombinationen finden statt,
Ansätze zum Doppelpriamel liegen vor: nichts, was nicht auch
im Prinzip oder tatsächlich der Vierzeiler und sonstige frühere
Improvisation bereits entwickelt hatten, vielleicht mit einer Aus-
nahme: die Vorbereitung^) und Erweiterung des Schlusses, in
dem selbst öfter noch ein neues Bild oder ein neuer Gedanke
sich einsteilt, ist vom Dichter mit ganz besonderer Sorgfalt aus-
gebildet und bei ihm fast zur Begel geworden. Der Grund dafür
ist ohne Zweifel in dem unbewußten künstlerischen Bestreben zu
finden, dem meist ziemlich umfangreichen Spruch ein tragfähiges
*) Welti, Geschichte des Sonettes S. 35 ff.
2) Zeitschrift für yergl. Lg. N. F. 5, 51.
3) Q P 77, 156.
^) A D B 29, 225. Auf stilistische Erläuterung ebenso wie auf Erörterung
der Bilder, der Sprache, der Metrik mußte hier verzichtet werden, weil doch
nur Halbes geboten werden kann, bevor die Spruche Rosenplüts in
kritischer oder überhaupt irgend einer Bearbeitung vorliegen.
^) Sie würde dem entsprechen, was Lipps, Komik und Humor S. 96
als Sammlung bezeichnet, das Finden der Pointe; Lipps unterscheidet drei
Stadien: Verblüffung, Sammlung, Lösung.
568
FandameDt zu geben ^). In den sogen, geistlichen Priameln
herrscht dem Lehrzweck entsprechend Typus G (B) vor; neben
häufigen Kombinationen ist A hier am wenigsten vertreten.
Die Hauptform des klassischen Priamels ist immerhin die
synthetische. Ihre Wirkung kommt der des Epigramms in der
Tat oft sehr nahe; und man wird bei der Häufigkeit dieser Form
den Irrtum verstehn, der in ihr die eigentliche oder ausschließ-
liche Priamelform sehen wollte. Die Art der Verbindung in diesen
Sprüchen ist sehr mannigfaltig.
Auf der primitivsten Stufe verharrt, unmittelbar aus der
Improvisation hervorgegangen, die Verkettung identischer Begriffe,
Verbindung von Gleichartigem und ungleichartigem. Aber schon
hier durchbricht bald das Streben nach poetischer Belebung die
knappe, kunstlose Foim; so wenn in dem Spruch ,Ein weintrinker
und ein podenneig^ Vers 3 den Zusatz erbält:
Da alweg die hasen durch farn.
^) Oben S. 504. Als Anknüpfungspunkt for das Erscheinen eines neuen
Bildes am Schluß des Priamels kann das Verfahren der yierzeiligen Impro-
visation gelten, die statt der Zusammenfassung ein neues Bild gibt. Kap. VI
S. 307 f. Ein Stegreif gedieht Edwin Bormanns bestätige das Verfahren:
Das Lied vom „Wenn".
Wenn der' Backfisch con amore
Auf melodschem Benz-Motore
Nietzsches „Zarathustra** liest,
Und der Übermensch vergebens
Zur Versnßung seines Lebens
Pfundweis Saccharin genießt —
Wenn der Medizin-Studente
Sieht durchs Rontgen-Instrumente ,
Was der Mädchen Herz bewegt,
Und der Mann im Mond verstohlen,
Längstversäumtes nachzuholen,
Eine Schnurrbartbinde trägt — ^
Wenn die längste Klapperschlange
Mit verklärtem Bildungsdrange
Nichts als Maggi mehr dinirt,
Und voll Inbrunst Budolf Mosse
Jedermann in Hütt und Schlosse
Abrät, daß er inserirt —
569
Gern leitet der Dichter diese schlagfertigen Reihen wenigstens
mit behaglicher, breiter Wendung ein; z. B.
Wer solich ding wll ausstudirn
Und darumb swechen wölt sein hirn:
Ob pesser peten sei dan swern u. s. w.
Lieber verbindet er Glieder in mehrzeiligen Paaren, nicht
ohne feinen Sinn für harmonischen Aufbau des kleinen Gedichtes;
glücklich hat dreimal die apologische Gnome die Struktur beein-
flußt '). Am wohlsten ist ihm, wenn er unbekümmert um strenge
Besponsion, aber im Rahmen seino.r Kunstform, das bunte, reiche
Leben, worin er stand, in festumrissene kleine Bilder gießen kann.
Es kommt hier wie beim Vierzeiler^) keineswegs darauf an, daß
alle Nebensätze zum Hauptsatze in derselben grammatischen Be*
Ziehung stehn, die logische Beziehung genügt. Nicht immer ge-
lingt der Aufbau. Eigensinnig und nur äußerlich strebt das Priamel
vom Liebesnarren seinem Abschluß zu. Die geistlichen Priamel
schwächen den Schluß bisweilen durch gutgemeinte fromme Zu-
sätze ab.
Die Sprüche des Typus A leiten ihre Vordersätze am liebsten
mit ,wer', , welcher', einmal mit ,seit', zweimal mit ,das', dreimal
Wenn der Leu, der Wüste Schrecken,
Ohne sich das Maul zu lecken,
Für das Weiße Rößl schwärmt,
Wenn die Amsel singt nach Noten,
Und der Seehnnd seine Pfoten
Sich an Ibsens Muse wärmt —
Wenn der Telegraph vom Cape,
Der so mißlich reimt auf Schlappe,
Nichts als Wahrheit referirt,
Und die Kaiserin der Inder
Onkel Krügers Pracht-Zylinder
Mit dem „Hosenband^ verziert —
Wenn das alles tut passiren.
Dann soll nichts mich mehr chokiren.
Dann yerwechsl ich Bayrisch Bier
Heute noch mit Malz-Kathreiner
Und wills glauben, sagt mir einer:
Zwei mal zwei ist nicht mehr vier.
») oben S. 504 ff. >) Kap. VI S. 222 ff.
570
mit ,wo^ ein. Das Doppelpriamel, das schon in der Volksdichtung
vorhanden^) war nnd später reich entwickelt wurde, ist bei
Rosen plüt zweimal vertreten*^). Trotzdem hie und da ein mehr
oder weniger gelungener Zusatz stört, ist doch wie beim musika-
lischen Priamel regelmäßig nur ein Hauptgedanke in einer ein-
zigen Periode herausgearbeitet. Kleine Freiheiten ordnen sich
bequem dem leitenden Oedanken unter').
Wie beim deutschen Vierzeiler ist Typus B im klassischen
Priamel minder entwickelt Während die Umkehrung der (an sich
schon meist in mühsamer Reflexion zurecht gelegten) Seligpreisungen
am mattesten ausfällt, liegen im Pfennig-Priamel und im Hüte-
Spruch die besten Beispiele dieses Typus vor. Die Steigerung
wird am Ende aucii durch ädöologischen Witz erreicht:
Vor alter wird der man swacb;
Im alter wirt löchret manig tach;
Im alter wachst auf hecken dorn;
Im alter wachst eim rint sein hörn;
Im alter wirt manch weißes haupt
An sinnen leer und darzu taup;
Im alter wirt dar map partet;
Im alter wirt der hafen schartet,
Im alter wirt er gar zu scharben:
Im alter wachst schimal in dar kerben*).
Dabei wirkt nicht nur das Ädöologische lächerlich, sondern
auch das komische Mißverhältnis zwischen dem possenhaft geringen
Inhalt der letzten Zeile und ihrer langen Vorbereitung. Das hier
geübte epigrammatische Verfahren ^) erinnert an ein von Lessing
1) Kap. VI S. 241.
3) Kap. IX S. 543. S. 549. Yergl. 534, ein Spruch, dem im Aufbau
das Dienstbotenpriamel genau entspricht.
^ Im allgemeinen scheint in kürzeren Perioden der Ton mit der Yers-
zeile aufzusteigen. Q F 58, 86. „Eben das ists, was die vollkommenste
aller Strophenformen, das Sonett zu epigrammatischer Verwendung so ge-
eignet macht, daß, wie Wornickc sagt, nach der letzten Zeile die di-ei
ersten wie in ihr Wirthshaus eilen^. Vcrgl. auch Schneegans, Geschichte
der grotesken Satire S. 127. 37.
*) B 168b. C 16a, 131a. D 303.
*) Vergl. Überhorst, Das Komische 2, 657. Lipps, Komik und Humor
(Beiträge zur Aesthetik VI. Hamburg und Leipzig 1898) S. 59,
571
(in seinen Zerstreuten Anmerkungen über das Epigramm) ange-
zogenes Gedicht von Scarron.
In dem Priamel: ,Ein stinder, der in sein Sünden verzagt'
weicht der Dichter der erwarteten Steigerung mit launig paro-
distischer Wendung aus. Wie volkstümlich übrigens die Manier
ist, die Steigerung durch eine Unanständigkeit herbeizuführen,
ersieht man auch aus folgender Erzählung Carl Müllers, der
die Deutschen Lügendichtungen bis auf Münchhausen dargestellt
hat. Er hatte einmal Gelegenheit, von einem Manne des Erz-
gebirges eine „große Lüge" zu hören. Der Mann fing an: Ich
las heute in der Zeitung: ein alter Kurierstiefel ritt auf einem Stück
ungesalzener Butter in den siebenjährigen Krieg n. s. f. in has-
tender, überstürzender Weise, mit dem offenbaren Bestreben, mit
jedem Satze etwas Tolleres zu bringen, bis er mit einer ünfläterei
den letzten Trumpf ausspielte ^). Aber der Kunstgriff des Parturiunt
montes ist bald abgenutzt. Es bleibt schon zweifelhaft, ob man
unserm Dichter selbst mattere Wiederholungen') zutrauen soll.
Sichere Nachahmung scheint in einem dritten steigernden Priamel
vorzuliegen'); hier erlahmt der Nachahmer gegen Ende sichtlich;
er ist einem kunstgerechten Priamel nicht gewachsen.
Wie wenig im Grunde genommen Bösenplüt formell von
den katechetischen Aufzählungen abhängt, zefgt die Tatsache, daß
der dort heimische Typus G rein bei unserm Dichter überhaupt
nicht vorkommt*); wohl allerdings in Kombinationen, z. B. der
Typen A C:
Das alter ist also getan:
Das es macht kint manchen weisen man,
Und macht neus gewant beschaben,
Und macht stil manchen freien knaben,
Und macht manchen wilden zam,
Und macht manchen graden lam,
0 Die deutschen Lügendichtungen S. 108 f. Ebenso Gregor Beer bei
Schaer, Die altdeutschen Fechter und Spielleute S. 157. Kpuitröffiea 8, 190, 30.
Fogatschnigg und Herrmann 1,287. No. 1275.
») Gott. Beitr. 2, 54. No. 16. 17.
3) Oben S. 540. Gott. Beitr. 2, 71. No. 50.
*) Höchstens könnte der Spruch : ,Da8 tausent per^ eitel clar golt wem'
in Betracht gezogen werden. • *
578
Ähnlichen Zweck mochte der vielleicht von Bosenplüt selbst
herrührende Vers haben:
O werlt, dein nam heist Spothilt.
Mein hertz dich lobt, mein zung dich schilt.
Noch wolt ich gern sehen den man,
Der aller werlt recht künde tan^).
Doch denk ich sein noch ungepom.
Wer herten stahel mit plei wölt pom^).
Das gieng vil nnd vil rechter zu,
Dann das er aller werlt recht tu').
Die Wirkung, die Bosenplüts Priamelpoesie auf spätere
Literatur ausgeübt hat, darstellen hieße die vollständige Geschichte
des Priamels schreiben. Das kann hier schon aus dem von
Schönbach (Gesammelte Aufsätze S. VIII) angedeuteten Gründe
nicht geleistet werden. Nur einige Hauptgesichtspunkte lassen
sich vorläufig herausgreifen. Von Anfang an verbreiteten sich
neben größeren Sammlungen, die jetzt einmal ausscheiden sollen,
Einzelsprüche. Der Weg, den diese durch die volkstümliche
Literatur genommen haben, ist äußerst verschlungen und unbe-
rechenbar. Bald tauchen sie in den verschiedenartigsten Hand«
Schriften, bald als Füllsel in Tischzuchten ^), bald als parodistische
Zusätze zum Liebeslied ^) auf, natürlich dann auch in freierer
Umformung; z. B.
Harpen, Gygen, Lutenschlagen,
Vnde thoschneden Scho andragen,
Mangerley Varue an Kledern vnd Gewände,
Dat roen ehrtydes heeldt vor schände,
Vnd Houart dryuen mit mannigem geberde,
Haar stdten dat ydt kruß werde,
Vnd des Nachtes up der Straten houeren,
Ock dantzen, stecken vnd turneren,
Dat alles schüth men vmme de zarten,
De stedes op sftlcke Narren warten.
1) Freidank 106, 18. ») Renner 16167.
») C 157b. D 300. E 896a. K 24a.
*) Yergl. The tyme (estate) presente of man im Debat and stryfe bet-
wene Somer and wynter bei Hazlitt, Bemains 3, 40.
^) Nd. Volkslieder, Gesammelt und hg. Tom Verein für nd. Sprach-
forschung I 46. Nd. Jb. 26, 28.
579
Ein Orgel, Klocke vnd WuUenbagen,
Vnde böse Kinder vngetagen,
Fiin Hoer, eines Stockfisches LirfT,
Ein Nöthboem vnd ein vuel Wyflf,
Ein Esel de nicht mehr Secke kan dragen:
De Negen dohn weinich vngeschlagen.
Welchen Weg diese einfache vom improvisierten Genrebild
zur Charakteristik hinstrebende Volkskunst einschlägt, indem sie
mehr und mehr literarischen Anstrich zu gewinnen sucht, zeigt
ein Spruch von Niklas Wolgemut^). Mit erstaunlicher Naivität
hat der Volksdichter aus dem Beginn des 16. Jahrhunderts Bosen-
plüt und einen älteren Spruch^) von dem Hurübel geplündert,
um flott und geschickt die Liebesnarren zu schildern. Den An-
fang macht Bosenplüts Priamel vom bösen Hausgesind; dann
wird einfach angeknüpft:
D och ist noch eine schlimmre Qual u. s. w.
Durch Niederdeutschland bis in die Niederlande verbreiteten
sich Bosenplüts Sprüche. Am häufigsten sind sie in gnomischer
Volksliteratur Mittel- und Süddeutschlands. Im Hausflur eines
Bauernhauses zu Ohrnbach im Ansbachschen steht noch:
Wer einen Leib hat nicht zu schwer,
Und eine Tasch, die nie wird leer,
Und ein Haus, das voll Nahrung staht,
Und darin fromme Ehehalten hat,
Und melke KUh und fette Schwein
Und fromme Knecht, die gern gehorsam sein.
Und einen Hund nachts auf der Hut,
Und ein Weih, die allezeit ist gut.
Und auch in Ehren steht:
Der Mann hat ein gut Hausgeräth^.
1) Des Knaben Wunderhorn 2. Heidelberg 1808. S. 62ff. Birlinger
und Grecelius haben nnr das Priamel des Anfangs wieder dmcken lassen
(2,488), da sie, ebensowenig wie ich, des alten Druckes habhaft werden
konnten. In preußischen Bibliotheken befindet er sich nicht
^ Germania 21, 205 ff. Das Verhältnis des Niclas Wolgemut zu
dem älteren Spruch hat Baechtold nicht erkannt; den alten Druck zitiert
er nur nach Well er. Den Herausgebern des Wunderhoms ist es ebenso
ergangen.
8) Falck, Art und Unart S. 42.
87*
570
mit ,wo^ ein. Das Doppelpriamel, das schon in der Volksdichtung
vorhanden^) war nnd später reich entwickelt wurde, ist bei
Bösen plüt zweimal vertreten*'^). Trotzdem hie nnd da ein mehr
oder weniger gelungener Zusatz stört, ist doch wie beim musika-
lischen Priamel regelmäßig nur ein Hauptgedanke in einer ein-
zigen Periode herausgearbeitet. Kleine Freiheiten ordnen sich
bequem dem leitenden Gedanken unter').
Wie beim deutschen Vierzeiler ist Typus B im klassischen
Priamel minder entwickelt Während die Umkehrung der (an sich
schon meist in mühsamer Reflexion zurecht gelegten) Seligpreisungen
am mattesten ausfällt, liegen im Pfennig-Priamel und im Hute-
Spruch die besten Beispiele dieses Typus vor. Die Steigerung
wird am Ende auch durch ädöologischen Witz erreicht:
Vor altef wird der man swach;
Im alter wirt löcliret manig tach;
Im alter wachst auf hecken dorn;
Im alter wechst eim rint sein hörn;
Im alter wirt manch weißes haupt
An sinnen leer und darzu taup;
Im alter wirt der man pertet;
Im alter wirt der hafen schertet,
Im alter wirt er gar zu scherben:
Im alter wechst schimel in der kerben*).
Dabei wirkt nicht nur das Ädöologische lächerlich, sondern
auch das komische Mißverhältnis zwischen dem possenhaft geringen
Inhalt der letzten Zeile und ihrer langen Vorbereitung. Das hier
geübte epigrammatische Verfahren '^j erinnert an ein von Lessing
1) Kap. VI S. 241.
5) Kap. IX S. 543. S. 549. Vergl. 534, ein Spruch, dem im Aufbau
das Dienstboteupriamel genau entspricht.
*) Im allgemeinen scheint in kürzeren Perioden der Ton mit der Vers-
zeile aufzusteigen. Q F 58, 86. „Eben das ists, was die vollkommenste
aller Strophenformen, das Sonett zu epigrammatischer Verwendung so ge-
eignet macht, daß, wie Wcrnickc sagt, nach der letzten Zeile die drei
ersten wie in ihr Wirthshaus eilen^. Vergl. auch Schneegans, Geschichte
der grotesken Satire S. 127. 37.
*) B 168 b. C 16 a. 131a. D 303.
*) Vergl. Überhorst, Das Komische 2, 657. Lipps, Komik und Humor
(Beitr&ge zur Aesthetik VI. Hamburg und Leipzig 1898) S. 59,
581
SDob^) zu beweisen, lohnt nicht; „ist es doch im Grunde", wie
Gottfried Keller meint, „eine trübselige Sache, den Leuten zu
sagen, was gut ist, wenn sie es nicht selbst einsehen", in einer
Gattung, deren Devise Jean Pauls ,vive labagatelle' bleibt, er-
wartet kein Verständiger etwa Schwung, Größe und Erhabenheit.
Könnt in einem SprÜcMein Raum sein,
Weltprobleme zu erledigen?
Ein Spasierstock will kein Baum sein,
Ein Stoßseufzer nicht predigen.
Trotzdem gibt es in dieser Kleinkunst Erscheinungen, deren
Reichtum und Bedeutsamkeit überraschen: eine ganze kleine Welt
in den engen Bahmen eines Gedichtchens von wenigen Versen
gespannt und gefaßt in den Zauber echter Poesie. Die von
Oldenberg unübertrefflich charakterisierten indischen Vierzeilen,
die Sapta9atakam des Häla, das Schnaderhüpfel, die Frottole, die
Villotte, das Ritornell, das griechische Epigramm, das Skolion,
das internationale Sonett, sie alle legen Zeugnis davon ab, wie
sich „ein äußerst einfacher Gegenstand zu einem unendlichen
erweitern" kann. Kommt höchste Freiheit und eine in einem
großen Individuum gereifte geistige und sittliche Kultur hinzu,
so ist die ideale Höhe Go ethischer Spruchdichtuug erreicht^).
Allerdings ein weiter Weg von Bosenplüts Improvisationen bis
zur weltumfassenden Poesie eines Goethe. Aber wenn es wahr ist,
daß es nur darauf ankommt,, ob Jeder seinen Zustand ergreift und
ihn entsprechend behandelt, dann hat auch der Nürnberger Meister
seinen dichterischen Beruf erfüllt. Auch er ergreift mit schlichter
künstlerischer Ehrlichkeit seinen Zustand und seine Welt. Sie
ist nicht etwa die Amarus^), nicht voll Glanz und Schönheit,
sondern bald mit liebevoller Hingabe, bald mit fantastischem Witz
und Humor gestaltetes wahrhaftes altdeutsches Nürnberger Leben
des 15. Jahrhunderts.
Auch Bosenplüt beweist für Hans Thomas Wort: „Die
Kunst kann sehr wohl national, auch provinziell, sowie ganz indi-
viduell, und kann doch dabei recht allgemein menschlich sein*^.
^) Taine fand ja Goethes Stil langweilig, manche Leute die Briefe
der Frau Aja triyial.
>) von Loeper, Werke (Hempel) 19 ^ 10.
3) Oldenberg, Die Literatur des alten Indien S. 227^,
580
Schließlich muß sich das Hütepriamel noch gefallen lassen
von Reichardt parodistisch komponiert zu werden*). Nicolai-
Beichardt haben .3 Strophen zu je 4 Zeilen geschieden.
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Nachdem dann wissenschaftliche Beschäftigung die Aufmerk-
samkeit wieder auf den Volksspruch gelenkt hatte, erscheint er
immer häufiger z. B. in Nieritzens Volkskalendern, Scheibles
Kloster, Wanders, Falcks, Limbachs und vieler Anderer
Sammlungen. Die Wiederentdeckung Nürnbergs ist endlich
auch dem Priamel zu gute gekommen. Wie heute niemand mehr
an den köstlichen Brünnlein, an Labenwolfs Gänsemännlein oder
am Schönen Brunnen, am Sakraments-Häuschen von St. Lorenz
oder an der sogenanten Nürnberger Madonna ohne Bewunderung
vorübergeht, so verdient auch der Rosenplütsche Priamelspruch
seinen Platz unter den merkwürdigsten Schätzen literarischer
Kleinkunst. Das mit abstrakt ästhetischer Kritik dem literarischen
*) Nicolais Almanach I 56. Nr. VL Friedl&nder, Das deutsche
Lied im 18. Jh. I 1, 236.
581
snob^) zu beweisen, lohnt nicht; „ist es doch im Grunde^, wie
Gottfried Keller meint, „eine trübselige Sache, den Leuten zu
sagen, was gut ist, wenn sie es nicht selbst einsehen*^. In einer
Gattung, deren Devise Jean Pauls ,vive labagatelle' bleibt, er-
wartet kein Verständiger etwa Schwung, Größe und Erhabenheit.
Könnt in einem SprÜcMein Raum sein,
Weltprobleme zu erledigen?
Ein Spazierstock will kein Baum sein,
Ein Stoßseufzer nicht predigen.
Trotzdem gibt es in dieser Kleinkunst Erscheinungen, deren
Reichtum und Bedeutsamkeit überraschen: eine ganze kleine Welt
in den engen Bahmen eines Gedichtchens von wenigen Versen
gespannt und gefaßt in den Zauber eclitcr Poesie. Die von
Oldenberg unübertreiflich charakterisierten indischen Vierzeilen,
die Sapta9atakam des Häla, das Schnaderhüpfel, die Frottolc, die
Villotte, das Ritornell, das griechische Epigramm, das Skolion,
das internationale Sonett, sie alle legen Zeugnis davon ab, wie
sich „ein äußerst einfacher Gegenstand zu einem unendlichen
erweitern" kann. Kommt höchste Freiheit und eine in einem
großen Individuum gereifte geistige und sittliche Kultur hinzu,
so ist die ideale Höhe Go ethischer Spruchdichtuug erreicht^).
Allerdings ein weiter Weg von Bosenplüts Improvisationen bis
zur weltumfassenden Poesie eines Goethe. Aber wenn es wahr ist,
daß es nur darauf ankommt,, ob Jeder seinen Zustand ergreift und
ihn entsprechend behandelt, dann hat auch der Nürnberger Meister
seinen dichterischen Beruf erfällt. Auch er ergreift mit schlichter
künstlerischer Ehrlichkeit seinen Zustand und seine Welt. Sie
ist nicht etwa die Amarus^), nicht voll Glanz und Schönheit,
sondern bald mit liebevoller Hingabe, bald mit fantastischem Witz
und Humor gestaltetes wahrhaftes altdeutsches Nürnberger Leben
des 15. Jahrhunderts.
Auch Bosenplüt beweist für Hans Thomas Wort: ^Die
Kunst kann sehr wohl national, auch provinziell, sowie ganz indi-
viduell, und kann doch dabei recht allgemein menschlich sein".
^) Taino fand ja Goethes Stil langweilig, manche Leute die Briefe
der Frau Aja triyial.
*) von Loeper, Werke (Hempel) 19*, 10.
3) Oldenberg, Die Literatur des alten Indien S. 227 f.v
572
Urrd macht plos manchen rauhen köcher,
Und macht vinster swarze arslöcher,
Und macht manchen frauen diener entwicht:
Das ist des alters Zuversicht').
Ich find in meiner sinnen teich,
Das alter ist eim rauber gleich:
Es nimpt der glocken ir gedön,
Und mancher htipschen fraun ir schön,
Und nimpt dem ochsen seinen zug,
Und nimpt dem vogel seinen ilug,
Und nimpt dem man sein starkes ringen,
Und nimpt den peinn ir hohes springen,
Und nimpt den füssen ir snelles traben,
Und nimpt die arbeit im nachtgraben,
Und nimpt dem eüften finger sein leng:
Das sind des alters nachkleng^).
Alle andern beim Vierzeiler zulässigen Kombinationen
finden statt. So stellt der Spruch ,Wer seim nechsten getreu
wöU sein^)' den Typus C A dar, ,Wer ab will leschen der sunnen
glänz' uiid: „Haußkern und windel-waschen" den Typus A B*).
Die Formgebung der ßosenplütschen Priamel hat trotz
aller Gleichmäßigkeit der Orundtypen doch nichts Mechanisches
an sich; ihr Aufbau ist mehr organisch als architektonisch.
In höherem Grade als bei der älteren volkstümlichen Gnomik
beruht das Pointierte, Schlagende, und Belustigende der Bosen-
plütschen Priameldichtung auf dem Widersprechenden der
Antithese. Der Witz, Jean Pauls „verkleideter Priester" „copu-
liert mit Vorliebe jedes Paar, dessen Vereinigung die Anverwandten
nicht wollen" (Vischer). Hans Bosenplüt besitzt „das große
Geheimnis des humoristischen Talentes, die Fähigkeit zu unmittel-
barer Erfassung der kleinen komischen Gegensätze im Alltäglichen
und zu lebenswarmer Beproduktion" (Kraepelin), er hat ein
scharfes Auge für das Widerspruchsvolle des Weltgetriebes; er
«) A 24b. B 168b. C 161b. D 296.
3) B 174a. C 10b. 162a. D 298.
^ Gott. Beitr. 2, 51. No. 10. Ebenso folgen A C oder 0 A eine ganze
Reihe geistlicher Priamel.
^) In beiden Fällen macht wieder den Schluß der Klimax ein ädöo-
loj^cher Wits.
573
liebt den sinnlich angeschauten Unverstand^); er ist Meister der
Dialektik sich gegenseitig aufhebender Trübungen der sittlichen
Idee^). Die Kontrastierung mag ihm auch als Hülfsmittel der
poetischen Erfindung gedient haben'). Mit Ausnahme einiger
streng geistlichen Priamel wirkt er fast überall durch Kontraste.
Die Antithese durchwuchert seine ganze Priamelpoesie. Sehr viele
Sprüche sind ganz darauf gebaut^). Was der unvermeidlichen
stumpfen Monotonie der ständigen Antithese entgegen wirkt, ist
die große Mannigfaltigkeit ihrer Verwendung. Bosenplüts Ver-
fahren hat, mit späteren öden Nachahmungen verglichen, immer
etwas künstlerisches. Selbst in kurzen Oedichtchen von 8 Versen
wechselt er sinnig ab, und hütet sich vor sklavischer Durchführung
stereotyper Formen; z. B. *):
Wer gerne spilt und ungern gilt,
Und Juden lobt und pfafien schilt,
Und ungern pet und gern swert
Und also sein zeit all verzert,
Und ungern fast und gern leugt,
Und kirchen, meß und predig fleucht,
Und frü und spat ist gern vol:
Der taug zu keim kartheuser wol.
Witz und Humor sind kein notwendiger, aber der wirksamste
Bestandteil des in die volksliterarische Sphäre empor gehobenen
Stegreifgedichts. Das geistliche Priamel verschmäht ihn grund-
sätzlich; und außer den streng geistlichen Priameln sind etwa
zwei Dutzend durchweg ernst gehalten. Der liaimlose fantastische
Humor der Rezepte genügt ihm nicht®). Er streift ihn wohl
einmal, wenn er den Wein in einer Fischreuse, die Gänse in
0 Jean Paul, Vorschule § 28.
^) Vischer, Ae8tlietikI373. Kraepelin in denPhilos. Studien2, 133f.
3) Hippel, Über die Ehe S. 2.
*) z. B. No. 11. 12. 13. 14. 18. 22. 23. 25. 34 meiner Sammlung. Keller,
Schwanke No. 1. 2. 3. 4. 5. 10. 12. 13. 14. 16. 17. 33. 34. 36. 38. 41. 51.
Meyer, Die altgermanische Poesie S. 460 ff. 512. 522. Gaston Paris,
Villon S. 59. Neue Heidelberger Jb. 11, 170.
5) Gott, Beitr. 2,52. No. 11.
«) Müller-Fraurenth S. 13. 94 f.
574
einer Flasche, die verpöDten ^) ,zoteD and gefrens^ an einer Mönchs-
kutte^) u. ä. zusammenstellt. Der Witz des Einderreims waltet
in der Aufzählung selbstverständlicher Wahrheite^^). Geläufiger
sind ihm Motive der Lügendichtung^); besonders in den eigent-
lichen Handwerkspriameln. Der ideale Goldschmied soll Feingold
aus rohem Kupfer, der Töpfer Krüge aus Roh-Erde machen, die
von selbst zum Brunnen liefen: der Botschmied gießt all seine
Arbeiten aus Pech, die Schneidersdirne spinnt gute Seide aus Bast,
der Schuster macht Leder aus Papier, seine Frau den Drat aus
Heu, der Weber webt sein Tuch aus Binsen, dem Bauern tragen
die Felder ungeackert. An den Aufschneidereien der Ärzte er-
götzten sich Fastnachtsspiel ^j und Spruchdichtung ^): In Bosen-
plöts Priameln begegnet einmal der Doktor Eisenbart, aber noch
harmlos und anständig, nicht in der grotesken Karikatur Folzens^).
Sonst müssen Karthäuser, Juden und Nonnen die Kosten des
primitiven ironischen Witzes tragen. Den Wortwitz®) liebt er
nicht; einmal spielt er mit dem Scheltwort Schwengel, ein andermal
mit dem Doppelsinn der kifierbes. Die gewöhnlichste Art des
Witzes, der in Boscnplüts Priaraeln waltet, ist mit der Vorliebe
für die Antithese gegeben. Es wirkt komisch, Abtötung und
Gebet auf Fastnacht zu verschieben, Zerknirschung, Beue und Leid
beim Tanz mit schönen Frauen zu erwecken, im Weinhaus beim
Spiel zu beten und seine ,Zucht zu sparen^, bis man betrunken ist.
Es ist in der halb automatischen Entstehung des Stegreif-
gedichts begründet, daß die Zuspitzung der Schlußpointe nicht
Selbstzweck')^ nicht die Hauptsache sein kann. Bisweilen ist
sogar die Pointe äußerst schwach, z. B. in dem Spruch: , Welch
^) Baader S. 101. Übrigens arbeitet auch der Humor der Bezepte
mit Motiven der Lügendichtung. Hundert Priameln 23, 6(>,Fsp. 1201, Z. 6.
Müller-Fraureuth S. 23.
3) Hundert Priameln Nr. 18.
3) Keller No. 1. *) Keller No. 13.
»)QF 77,52. Heinzel WSB 134, 55ff.
«) Fsp. 1197.
7) Keller No. 28. Müller-Fraureuth S. 13 f.
8) R. M. Meyer in den Neuen Jahrbüchern 1903, 3.
*) A D B 29, 227 : „Die Zuspitzung der Schlußpointe ist nicht gerade
Bs. Stärke, ist ihm auch nie Selhstzwek: doch ist ihm manches hübsch ge-
lungen^. Das dann folgende Beispiel versagt; s. oben S. 531.
575
man seim elichen weib ist veint.' Seine gelungensten Schlüs&e
sind zweiteilig und enthalten wieder einen aDtithetisch oder
wenigstens mit komischer Limitation ausgedrückten Gedanken.
Der Schelm der huraoristisch-apologischen Gnome*) guckt gern
am Ende hervor. Zu den besten der Art gehört das Priamel
,Wol essen und trinken nach aller begier/ das hauptsächlich wieder
die leidige Wirklichkeit mit dem Ideal kontrastiert, um dann zu
schließen:
Wenn die ding den menschen heilig machen,
So vint man mangen, der zu himel fert,
Im hab dann got niendert kein glück beschert.
Ein andermal schildert er einen ganz armen Teufel, der den
Ärzten mit ihren Affensalben verfallen ist, einem Zöllner, dem er
den Zoll unterschlagen, in die Hände gerät, der von mahnenden
Juden, bannenden Pfaffen, Erpressungen eines Bäubers und dem
Zank eines bösen Weibes gequält wird und endigt:
Wer dem dazu eines pösen jars gan,
Der tet gar nahend ein teglich sUnd daran.
Ähnlich schließt er, nachdem alle Zeichen einer robusten
Gesundheit aufgezählt sind: ein Mann, der dies alles hat, soll
niemand klagen, daß er krank sei. Oder wenn er realistische
Züge einer unglaublichen Faulheit vorgeführt hat, heißt es am
Schluß:
Ich mein, ich lUgc, hieß ich den ein reschen.
Noch besser gelingt ihm mit solchen Mitteln die Charakte-
risierung eines Typus, wie ihn Gottfried Keller in den ge-
rechten Kammachern gezeichnet hat:
Die siben wolt ich auch lieber peieinander finden,
Dann ein metzler an einer altn ku sen schinden
oder
Dann ein sneider an einer alten hosen nen.
Die Subjektivität Bosenplüts tritt nicht nur in unpersön-
lichem Humor zu Tage, sondern der Dichter erscheint in seinen
Versen anch selbst ganz ohne Scheu vor dem Publikum^); wie
er andre mitnimmt, so hat er sich auch selbst zum besten.
Launig bekennt er, er schlafe Nachts gern auf weichem Bett, tue
^) WachBmuth, Geschichte deutscher Nationalität 1, 143 f.
») Hundert Priameln 25, 14. 22. 8. Keller 34, .14. 13, .8. 25, 10. .51, 14.
576
sich gfitlich, bete selten und fluche oft, meide die Kirche und
suche das Weinhaus ^). In der Tat, bittere Satire stünde ihm
übel zu Oesicht. So kecker Satire, wie Scherers Beim aufs
Konstanzer Konzil übt, war er doch nicht fähig.
Beitzenstein hat gezeigt, daß wie das Skolion so auch die
Elegie und das Epigramm fürs Gelage bestimmt waren ^). Nicht
anders das Priamel; Stegreifdichtung und Priamelrede setzen
Geselligkeit, Unterhaltungs- und Belehrungsbedürfnis ^) voraus.
Die Priamelsprüche des von Peter Wetzel abgeschriebenen
Büchleins tragen die Überschrift:
Hierin vindt ainer mangen guten schwangk,
Lustig ze hören bei dem weintrank ^).
Ähnlich der Mainzer Druck:
Hierin in diesem bUchleyn
Findt mann vil guter reymen feyn,
Manchen seltsam guten schwanck,
Lustig zu hören bey dem weinßtranck.
Früh nimmt der eigentliche Träger der Stegreif- und Gelegen-
heitsdichtung, der Sprecher, der Freihart, der Fahrende die klassische
Priamelpoesie in sein Bepertoir auf und verbrämt sie mit seinen
oft nicht feinen Einfällen. Ist er geschmäht, gestoßen und ge-
prügelt, so rächt er sich mit Witzen, indem er etwa seine Zuhörer
Schälke und Lecker nennt und sie mit geistreichseinsollenden
^) Hundert Priameln No. 26, 13. Natürlich hat man die Einschränkung
izn machen: „Der Dichter erlebt den Inhalt der Dichtung als Dichter^ d. h.
als ideelle Persönlichkeit, nicht als dieser bestimmte Mensch, sondern als
deeller Repräsentant des Menschen. Sein etwaiges wirkliches Erleben ist
hierfür nur Vorbild''. Lipps, Komik und Humor S. 244. Weil Marc
Monnier S. 197 f. nicht daran gedacht hat, hält erBosenplüt wegen seiner
Weingrüße für einen tüchtigen Trinker; „sein Zeitgenosse Lorenz o der
Prächtige hätte ihn unter die Zahl der beani aufgenommen".
') Epigramm und Skolion. Gießen 1893.
*) Vergl. Jahrbuch für nd. Sprachforschung 10, 54. Wunderliche Zu-
sammenhänge mit einer spezifischen Gattung von Schmähgedichten konstruirte
Wendeler De Preambulis S. 46 „Haec quidem carmina contumeliis impleta
. . . yagis Ulis causam (!) praeambula componendi fuisse Tidentur**.
^) Keller, Alte gute Schwanke^ S. 15. Im Kuhländchen heißen die
weltlichen Volkslieder Sticheleien und Schwanke, Hoke onn Schnoke. Meinert
S. IX. D W B 9, 2245.
577
Unanständigkeiten regaliert^). Ein Holzschnitt zur Freiharts-
predigt stellt eine Wirtshausszene dar^). Auch im Exemplar«
des Sprechers Kebitz sind Priamel enthalten^). Aus der
Donaueschinger Priamelrede kann man sich jetzt vom Einzel-
vortrag des Sprechers eine Vorstellung machen. Von der Mischung
geistlicher und weltlicher Spruchdichtung dieser Art lieferte die
Donaueschinger Hs. 0 ein Bild^). Besonders zur Einleitung und
zum Beschluß der Spruchbticher steuerten wohl Sprecher, Schreiber,
Leser und Benutzer bei. Meistens sind es Bettel- oder Heische-
sprüche und Entschuldigungen. So schließt eine Münchener Samm-
lung des Cgm 713 mit einem volksmäßigen Spruch:
Ach got, durch dein gute,
Bescher mir kappen und hüte,
Mentel und rock,
Zigen und pock,
Schaf und rinder,
Und ein schone frawen on kinder^).
Bettelspruchartig klingen Verse der Leipziger Hs. L (Bl. 13 b
'' Kom spot ader fru.
Gib gleich, zcech zu:
Dy rede gefeUet mir wol:
Pait pis ich auch werde vol,
Spat kam, sere tranck,
Beczal mit ,hab ymmer danck.'
Der Schreiber erwähnt sich in einem ,Spruch von dissen Puch'
(E 405b): __. . ^ , ^ y. -,
Wer das puch lesen oder hören wil,
Der nem jm des ein messigs zil
Vnd pesser sich des guten in seinem herczen
Vnd hör das pöß mit großem schmerczen;
Wann vil vnnutzer wort darynn steen,
Pit euch der Schreiber: das lat für äugen geen.
0 Die bei Wendeler S. 46 f. und wieder bei Uhl S. 95 f. gedruckten
Verse sind ganz in Ordnung; ein ,carmen valde depravatum' ist es nicht,
und Vers 3 heißt eben nur: mihi antea abeundum est cacandi causa. Vergl.
oben III S. 66.
2) Wendeler beschreibt ihn S. 47 ff. 3) MSB 1891 S. 674.
*) Vergl. die Überschriften in C bei Keller Fsp. 1166 (Wendeler S. 49)
und F G bei Uhl S. 93.
5) K 24 b. Vergl. Bartsch, Katalog der altdeutschen Handschriften
zu Heidelberg I S. 8. Uhl S. 310.
Euling, Priamel 37
578
Ähnlichen Zweck mochte der vielleicht von Bosenplüt selbst
herrührende Vers haben:
O werlt, dein nam heist Spothilt.
Mein hertz dich lobt, mein zung dich schilt.
Noch wolt ich gern sehen den man,
Der aller werlt recht künde tan ^).
Doch denk ich sein noch ungeporn.
Wer herten stahel mit plei wölt porn^).
Das gieng vil mid vil rechter zu,
Dann das er aller werlt recht tu^).
Die Wirkung, die Bosenplüts Priamelpoesie auf spätere
Literatur ausgeübt hat, darstellen hieße die vollständige Geschichte
des Priamels schreiben. Das kann hier schon aus dem von
Schönbach (Gesammelte Aufsätze S. VIII) angedeuteten Grunde
nicht geleistet werden. Nur einige Hauptgesichtspunkte lassen
sich vorläufig herausgreifen. Von Anfang an verbreiteten sich
neben größeren Sammlungen, die jetzt einmal ausscheiden sollen,
Einzelsprüche. Der Weg, den diese durch die volkstümliche
Literatur genommen haben, ist äußerst verschlungen und unbe-
rechenbar. Bald tauchen sie in den verschiedenartigsten Hand-
schriften, bald als Füllsel in Tischzuchten ^), bald als parodistische
Zusätze zum Liebeslied ^) auf, natürlich dann auch in freierer
Umformung; z. B.
Harpen, Gygen, Lutenschlagen,
Vnde thoschneden Scho andragen,
Mangerley Varue an Kledern vnd Gewände,
Dat men ehrtydes heeldt vor schände,
Vnd Houart dryuen mit mannigem geberde,
Haar st6ten dat ydt kruß werde,
Vnd des Nachtes up der Straten heueren,
Ock dantzen, stecken vnd turneren,
Dat alles schüth men vmme de zarten,
De stedes op sftlcke Narren warten.
1) Freidank 106, 18. ^) Renner 16167.
^ C 157b. D 300. E 396a. K 24a.
*) Y&tgL The tyme (estate) präsente of man im Debat and stryfe bet-
wene Somer and wynter bei Hazlitt, Bemains 3, 40.
^) Nd. Volkslieder, Gesammelt und hg. vom Verein für nd. Sprach-
forschung I 46. Nd. Jb. 26, 28.
579
Ein Orgel, Klocke vnd Wullenbagen,
Vnde böse Kinder vngetagen,
Rin Hoer, eines Stockfisches Lyff,
Ein Nöthboem vnd ein vuel Wyflf,
Ein Esel de nicht mehr Secke kan dragen:
De Negen dohn weinich vngeschlagen.
Welchen Weg diese einfache vom improvisierten Genrebild
zur Charakteristik hinstrebende Volkskanst einschlägt, indem sie
mehr und mehr literarischen Anstrich zu gewinnen sucht, zeigt
ein Spruch von Niklas Wolgemut^). Mit erstaunlicher Naivität
hat der Volksdichter aus dem Beginn des 16. Jahrhunderts Bosen-
plüt und einen älteren Spruch^) von dem Hurübel geplündert,
um flott und geschickt die Liebesnarren zu schildern. Den An-
fang macht Bosenplüts Priamel vom bösen Hausgesind; dann
wird einfach angeknüpft:
D och ist noch eine schlimmre Qual u. s. w.
Durch Kiederdeutschland bis in die Niederlande verbreiteten
sich Bosenplüts Sprüche. Am häufigsten sind sie in gnomischer
Volksliteratur Mittel- und Süddeutschlands. Im Hausflur eines
Bauernhauses zu Ohrnbach im Ansbachschen steht noch:
Wer einen Leib hat nicht zu schwer,
Und eine Tasch, die nie wird leer,
Und ein Haus, das voll Nahrung staht,
Und darin fromme Ehehalten hat,
Und melke KUh und fette Schwein
Und fromme Knecht, die gern gehorsam sein,
Und einen Hund nachts auf der Hut,
Und ein Weih, die allezeit ist gut.
Und auch in Ehren steht:
Der Mann hat ein gut Hausgeräth^).
") Des Knaben Wunderhorn 2. Heidelberg 1808. S. 62 ff. Birlinger
und Grecelius hahen nnr das Priamel des Anfangs wieder drucken lassen
(2,488), da sie, ebensowenig wie ich, des alten Druckes habhaft werden
konnten. In preußischen Bibliotheken befindet er sich nicht.
^ Germania 21, 205 ff. Das Verhältnis des NiclasWolgemut zu
dem älteren Spruch hat Baechtold nicht erkannt; den alten Druck zitiert
er nur nach Well er. Den Herausgebern des Wunderhorns ist es ebenso
ergangen.
8} Falck, Art und Unart S. 42.
87 •
580
Schließlich muß sich das Hütepriamel noch gefallen lassen
von Reichardt parodistisch komponiert zu werden^). Nicolai-
Reichardt haben 3 Strophen zu je 4 Zeilen geschieden.
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Nachdem dann wissenschaftliche Beschäftigung die Aufmerk-
samkeit wieder auf den Volksspruch gelenkt hatte, erscheint er
immer häufiger z. B. in Nieritzens Volkskalendern, Scheibles
Kloster, Wanders, Falcks, Limbachs und vieler Anderer
Sammlungen. Die Wiederentdeckung Nürnbergs ist endlich
auch dem Priamel zu gute gekommen. Wie heute niemand mehr
an den köstlichen Brünnlein, an Labenwolfs Gänsemännlein oder
am Schönen Brunnen, am Sakraments-Häuschen von St. Lorenz
oder an der sogenanten Nürnberger Madonna ohne Bewunderung
vorübergeht, so verdient auch der Rosenplütsche Priamelspruch
seineu Platz unter den merkwürdigsten Schätzen literarischer
Kleinkunst. Das mit abstrakt ästhetischer Kritik dem literarischen
') Nicolais Almanach I 56. Nr. YL Friedl&nder, Das deutsche
Lied im 18. Jh. I 1, 236.
-581
snob*) zu beweisen, lohnt nicht; „ist es doch im Grunde**, wie
Gottfried Keller meint, „eine trübselige Sache, den Leuten zu
sagen, was gut ist, wenn sie es nicht selbst einsehen*^. In einer
Gattung, deren Devise Jean Pauls ,yive labagatelle* bleibt, er-
wartet kein Verständiger etwa Schwung, Größe und Erhabenheit.
Könnt in einem Sprüchlein Raum sein,
Weltprobleme zu erledigen?
Ein Spasierstock will kein Baum sein,
Ein Stoßseufzer nicht predigen.
Trotzdem gibt es in dieser Kleinkunst Erscheinungen, deren
Reichtum und Bedeutsamkeit überraschen: eine ganze kleine Welt
in den engen Bahmen eines Gedichtchens von wenigen Versen
gespannt und gefaßt in den Zauber echter Poesie, üie von
Oldenberg unübertrefflich charakterisierten indischen Vierzeilen,
die Sapta9atakam des Häla, das Schnaderhüpfel, die Frottolc, die
Villotte, das Bitornell, das griechische Epigramm, das Skolion,
das internationale Sonett, sie alle legen Zeugnis davon ab, wie
sich „ein äußerst einfacher Gegenstand zu einem unendlichen
erweitern" kann. Kommt höchste Freiheit und eine in einem
großen Individuum gereifte geistige und sittliche Kultur hinzu,
so ist die ideale Höhe Go ethischer Spruchdichtuug erreicht^).
Allerdings ein weiter Weg von Bosenplüts Improvisationen bis
zur weltumfassenden Poesie eines Goethe. Aber wenn es wahr ist,
daß es nur darauf ankommt,, ob Jeder seinen Zustand ergreift und
ihn entsprechend behandelt, dann hat auch der Nürnberger Meister
seinen dichterischen Beruf erfüllt. Auch er ergreift mit schlichter
künstlerischer Ehrlichkeit seinen Zustand und seine Welt. Sie
ist nicht etwa die Amarus^), nicht voll Glanz und Schönheit,
sondern bald mit liebevoller Hingabe, bald mit fantastischem Witz
und Humor gestaltetes wahrhaftes altdeutsches Nürnberger Leben
des 15. Jahrhunderts.
Auch Bosenplüt beweist für Hans Thomas Wort: ^Die
Kunst kann sehr wohl national, auch provinziell, sowie ganz indi-
viduell, und kann doch dabei recht allgemein menschlich sein*^.
^) Taine fand ja Goethes Stil langweilig, manche Leute die Briefe
der Frau Aja trivial.
^) von Loeper, Werke (Hempel) 19 S 10.
^) Oldenberg, Die Literatur des alten Indien S. 227f,v
582
Die praktische ^) Bestimmung eines Teils dieser Oedichtchen stört
ebensowenig wie etwa der Umstand, daß die herrlichen Werke
der Erzplastik in der Innsbrucker Hofkirche zum Einstecken von
Kerzen .bestimmt waren. Das Individuelle in Bosenplüts
Priamelpoesie, seine dichterische Originalität ist nicht gering.
Es gab ja Vortreffliches derart; davon kannte er wohl nur das
Landläufige. Minnegesang und Meistersang ignoriert er, er kennt
Burchiello nicht, er versteht Deschamps nicht, er hat Petrarca
nicht gelesen, nordische Skaldenpoesie gibt es für ihn nicht. Er
schafft aus sich heraus, aus ganz individuellen Verhältnissen, aber
ganz aus dem Oenins der Form, Oeist, Naivität und Sinnlichkeit
in seinen besten Stücken vereinend. Eigentliche Volkspoesie sind
natürlich Bosenplüts Priamel ebenso wenig wie die Oedichte
von Pran9ois Villen^).
Wollten wir endlich diese Poesie unter dem verlockenden
Gesichtspunkt eines Kapitels nationaler Ethik betrachten, so wäre
zunächst darauf hinzuweisen, daß sie doch nur einen unselbständigen
Ausschnitt aus Bosenplüts Didaktik darstellt, und dann, daß wir
von einer historischen Beurteilung dieser ganzen Zeit noch weit
entfernt sind. Eine individuelle Ethik scheint hier erst aus der
nationalen und konventionellen heraus sich zu entwickeln, noch
vielfach unklar und tastend. Den heute so beliebten lärmenden
Streit über die Sittlichkeit historischer Epochen muß man schlicht
ablehnen; für das ausgehende Mittelalter kann nur eine wahrhaft
wissenschaftliche Volkskunde diejenige Entscheidung geben, die
leider bei fast allen Historikern dieser und der Beformationszeit
regelmäßig im voraus feststeht.
Eine individuelle Sittlichkeit Bosenplüts zu konstruieren
und nach irgend einem modernen absoluten oder relativen Maß-
stabe zu messen, ist müssiges Beginnen: die gab es in Wirklich-
keit wohl noch nicht. Wie bürgerliche und kirchliche Moral meist
noch zusammenfielen und sich entscheidend von der heutigen ent-
fernen, haben an krassen Beispielen Petit de Juleville und
Gaston Paris gezeigt. Stoffe und Ädöologie beweisen in diesem
') Über außer&sthetische praktische Zwecke in der Kunst Hirn, Der
Ursprung der Kunst. Leipzig 1904. S. 8ff. Spitzer, Hettners kunst-
philosophische Anfänge 1, 158 ff.
>) Gaston Paris S. 49.